Passion
Berufen, einander zu helfen, mit den schwierigen Lebenssituationen umzugehen
Predigttext: Jesaja 50,4-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir. 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
Exegetische (I.) und homiletische (II.) Hinweise zum Predigttext
I.
Die neue Jesaja-Forschung geht davon aus, dass die Drei-Buch-Hypothese ad acta gelegt werden kann. Gegenwärtig gibt es eine Hauptline in der Jesaja-Interpretation. Die Forschung favorisiert dabei zwei unterschiedliche Prophetengestalten: den ersten Jesaja (Kap. 1-39), der im 8. Jh. v. Chr. gelebt hat, und einen zweiten Jesaja, der ins 6. Jh. v. Chr. einzuordnen ist (Jes. 40-66). Die Perikope ist Teil der vier Gottesknechtslieder, die sich im zweiten Teil des Jesajabuches (42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12) finden. Im Gegensatz zu den drei anderen Gottesknechtsliedern ist in Jes 50, 4-9 nicht vom „aebaed jhwh“ die Rede, sondern vom „limmud jhwh“, vom Schüler Jahwes. Die Zuordnung „Lehrer – Schüler“ ist auch aus der Weisheitsliteratur bekannt. Während im Alten Testament der Begriff „limmud“ als Ausdruck eines Zuordnungsverhältnisses zu verstehen ist, wird in der Perikope Jes 50, 4-9 Jahwe als Lehrer bezeichnet, der sich dem Schüler verpflichtet weiß. Die Forschung ist sich nicht ganz sicher, ob die Gottesknechtslieder ursprünglich zum Jesajabuch gehörten oder zu späterer Zeit durch einen Redaktor in das Jesajabuch aufgenommen wurden.
Ältere Exegeten verstehen Jes 50, 4–9 als Klagelied eines Einzelnen. Heute sind viele Ausleger der Ansicht, dass die Verse einen Vertrauenspsalm darstellen, der mit den Konfessionen Jeremias verglichen werden kann (so Claus Westermann und Hans-Jürgen Hermisson). Diese Erklärung scheint nachvollziehbar, denn in den Versen 5b–6 kann keinesfalls von einer Klage gesprochen werden: „ich bin nicht ungehorsam ... meinen Rücken bot ich dar denen, die mich schlugen". Eine Klage würde doch eher so formuliert werden: „sie haben mich auf den Rücken geschlagen, mich geschmäht und bespuckt!“ Spannend bleibt die Frage, wer hier spricht, ein Einzelner oder ein Kollektiv (das Volk Israel?). Oder können nicht alle Gottesknechtslieder als „eine Summe des prophetischen Amtes“ verstanden werden, wie es Gerhard von Rad in seiner alttestamentlichen Theologie formuliert hat. Der Prophet Jesaja versteht sich selbst als Knecht Gottes, die Lieder wollen das prophetische Amt beschreiben.
Im Text Jes 50, 4-9 wird ein neues Verständnis des prophetischen Amtes angesprochen. Die Verse 4–5b handeln zunächst vom „Wortamt“ des Propheten. Er hört auf Jahwes Wort, und die Antwort richtet sich an die „Müden“. Mit den „Müden“ ist (vgl. Jes 40,29–31) das müde Volk Israel im Exil gemeint; dieses am Boden liegende Volk soll der Prophet aufrichten. In unserem Abschnitt wird ein Richtungswechsel im prophetischen Reden deutlich. In der älteren Prophetie standen Themen wie soziale Gerechtigkeit/oder Ungerechtigkeit oder die Sozial- und Herrscherkritik im Vordergrund prophetisches Redens. Weitere Themen der prophetischen Anklagen waren die Verurteilung des Götzendienstes und die Gerichtsansage. In Jes 50, 4-9 geht es Jesaja um ein Aufrichten, um Trösten, um Mitleiden. Ein weiterer Unterschied zur älteren Prophetie zeigt sich darin, dass der Prophet ständig im Dialog mit Gott steht. Zum Wortamt tritt ein weiterer Gedanke hinzu: Der mit Gott verbundene Mensch muss leiden (V.5b–6).
Im Vergleich zur älteren Prophetie ist nach Hans-Jürgen Hermisson die Verkündigung Jesajas „zu einem integrierenden Bestandteil des prophetischen Amtes geworden“. Damit zeigt das Leiden eine neue Qualität: Es trennt nicht mehr von Gott, sondern zeichnet den mit Gott verbundenen Menschen aus. Der Knecht Gottes ist überzeugt, dass Gott ihm Recht verschafft, weil er um Gottes willen leidet. In V. 7 wird die Hoffnung ausgesprochen, dass Gott hilft. Der Prophet wird nicht zuschanden und muss sich nicht schämen. Aus der Idylle der prophetischen Gottesbeziehung ist eine radikale Gerichtssituation geworden, in der nur noch Gott helfen kann. Der Prophet ist seinen Weg gegangen – die Gegner verändern sich bis zur Selbstauflösung, ohne Gegengewalt des Propheten. V. 8 zeigt, dass der Prophet durch das geschichtliche Handeln Gottes bestätigt wird. Die Verschmelzung von Klagepsalm und Heilsorakel führt dazu, dass ein ganz dichter Text entsteht, der in V. 9 zeigt, dass niemand den Propheten eines Frevels bezichtigen kann.
II.
Der Palmsonntag steht am Anfang der stillen Woche, die den Blick auf Gründonnerstag und Karfreitag richtet. Das Evangelium zeigt noch einmal den Jubel und die Bewunderung der Massen beim Einzug Jesu in Jerusalem, während der Predigttext die Themen Missachtung und Leiden aufnimmt. Die Gestalt Jesu vereint beides: die Bewunderung einerseits und Neid und Hass als die Kehrseite der Bewunderungsseite. Das alttestamentliche Wort und das Evangelium legen es nahe, dass im Evangelium und im Predigttext der Knecht Gottes auf Jesus hin gedeutet wird. Mit Hans-Jürgen Hermisson muss allerdings diese Auslegung hinterfragt werden, weil sie der historischen Dimension des Textes nicht stand hält. Es ist der Frage nachzugehen, inwiefern die Predigt eines alttestamentlichen Textes in einem ausgeprägt christologischen Kontext überhaupt möglich ist. Jes 50,4–9 ist seit der letzten Perikopenrevision im Jahre 1982 für den Palmsonntag vorgesehen (zuvor war der Predigttext für den Karfreitag bestimmt).
Als Einstieg in die Predigt kann die erste Strophe von Jochen Kleppers Lied genommen werden, EG 452: „Er weckt mich alle Morgen ... schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht". Was aber ist das für ein Spruch? Der Prophet ist auf einmalp hellwach und traut seinen Ohren nicht. Gott spricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2.Kor 12,9 - Jahreslosung). Wen soll ein solches Wort trösten? Woran leidet die Welt? Das Mitleid mit den Leidenden kann die Sinne schärfen. Der Prophet muss darunter leiden, dass er von vielen als Opportunist oder als Querdenker abgestempelt wird, weil er nur das Eine kennt: das Wort Gottes.
Literatur
Jan Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, 4. Aufl., Göttingen 2010.- Hans-Jürgen Hermisson, Studien zu Prophetie und Weisheit. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Jörg Barthel, Tübingen 1998.- Ders., BKAT XI/Lieferung 13, Neukirchen-Vluyn 2008.- Peter Höffken, Jesaja. Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2004.- Claus Westermann, Das Buch Jesaja. ATD 19, 4. Aufl., Göttingen 1981.
Lieder
„Er weckt mich alle Morgen“ (EG 452)
„Du schöner Lebensbaum“ (EG 96)
„Gott hat das erste Wort“ (EG 199)
Vom 8. bis zum 6. Jahrhundert vor Christus verlor das Volk Israel nach und nach seine Selbständigkeit: Nachdem die elf Stämme im Norden Palästinas durch die militärische Übermacht der Assyrer endgültig ihre staatliche Eigenständigkeit eingebüßt hatten, ereilt später dem Rest von Juda durch die Babylonier das gleiche Schicksal. Der Tempel in Jerusalem wurde zerstört, und die Führungsschicht der Juden wurde in die Verbannung zwischen Euphrat und Tigris deportiert. Bei den Israeliten machte sich ein Gefühl von Niedergeschlagen- und Verlassenheit breit, obwohl sie auf den Gott der Väter gesetzt hatten. Waren sie einem falschen Gott gefolgt? In dieser Zeit vermittelte ihnen Gott durch den uns nicht näher bekannten zweiten Jesaja-Propheten in den Kapiteln 40 – 66 des Jesajabuches eine überaus wichtige Botschaft: Gott lässt sich nicht von militärischen Siegen beeindrucken. Gottes Plan sieht ganz anders aus: Er beruft und erwählt einen Knecht, der eine Vorliebe für die Schwachen und Ausgestoßenen hat. Dieser Knecht erhält eine Aufgabe für Israel, doch sein Auftrag reicht weit über das Volk Israel hinaus. Der Knecht soll durch Leiden und Sterben die Schuld der „vielen“, tragen und sühnen.
In allen Abschnitten, die von diesem besonderen Knecht handeln, wird davon gesprochen, dass er leiden muss: Schläge, Folter und Demütigungen. Dietrich Bonhoeffer, an dessen Tod wir am 9. April denken, hat unter einer Leidenssituation im Gefängnis und im Angesicht des Todes geschrieben: „Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt und was er erfüllt. Gewiss ist, dass im Leiden unsere Freude, im Sterben unser Leben verborgen ist; gewiss ist, dass wir in dem allen in einer Gemeinschaft stehen, die uns trägt.“ Auch wir sind aufgerufen, wie dieser „Knecht“ des alten Bundes, immer neu auf die Stimme Gottes zu hören. Durch Hören wächst Vertrauen, durch Zuhören finden wir Mut machende und wegweisende Worte füreinander. Es ist uns nicht von Geburt an gegeben, hinzuhören, aber wir können es wie der Gottesknecht einüben, auf Gott und seine Botschaft zu hören. Wir lernen ebenso unsere Mitmenschen kennen und können hilfreich Anteil an ihrem Ergehen. Durch unser Hören auf Gott haben wir ein Ohr für unsere Mitmenschen und kommen ihnen näher, in unserer persönlichen Umgebung, in Nachbarschaft, Schule, am Arbeitsplatz. Es entsteht ein vertrauensvolles und freundschaftliches Miteinander. Wie gut, wenn wir einander ermuntern, die Lasten loszulassen und damit vielleicht helfen, mit den schwierigen Lebenssituationen umzugehen.
Gott wird den Menschen am Ende ins Recht setzen, der unschuldig gelitten hat. Die Menschenquäler, Sadisten und Terroristen im Kleinen wie im Großen werden sich alle „auflösen wie Kleider, die von Motten gefressen werden“! Sie haben keine Zukunft, Gott legt ihnen das Handwerk. “Der Herr hilft mir, wer sollte mir schaden.” Der, der hier singt, weiß, dass das Leben keineswegs einfach ist. Er erlebt Leid und Verachtung. Der Knecht erinnert mich an Dietrich Bonhoeffer, der im Gefängnis andere Mitgefangene tröstete und dort das Gedicht „Wer bin ich” schrieb, es kann unsere Augen für die bevorstehende Karwoche öffnen:
“Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!”
“Gottes Plan sieht anders aus. Er beruft einen Knecht Gottes.” Nach der sehr ausführlichen Exegese mit den Ergebnissen der neuen Forschung informiert Pfarrer Hutter-Wolandt zu Beginn seiner Predigt über die politische Lage und innere Stimmung der Israeliten zur Zeit des Predigttextes. Wie Bonhoeffer es auch eindringlich sagt und es in der Predigt zitiert wird, sind wir wie der Knecht Gottes im Predigttext aufgerufen, im Leiden immer neu auf Gottes Stimme zu hören. Wenn wir auf Gott hören, haben wir auch ein Ohr für unsere Mitmenschen und ihre Nöte. Den Menschenquälern aber wird Gott das Handwerk legen. Der Leidende und Angefochtene im Bibeltext erinnert den Prediger
an das Gedicht von Dietrich Bonhoeffer: “Wer bin ich?” Tatsächlich kann man was Besseres und Tiefsinnigeres als Abschluss schwer finden.