Passwörter und Schleier
Begegnung, Nähe und Begegnung
Predigttext: Exodus 34,29-35 (Übersetzung nach Martin Luther)
Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und alle Israeliten sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berge Sinai. Und als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht. Und wenn er hineinging vor den Herrn, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden.
Ohne ein schickes Smartphone können die meisten Menschen nicht mehr leben: Treffen planen, den Puls messen, Kontakt halten mit Ehemann, Töchtern und bester Freundin, Rezepte und das nächste Urlaubsziel nachschlagen, Notizen festhalten, Fotos schießen, Überweisungen tätigen und Serien streamen. Der verstaubende Fernseher im Wohnzimmer benötigt eine Fernbedienung.
I.
Das Smartphone ist zur Fernbedienung für das eigene Leben geworden. User können messen, schreiben, lesen, dokumentieren, die Wirklichkeit an- oder abschalten. Der Zugang zur Wirklichkeit ist durch allerlei Apps geregelt. In der von Apps und Smartphone kontrollierten Wirklichkeit kommt Religion kaum vor. Wer will, kann sich täglich die aktuelle Bibellese oder die Tageslosung zeigen lassen. Er kann sich aber auch eine Anleitung zur Meditation auf die Kopfhörer spielen. Aber das sind Nebenleistungen: Glaube ist für Zahlen, Messen und Streamen nicht so sehr geeignet.
Trotzdem nagt in jedem Menschen die Sehnsucht nach Sinn, der Wunsch, über Ursprünge und Sinn von Welt und Wirklichkeit Bescheid zu wissen. Judentum, Christentum und Islam haben zur Beantwortung stets auf Gott verwiesen, auf den Schöpfer und Erlöser der Welt. Diese Verbindung zwischen Gott und Wirklichkeit hat sich im Zeitalter von Smartphones und Festplatten nicht aufgelöst. Aber die Selbstverständlichkeit der Religion hat sich verändert. Jeder Mensch spürt zu Zeiten die Sehnsucht, etwas über den Ursprung seiner Welt zu erfahren. Jeder Mensch spürt zu Zeiten den Wunsch, dem wahren Gott zu begegnen. Christen sind überzeugt: Gott stiftet Sinn für jedes einzelne Leben, aber ist er mir auch näher als die Smart Watch, die meine täglichen Schritte zählt, den Herzschlag überwacht und zweimal pro Tag den Blutdruck mißt?
Wissenschaft, Medizin, Quantenphysik und Technik haben den naiven Glauben an Gott in vielen Bereichen des Lebens zurückgedrängt. Kindergartenkinder glauben noch an den bärtigen alten Mann, der über den Wolken auf einem Thron sitzt und ein Gewitter schickt, wenn er schlechte Laune schiebt. So stellt sich kein Erwachsener und kein glaubender Christ Gott vor. Diese Zeiten sind vorbei. Wie aber dann? Digitales, die Technik, die Wissenschaften sind nicht mehr auf die Arbeitshypothese Gott angewiesen. Der ins Geschehen der Welt unmittelbar eingreifende Gott ist unglaubwürdig geworden. Dennoch halten viele Glaubende mit guten Gründen und Vertrauen an eben diesem Glauben fest. Sie lassen sich trotz aller beißenden Widersprüche nicht beirren, auf Gottes bestimmende Macht zu vertrauen. Wo die Wissenschaftler vom Zufall, abergläubische Menschen vom Schicksal sprechen, reden sie von flüchtigen oder intensiven Begegnungen mit Gott.
Einigen Menschen macht das Angst. Manche Glaubende retten sich in einen genau umgrenzten Fundamentalismus. Um ihren großen allmächtigen Gott zu retten, schließen sie sich und ihre eigene Erfahrung der Wirklichkeit in Mauern ein. Sie lassen nur noch zu, was ihnen ins Bild paßt. Solche geschlossenen Weltbilder können ein Leben tragen, das will ich gerne zugeben, aber das kostet einen sehr hohen Preis.
II.
In der Bibel finde ich ein Verständnis von Wirklichkeit, das nach vielen Seiten offen ist, für alle neuen und ungewöhnlichen Erfahrungen. Die Bibel rechnet mit Menschen, die Neues entdecken, sich auf das Widerspenstige und Unbegreifbare einlassen. Und sie rechnet damit, daß in all diesen, sich widersprechenden Erfahrungen, die wir insgesamt Wirklichkeit nennen, auch die Wirksamkeit Gottes verborgen ist. Solche Gotteserfahrungen prägen die Autoren der Bibel in verblüffende, nachdenkenswerte und glaubensstiftende Geschichten um. Schon das ist eigentlich unbegreiflich: Die Bibel erzählt von Gott. Sie denkt nicht über ihn nach, sie beschreibt ihn nicht, sie ordnet ihn nicht in ein System ein, nicht einmal in das System, das Gott selbst geschaffen hat. Die Bibel erzählt davon, wie Gott den Menschen begegnet. Und die Erzählung von Mose am Sinai, heute Predigttext, kommt als einer der anschaulichen Höhepunkte daher.
Dreimal erscheint Gott in dieser kurzen Geschichte von nicht mehr als fünf Versen oder Sätzen. Gott steckt in den beiden Gesetzestafeln mit den zehn Geboten. Gott erscheint, ohne daß er zu sehen wäre, im Gespräch mit Mose, das die Erzählung voraussetzt. Und zum dritten Mal ist Gott im Gesicht des Mose zu sehen. Mose muß sein leuchtendes Gesicht unter einem Schleier verbergen, weil die Menschen, die wiederum ihn sehen, den Blick auf dieses erleuchtete Angesicht nicht ertragen können. Davon gleich mehr. Gott im Gesetz, Gott im Gespräch und Gott im Gesicht – ich will jeden dieser drei Aspekte kurz beleuchten. Am Ende will ich einige Worte darüber verlieren, inwiefern diese drei Aspekte miteinander verschränkt sind.
III.
Eins – Gott im Gesetz: Mehrfach erhält Mose auf dem Berg Sinai die beiden Tafeln mit den zehn Geboten. Diese fassen die Regeln zusammen, an die sich Menschen, egal ob sie glauben oder nicht, halten sollen. Das ist die Voraussetzung, wenn sie ein gutes, respektvolles Zusammenleben gewährleisten wollen: nicht töten, Vater und Mutter ehren, nicht ehebrechen, Gottes Namen heiligen. Regeln für gutes Leben sorgen dafür, daß Menschen sich in den Zufällen der Wirklichkeit orientieren können. Wenn sie sich nicht sicher sind, geben die Gebote, obwohl sie keineswegs alle Bereiche des Lebens abdecken, einen ersten Anhaltspunkt – mehr nicht.
Die zehn Gebote sind ein Katalog von Basisregeln, eine Art Leitschnur. Wer sich daran hält, der begegnet zwar nicht Gott, aber er macht von dem Gebrauch, was Gott sich für ein gutes Zusammenleben zwischen den Menschen gewünscht hat. Wer die Gebote ernstnimmt, der erkennt indirekt Gott an, der glaubt ihm, weil er seine Regeln und Orientierungen für sein Leben sinnvoll findet. Deswegen hält er sich auch daran. Es gibt Fälle, da scheitern Menschen an diesen Geboten. In anderen Fällen widersprechen sich zwei Bestimmungen, und der, der Orientierung sucht, weiß nicht, wie er handeln soll. Trotz ihres Scheiterns oder ihres Zweifelns können Menschen darauf vertrauen, daß letztlich die Gebote zum Guten aller Menschen dienen. Trotzdem schließt das Konflikte nicht aus.
Zwei – Gott im Gespräch: An zentralen Punkten des Lebens reicht es nicht aus, daß Gott im Gesetz gegenwärtig ist. Menschen, Glaubende sehnen sich nach einer unmittelbaren Gottesbegegnung – zum Beispiel vor schwierigen Lebensentscheidungen, die weit in die Zukunft hineinreichen. Mose hat den Auftrag erhalten, das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten in das Land jenseits des Jordan zu bringen, dort, wo Milch und Honig fließen. Er begegnet Gott vor und während dieser Reise mehrfach allein: am Dornbusch, in der Wolken- und Feuersäule und schließlich auf dem Berg Sinai. Bei jeder dieser Begegnungen zeigt sich Gott nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern er bleibt im Verborgenen.
Mose redet mit Gott, aber – im wahren Sinne des Wortes – er durchschaut Gott nicht vollständig. Das Geheimnis Gottes, der unendliche Unterschied zwischen Gott und Mensch, bleibt gewahrt. Gott erscheint Mose im Dornbusch, dort nennt Gott seinen Namen: Ich bin, der ich bin und für dich da. Aber sein ‚Aussehen‘ bleibt Mose verborgen. Trotz aller Erscheinungen Gottes, alle Geschichten sind gespickt mit Hinweisen, die auf Unsichtbarkeit, Verborgenheit und Geheimnisse Gottes zielen. Daß Gott ihm mehrfach erscheint, ist selbst für Mose ein Ausnahmeereignis. Aber es kommt vor, und es wirkt sich aus.
Drei – Gott im Gesicht: Das Gespräch Moses‘ mit Gott wirkt sich auf die Menschen Israels aus. Sie, denen der zurückkehrende Moses am Fuß des Berges begegnet, bemerken sofort sein leuchtendes und strahlendes Gesicht. Gottes Gegenwart hat – wenn man es bildlich so sagen will – auf die Person des Mose abgefärbt. Das hebräische Wort, das hier gebraucht wird, ist in der Übersetzung – insbesondere vom Hebräischen ins Lateinische und Griechische – zweideutig. Es kann sowohl Strahlen und Licht wie auch Horn bedeuten. Das hatte starke Auswirkungen auf die Kunstgeschichte, denn Mose wird aus diesem Grund einer anderen Übersetzung häufig mit zwei Hörnern dargestellt, am bekanntesten beim Renaissance-Künstler Michelangelo. Mose sieht dann aus, als sei er dabei, sich in einen Stier zu verwandeln. Aber das führt die Geschichte in die Irre. Entscheidend ist, daß die Gottesbegegnung oben auf dem Gipfel des Sinai sich nachträglich auswirkt.
IV.
Es ist nicht so, daß der Gott der Bibel den Menschen erscheint, wann und wo sie es wollen. Gottes Gegenwart folgt nicht einfach menschlichen Wünschen. Gottesbegegnungen sind in jedem Fall ganz außergewöhnliche, nicht beliebig wiederholbare Ereignisse. Sie sind stets von Momenten und Elementen begleitet, in denen Gott zwar redet, sich aber auch verbirgt. In der Predigtgeschichte ist das noch an Mose mit dem strahlenden Gesicht zu beobachten. Die Menschen im Volk können ihm wegen der strahlenden Helligkeit nicht mehr ins Gesicht sehen. Deswegen legt sich Mose eine Decke darüber. Er verschleiert sich. Mit dem Schleier können ihm die Menschen noch zuhören, aber das strahlende Licht seines Gesichtes ist abgeblendet.
Diese Details der biblischen Geschichte dürfen nicht vernachlässigt werden. Sie geben uns wichtige Hinweise auf unsere eigene Gegenwart: Gott erscheint nicht als thronender Vater im Himmel, mit Rauschebart und weißem Wallegewand. Und selbst wenn er – ausgewählten – Menschen begegnet, dann sind in diesen Begegnungen immer Momente der Distanzierung und der Verborgenheit enthalten.
Glaube ist doch etwas anderes als das naive Bewußtsein von Gottes dauernder Gegenwart. Glaube ist eher die Suche nach Gott in einer Wirklichkeit, in der Menschen allzuoft die Abwesenheit und Verborgenheit Gottes erfahren. Ich könnte nun eine lange Liste von Entwicklungen und Ereignissen aufzählen, die unser Gott- und Weltvertrauen erschüttert haben und erschüttern. Ich erwähne nur ein Beispiel: Am Montag stürmte ein junger Mann, Student der Biologie auf dem Campus der Heidelberger Universität in einen Hörsaal und verletzte mehrere seiner Kommilitonen. Eine junge Frau starb kurz danach an ihren Verletzungen. Im Botanischen Garten erschoß der Täter sich selbst. Keine Begründung kann solch einen Amoklauf rechtfertigen. Solch eine Tat stellt das Lebens- und das Gottvertrauen auch der nicht unmittelbar Beteiligten in Frage. Und sie führt in Verzweiflung und Widersprüche, mit denen Menschen leben müssen.
Wie Mose einen Schleier trug, der verhinderte, daß ihm die Israeliten ins Gesicht blickten, so hängt auch über der Wirklichkeit, die wir erleben, ein Schleier, der Distanz schafft und uns in Ratlosigkeit zurückläßt. In dieser Not bietet die Geschichte aus dem Zweiten Buch Mose mindestens drei Erinnerungswege an, Gott zu begegnen. Der erste sind die zehn Gebote, die Wege zu einem guten, respektvollen menschlichen Miteinander weisen. Als zweites erinnert die Bibel an Gottesbegegnungen der Vergangenheit, an Mose, der auf dem Sinai dem Gott Israels begegnet. Der dritte Weg liegt dort, wo dieser Gottes Israels selbst Mensch geworden ist, um solidarisch mit den Armen, Kranken und Hilfsbedürftigen zu leben. Solche Gottesbegegnungen lassen sich nicht herbeiführen, wie man auf Google Maps den Weg zu einem guten Restaurant nachschaut. Solche Begegnungen, die Gewißheiten und Orientierung stiften, sind angewiesen, auf die Gnade und die Barmherzigkeit Gottes. Glaube und Vertrauen bedeutet, achtsam zu werden auf die kleinen Spuren Gottes in dieser Welt.