Wind ist wohltuend und erfrischend, so lange er sanft weht. Wird Wind zum Wirbelsturm, wird er lebensgefährlich. Feuer ist wohltuend und wärmend, so lange es sicher im Kamin vor sich hin knistert. Wird Feuer unkontrollierbar und zur Feuersbrunst, bringt es Tod und Vernichtung. Wasser wohltuend und belebend, so lange es in ruhigen Bahnen verläuft. Tritt Wasser über die Ufer und wird es zur Naturkatastrophe, bringt es Menschen, Tieren und Pflanzenwelt den Tod. In Maßen genossen ist also fast alles wohltuend. Ein zuviel schadet. Zu viel Leben, zu viel Bewegung, zu viel Unruhe durch den Geist Gottes, so etwas gibt es tatsächlich auch.
Den Worten im 2. Korintherbrief nach zu urteilen, hat man ja zunächst das Gefühl: Eine Bilderbuchgemeinde! Soviel begeisterte Mitchristen. Da war ja was los! Die Gemeinde kann sich gar nicht retten vor Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes be-geistert sind und ihre Gaben, wo sie nur können, in’s Gemeindeleben einbringen: Die einen können Wunder tun und Menschen heilen, andere sind hervorragende Prediger, wiederum andere können prophetisch reden, sogar Ekstatiker gibt es: Menschen, die vor Begeisterung in eine solche Hochstimmung versetzt werden, dass sie nur noch stammeln und lallen und keiner sie mehr versteht. In den Gottesdiensten geht es laut und lebhaft zu. Wenn nämlich alle zusammen kommen, dann will einer dem anderen von seinen Gaben und Fähigkeiten erzählen, von seinen Erfolgen und Heilungen, und sie wollen einander natürlich auch mit ihren Fähigkeiten übertreffen – wie das so ist unter Menschenkindern. Da kann es einem schnell zu viel werden. Verständlich, dass Paulus da versucht, die Wogen zu glätten.
Unser erster Gedanke, wenn wir diese Zeilen des Paulus lesen, ist ja der: Bei uns ist es ganz anders. Unser Problem ist es nicht, dass sich im Gottesdienst und in der Gemeinde zu viele mit ihren Begabungen einbringen möchten. Dass es da zu laut, zu fröhlich, zu begeistert zuginge. Wir leiden eher daran, dass die Gottesdienste auf den Pfarrer oder die Pfarrerin ausgerichtet sind und die anderen viel zu wenig zum Zuge kommen. Und in der Gemeindearbeit hört man oft dieselbe Klage: Es sind doch immer wieder die gleichen, die sich mit ihren Gaben einbringen und andere schauen nur zu und kritisieren hinterher. Das überschwängliche Wirken des Heiligen Geistes, diese Kraft, die Menschen erfüllt und andere mitreißt, spüren wir viel zu selten in unserer Gemeinde und Kirche – und wir fragen uns bang, wo er denn überhaupt noch weht in dieser Zeit, die geprägt ist von Ratlosigkeit und Zukunftsangst in der Kirche. Weder in unserer Gemeinde noch in der Kirche überhaupt erleben wir, dass der Heilige Geist uns mit Enthusiasmus erfüllt und Begabungen hervorbringt, die in ihrer Fülle und Lebendigkeit fast über uns zusammenschlagen und erst einmal gebändigt werden müssen.
Ein laues Lüftchen also nur, statt Wind?
Ein glimmender Docht nur noch, statt Feuer?
Ein Rinnsal nur noch, statt Wasser?
Es stimmt ja gar nicht, liebe Gemeinde! Es ist nicht wahr, dass es in unseren Gemeinden zu müde, zu eintönig und zu wenig interessant zuginge. Im Gegenteil! In unseren Kirchengemeinden gibt es eine reichhaltige und bunte Vielfalt von Begabungen und Begeisterungen, eine Vielfalt von Meinungen und Glaubensweisen, die manchmal mit der gleichen Begeisterung gelebt und vertreten werden, wie die Begabungen der Gemeinde in Korinth – aber uns ist wie ihnen damals die Gabe verloren gegangen, unsere Vielfalt unter einen Hut zu bringen. Kinder im Erwachsenengottesdienst langweilen sich und stören uns Große bei unserer Andacht – also gibt es einen Kindergottesdienst im Nebenraum. Wir empfinden es nicht immer als gut, wenn die Kleinen aus unseren Gemeinden nach draußen gehen. Manchmal gibt dann auch einmal einen Familiengottesdienst, da dürfen wir zusammen bleiben – da gehen aber dann die alten Menschen nicht so gerne hin. Weil es ihnen zu laut ist. Vormittags treffen sich die Mutterkind-Gruppen, nachmittags die Konfirmanden, auch die Senioren treffen sich – aber im Nebenraum hoffentlich ohne, dass die Pfadfinder sie stören, am Abend tritt der Kirchenvorstand zusammen. Der Raum, in dem sich die Jugend zur gleichen Zeit trifft, ist schalldicht isoliert.
Wann aber sind wir wirklich einmal alle zusammen? Babys und Kinder, Eltern und Konfirmanden, Senioren und Jugend, Kirchenchor, Kirchengemeinderat und Mitarbeiter? Wann beten wir einmal zusammen? Hören gemeinsam auf das Wort Gottes? Was eint uns noch? Da gibt es einen Hauskreis, in dem die innige Gebetsgemeinschaft ein wichtiger Teil der Zusammentreffens ist. Anderen ist das zu fromm. Die gehen lieber zur Erwachsenenbildung. Da lernt man wenigstens was, und darf seinen Verstand gebrauchen. Die einen halten die Bibel für verbalinspiriert, die anderen für ein historisches Dokument. Die beiden bekommt man nicht an einen Tisch. Die Frage, ob der Heilige Geist nur vom Vater oder auch vom Sohn ausgeht, hat schon in früher Kirchengeschichte den Osten vom Westen getrennt. Und die Trennung unserer Konfessionen schmerzt uns nun schon seit fast 500 Jahren. Wir bauen zweierlei Kirchen in einem Dorf. Wir feiern unterschiedliche Festtage. Und doch sehnen wir uns alle nach dem Einen, was uns verbindet, was Trennung und Streit überwindet: unser Bekenntnis zu dem einen Gott, unseren Herrn.
Der gute Apostel Paulus kannte unsere Probleme also schon längst. Es gab sie schon, da war unsere Kirche noch keine 20 Jahre alt. Und die Gemeinde in Korinth mit ihren vielerlei Begabungen und Begeisterungen ist wie ein Abbild unserer Zeit, einer Zeit der Vereinzelung, der Individualisierung, der Profilierung und der festgefahrenen Fronten auch innerhalb der Kirche. Die Antwort des Paulus ist also auch ein Antwort an uns:
Es gibt verschiedene Gaben, doch ein und derselbe Geist teilt sie zu. Es gibt verschiedene Dienste, doch ein und derselbe Herr macht dazu fähig. Es gibt verschiedene Wunderkräfte, doch ein und derselbe Gott schenkt sie – er, der alles in allen wirkt. Alle Gaben unter uns sind also gleich wichtig und gleich gut, denn für Gott ist jeder, dem er sie schenkt, sein geliebtes Kind. Innerhalb der Gemeinde werden die Fähigkeiten unterschieden, es gibt Ämter und Beauftragungen, die ihre Berechtigung haben. Schon Paulus kennt das und betont: „Es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr.“ Nicht jeder hat in der Gemeinde die gleiche Aufgabe, und zum Nutzen aller ist es sinnvoll, Aufgaben zu aufzuteilen und Zuständigkeiten zu klären, damit wir uns nicht ins Gehege kommen. Auch, damit jede und jeder weiß, wofür er verantwortlich ist und wo er selbständig entscheiden kann. Was also folgt daraus für unser Miteinander in der Kirche und in den Konfessionen?
– Wichtig ist zum ersten, dass wir im Lichte des Gottesgeistes erkennen: Alle Gaben, die Gott uns geschenkt hat, sind gleich viel wert. Auf einer Karte aus Maria Laach habe ich einmal das Wort gelesen: Es ist genauso gut, zur Ehre Gottes Dome zu bauen, wie Kartoffeln zu schälen. Wir müssen in unserer Kirche aufhören, die Tätigkeiten und Begabungen zu werten. Das Wirken eines Menschen, der im Besuchsdienstkreis ist und am Krankenbett Trost zuspricht, ist genauso wertvoll wie das liebevolle Schmücken des Altars durch die Küsterin oder das Grübeln des Pfarrers oder der Pfarrerin über ihrer Predigt. Wertvoll wird unsere Arbeit allein dadurch, dass wir es für Gott tun. Aus Liebe zu ihm und aus Verbundenheit zu seiner Kirche.
– Wichtig ist es zum zweiten, dass wir im Lichte des Gottesgeistes erkennen: Die Verschiedenheit innerhalb unserer Kirche ist nicht nur ein Grund, darüber traurig zu sein. Unsere Verschiedenheit gibt uns doch auch in ungeahnter Weise, die Möglichkeit, jedem Menschen, der Gott sucht, bei uns ein Zuhause zu geben. Ich bin froh, dass es evangelische Wortgottesdienste gibt, denn es gibt Menschen, die Ruhe und Einkehr suchen und eine Predigt, die ihren Verstand anspricht und ihre Seele berührt. Ich bin froh, dass es katholische Messen gibt, denn ich weiß, es gibt Menschen, die mehr brauchen als das Wort, die die Lichter lieben und den Geruch, das Glockenläuten und die Gesten der Segnung und der Bekreuzigung. Ich bin froh, dass es Kindergottesdienste und Kinderbibelwochen gibt, genauso wie Altenfreizeiten und Seniorenabendmahl. Ich bin froh, dass es eine Madrigalschola gibt genauso wie einen groovenden Gospelchor. Weil wir Beides brauchen. Jeder auf seine Weise. Und ich bin froh, dass wir über all diese Verschiedenheit hinweg uns nicht davon abhalten lassen, zu sagen: Wir glauben an den einen Gott! Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist – wenn auch auf verschiedene Weise.
– Wichtig ist also zum dritten, dass wir im Lichte des Gottesgeistes erkennen: Wie vielfältig auch die Kinder Gottes sein mögen, wir gehören alle zu einer familia dei. Der Familie Gottes, die durch Gottes Geist miteinander verbunden ist. Und so wie es in einer Familie auch verschiedene Charaktere, verschiedene Ämter und verschiedene Gaben gibt, so wie man auch in einer Familie einmal jeder in sein Zimmer gehen und für sich sein muss, so gibt es auch in unserer Christenheit verschiedene Charaktere, verschiedene Ämter, verschiedene Gaben und verschiedene Bedürfnisse. Paulus mahnt uns: Aber das alles bewirkt ein und derselbe Geist. So wie er es will, teilt er jedem und jeder in der Gemeinde die eigene Fähigkeit zu. Solange wir den gleichen Gottesgeist der Liebe und der Demut in uns tragen, gehören wir zur selben Familie. Und solange wir wissen, dass auch die Verschiedenheit eine Geschenk Gottes ist, brauchen wir uns gegenseitig unsere Besonderheiten nicht als etwas Besseres vorrechnen sondern als etwas, das in anderer Weise von dem selben Gott Zeugnis gibt. Alles bewirkt ein und derselbe Geist. Dieser Geist weht in unserer Kirche wie ein belebender Wind, aber er zerstört sie nicht. Dieser Geist wärmt unsere Kirche wie ein unauslöschliches Feuer, es verbrennt sie aber nicht. Dieser Geist erfrischt unsere Kirche wie klares Wasser, es bricht aber nicht über uns zusammen. Der Geist Gottes macht es möglich, dass wir in aller Verschiedenheit doch eins sind.