„Wenn einer alleine läuft, läuft nichts“
Dann würden wir heute im Gottesdienst keine Stühle haben, auf denen wir sitzen. Dann müssten wir unsere Lieder ohne Noten und ohne Posaunenchor singen. Es gäbe keinen Chor, der uns einstimmt und mitreißt, keinen Altar und keine Blumen und hinterher auch keinen Kaffee und keinen Kuchen. „Wenn einer alleine läuft, läuft nichts.“ Dann würden wir an diesem Pfingstmorgen nicht auf dem Rasen unter den Bäumen im Innenhof des Spenger Werburg-Ensembles sitzen. Im Torhaus könnten keine Hochzeitspaare getraut werden. In der Scheune würde es keine kulturellen Veranstaltungen geben, und auch ein Museum für Kinder im Herrenhaus könnte nicht geplant werden. Im Frühjahr wäre hier von der Narzissen – Pflanzaktion „Spenge blüht auf“ nichts zu sehen. Auch gäbe es keinen alten Bauerngarten zu bestaunen oder auf dem Mittelalterfest zu lernen, wie man Schafe schert und Wolle spinnt. Das alles kann nur laufen, weil es da viele gibt, die sich begeistern lassen, die sich hinreißen und mitreißen lassen, um ein gemeinsames Projekt anzustoßen, umzusetzen und zum Ziel zu bringen. Das Geschenk des Heiligen Geistes, das wir mit dem Pfingstfest feiern – es braucht Erdung, und es braucht Menschen, die offen sind für die vielfältigen Gaben seines Geistes.
Von der Erdung des göttlichen Geistes und von der Begeisterung Vieler erzählt die biblische Geschichte für diesen Pfingstmorgen auf ganz eigene, ganz alltägliche und menschliche Weise. Nicht wie gewohnt werden wir mitgenommen nach Jerusalem. Nicht werden wir Zeugen, wie der Geist Gottes mit kräftigem Brausen und in Feuerzungen auf die Jünger Jesu hinab fährt und sie aller Welt verständlich in allen Muttersprachen predigen. Stattdessen begleiten wir die Menschen des Volkes Israel auf ihrem Weg durch die Wüste. Mit Erleichterung und mit Begeisterung hatte man sich auf das „Projekt Exodus“ eingelassen. Die Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten hatten ein endgültiges Ende gefunden. Die Verheißung des gelobten Landes, in dem Milch und Honig fließen würden, lockte und erschien als lohnendes Ziel. Und schließlich hatte man einen starken Mann an der Spitze, der es verstand mit Gott zu reden und sein Volk zu leiten und zu führen. Ein wechselvoller, vor allem ein langer Weg lag vor ihnen. Hunger und Durst, Feinde und Gefährdungen wogen schwerer als die Zusagen Gottes und seine Bewahrung und Versorgung.
Die anfängliche Begeisterung, das gemeinsame Vorwärtsstreben dem verheißenen Ziel entgegen, wandelt sich in wehmütiges Erinnern an die guten alten Zeiten, in Jammern, schließlich in Murren und Aufbegehren gegen Mose und gegen Gott. Die Situation eskaliert: Das Volk sehnt sich nach ägyptischem Knoblauch, nach Zwiebeln und Melonen, nach Fisch und nach Töpfen voll Fleisch. Gott straft die Undankbarkeit seines Volkes, indem er an den Rändern des Lagers Feuer legt, das nur durch das inständige Beten des Mose gelöscht werden kann. Und das Ende vom Lied? Stillstand beim „Projekt Exodus“. Das Volk jammert lauter denn je, hat jede Perspektive verloren. Mose ist an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt. Nicht länger kann und will er die Last des Volkes allein auf seinen Schultern tragen. Zwischen allen Stühlen, zwischen göttlicher Verheißung und menschlicher Befindlichkeit, ist er ganz allein auf sich gestellt, ist er machtlos und hilflos. Er, der an der Spitze steht, ist am Ende der Kraft, ausgebrannt, unfähig, länger die Last der Verantwortung für das Volk und das gemeinsame Vorhaben zu tragen. Verachtet von den Menschen und zweifelnd an Gottes Zugewandtheit will er lieber sterben. Denn: „Wenn einer alleine läuft, läuft nichts“. Ist das das Ende? Ist das das „Aus“? Keineswegs. Denn Gott verschließt sich der Not des Mose nicht.
Gottes Geist – geerdet
Nicht auf spektakuläre Weise greift Gott ein. Kein Toben und Brausen vom Himmel, kein Pfingstwunder in der Wüste, kein göttlicher Geist, der herab fährt. Nein, Gott nähert sich dem gebrochenen Mose auf ganz unspektakuläre Weise, mit sehr genauem Blick und pragmatischem Rat, was jetzt und als Nächstes getan werden muss, um Mose zu ent-lasten und das Volk zu motivieren, neu zu begeistern für das „Projekt Exodus“. Dazu muss das Rad nicht neu erfunden werden. Keine neue Anstrengung wird von Mose verlangt. Er soll sich allein auf das besinnen, was er von Gott bereits längst erhalten hat, nämlich seinen Geist. Dieser Geist soll nun mit anderen geteilt werden, an weitere Menschen abgeben werden. Siebzig Männer darf Mose aussuchen. Alles Weitere liegt in Gottes Hand, kommt aus Gottes Hand: denn Gott ist es, der seinen Geist nun teilt und weitergibt. Gott ist es, der 70 Menschen begeistert. Er lässt sie teilhaben an seiner Kraft und befähigt sie dazu, all das mit Mose zu teilen, was ihm allein zu schwer geworden war.
Gottes Geist – belebend
Nun sind es 71 Schultern, auf die sich die Last der Verantwortung verteilt. Es sind 71 Menschen, die mit ihren je eigenen Gaben gemeinsam das Volk motivieren, aus Rückwärtsgewandtheit und Stillstand aufzubrechen, der verheißenen Zukunft entgegen. Welch eine Entlastung für den, der bisher alleine lief! Welch eine Bereicherung für die Menschen des Volkes, die nun auch mit wenigen Schritten ein Gegenüber und Orientierung finden oder in kleinen Gruppen den Weg zum gemeinsamen Ziel gestalten! Und welch begnadete Begabung der Neu-Begeisterten, immer andere neben sich zu wissen, die mit-denken und mit-handeln, mit-tragen und mit-gestalten im Sinne Gottes und zum Wohl seiner Menschen! Vorbei die Zeiten, wo einer alleine läuft, und keiner mit geht. Zu Ende die Krise: Wenn einer alleine läuft, läuft nichts. Und das nicht nur damals beim Volk Israel in der Wüste. Denn Gott teilt seinen Geist aus bis heute. Es ist genug für alle da, für jede und für jeden.
Das feiern wir zu Pfingsten: das Geschenk des göttlichen Geistes. Durch ihn begabt uns Gott mit seiner Kraft. Er begeistert uns, uns da mit einzusetzen, wo es für den einen oder die wenigen Verantwortlichen zu viel ist. Er setzt neue Gedanken und Ideen in uns frei, wo es unmöglich scheint, gesteckte Ziele zu erreichen, weil die Grenzen finanzieller oder auch ganz praktischer Machbarkeit erreicht sind. Dass dies keine Utopie ist, kein Traum, der niemals Wirklichkeit wird, – das erleben wir heute Morgen im Gottesdienst inmitten des Werburg-Ensembles. Denn wäre dies möglich ohne die Begeisterung, ohne den Einsatz, ohne das Mitdenken und ohne das Mittun der vielen Phantasievollen und Begabten, der zahlreichen Geistreichen und Geschickten?
Gottes Geist – lebendig
Gott teilt seinen Geist aus. Es ist genug für alle da, für jeden und für jede. Das feiern wir mit dem Pfingstfest und ist mit dem Pfingstfest doch nicht vorbei. Unsere biblische Erzählung endet mit der verheißungsvollen und darin Zukunft verheißenden Bemerkung, dass die 70 vom Geist Begabten in „Verzückung“ gerieten und „nicht aufhörten“. Wohl mag so etwas wie „Verzückung“ nicht zu unserer ostwestfälischen Mentalität passen. Nachvollziehbar, erlebbar und lebendig wird das Gemeinte jedoch dann, wenn wir uns ihrer griechischen Übersetzung gegenüber aufgeschlossen zeigen: dem Wort „Euphorie“, die auch diesem Wirken des Geistes Erdung gibt. In diesem Sinne beschreibt und versteht sie der zeitgenössische Theologe Gerhard Engelsberger: „Der christliche Glaube ist euphorisch. Euphoria heißt „leichtes Tragen“. Christlicher Glaube macht Last leicht. Er lädt ein zum Tanz trotz schwerer Beine. Er lädt ein zum Lied trotz belegter Stimme. Er lädt ein zum Dank trotz erfahrener Entbehrung. Er lädt ein zum Leben angesichts des Todes. Ein wesentliches Geheimnis dieser Euphorie ist die „Gemeinschaft der Heiligen“. Sie fällt nicht vom Himmel. Sie ist unser Beitrag zum Reich Gottes, – wenn sie gelingt. Wir „wirken mit“. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Geteilte Hoffnung ist die Brücke vom Weg zum Ziel.“
Längst – nicht erst in diesem Gottesdienst – haben wir damit begonnen, unsere schweren Beine zu vergessen, in die vertrauten Lieder einzustimmen und unsere Hoffnungen zu teilen. Längst sind wir gemeinsam unterwegs, die Brücke vom Weg zum Ziel zu beschreiten. Doch Pfingsten sollen wir es noch einmal hören und wissen, glauben und darauf vertrauen: auf unserem gemeinsamen Weg sind wir beschenkt und begleitet, geführt und inspiriert von Gottes Geist – damit heute und auch in Zukunft niemals mehr einer alleine läuft.