Reformation 2021 – Was heißt schon frei?

„Allein Gewissheit, die nach außen dringen will“

Predigttext: Galater 5,1-6
Kirche / Ort: Hildesheim
Datum: 31.10.2021
Kirchenjahr: Reformationsfest
Autor/in: PD Pastorin Dr. Martina Janßen

Predigttext: Galater 5,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017):

Zur Freiheit hat Christus uns befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist!

 

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55. n. Chr. Sonnenaufgang. Irgendwo in Makedonien. Schon von weitem sieht Paulus den jungen Mann kommen, der seinen Brief abholen und nach Galatien bringen soll. Paulus überfliegt noch einmal die Zeilen, hastig, unruhig. Er zögert. Es ist ein harter Brief geworden. Kann er sich solch deutliche Worte überhaupt leisten? Seine Position ist nicht gerade gut. Der Streit mit den Jerusalemern brennt immer noch in seiner Seele, ganz abgesehen von diesem unerfreulichen Vorfall in Antiochia. Da, wo Petrus sich plötzlich für die Freiheit geschämt und die Wahrheit des Evangeliums verraten hat. Und nun – auch du, Galatien! Kaum wendet er seinen Brüdern und Schwestern dort den Rücken zu, fallen sie auf andere Prediger herein, fallen ihm in den Rücken. Doch darum geht es ja nicht, nicht um ihn.

Die Galater vertrauen der Wahrheit des Evangeliums nicht mehr. Dass Christus sie losgekauft hat von dem Fluch des Gesetzes (Gal 3,13). Dass sie allein durch Christus befreit sind. Irgendwie kann er sie ja auch verstehen. Sie wollen sich absichern, noch etwas zusätzlich tun. Sie haben eben Angst. Angst vor dem Tod, vor der Sünde, Angst davor, dass Christus nicht reicht. Da kommen diese Gesetzesprediger gerade recht, die, die meinen ohne Gesetz geht es nicht.

„Paulus bringt nicht das volle Evangelium (Gal 1,6-9)! – sagen sie. Tut die Werke des Gesetzes (Gal 3,2.5; 4,21)! Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst, könnt ihr unmöglich das Heil empfangen (Acta 15,1)!“ Und nun  wollen die sich da in Galatien doch tatsächlich beschneiden lassen! Na ja, was ist schon dabei? Er selbst hatte Timotheus ja auch beschneiden lassen. Damit er zusammen mit ihm auch in den Synagogen von Christus erzählen konnte – als unbeschnittener Heide hätte Timotheus da nur provoziert. Damit sie ihn akzeptierten, hat er ihn eben beschneiden lassen. Um des lieben Friedens willen (Acta 16,1-3). Aber doch nicht um des Heils willen! Das ist ein Unterschied. Da in Galatien wird nicht Timotheus beschnitten! Da in Galatien wird die Freiheit selbst beschnitten! Beschnittene Freiheit ist nutzlos. Ein bisschen Freiheit – gibt es nicht. Ein bisschen Gesetz – gilt nicht. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer sich beschneiden lässt, muss auch das ganze Gesetz halten. Wer kann das schon? Entweder Christus oder das Gesetz. Entweder mein Glaube oder meine Werke. Sonst ist die Wahrheit des Evangeliums in Gefahr. Und nur die macht frei – von Sünde, Gesetz, Tod.

Lange hatte er überlegt – mit einem Machtwort macht es sich niemand leicht – hatte gezögert, sich mit seinen Mitarbeitern beraten. Natürlich haben sie ihm abgeraten. „Stärke erst mal deine Position. Sie meinen es nicht böse. Sieh’ es nicht so eng. Sei doch einfach mal ein bisschen diplomatisch, Paulus! Man kann die Beschneidung doch auch als Verheißungszeichen auffassen.“ Nein, trotz allen Ärgers, den das mit sich bringen würde, Paulus muss ein Machtwort sprechen. Damit sein Befreiungswort nicht verhallt. Um der Liebe zur Wahrheit willen. „Ich, Paulus, sage euch.“ „Ich kann nicht anders, dies schreibe ich.“ Frei durch Glauben!

„Liebe Galater!“ (es folgt Gal 5,1-6 in der Übersetzung Martin Luthers)

„Zur Freiheit hat Christus uns befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist!“

(Übergang: kurze Orgelmeditation)

1517 n.Chr. Sonnenuntergang. An der Schlosskirche in Wittenberg. Wie hörte sich wohl der erste Hammerschlag an? Zaghaft, wie um zu erproben, ob der Nagel hält? Vielleicht ein letztes Zögern, ein Ziehen an dem Nagel. Das Spiel mit dem Gedanken, es doch zu lassen. Zu verzichten auf den Ärger, die Anfeindung. Freunde haben ihm abgeraten. „Denk an deine Karriere. Musst du dich denn immer unbeliebt machen, Luther? Du hast doch eh keine Chance. Und – Bist du dir wirklich sicher?“ Und ob er sich sicher war! Da waren keine Zweifel, keine „flüchtigen Ansichten in seinem Herzen, sondern allein Gewissheit, die nach außen dringen will (WA 18; 605,32f).“ Frei durch Glauben!

Luther umklammerte den Hammer. Ein kräftiger Schlag. Immer wieder. Bis die warnenden Stimmen übertönt waren. Bis die 95 Thesen festgenagelt und die Wahrheit einhämmert war in die Tür der Kirche. „Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen (Thesenanschlag in Wittenberg).“

Jeder Schlag ein Befreiungsschlag. Befreit von der Qual des Gewissens. So sollte es jedem Menschen gehen. Keine Angst mehr vor den Herolden des Ablasses und ihrem Geschrei. „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Ein kräftiger Schlag. Nie wieder! Niemand sollte mehr brennen aus Angst vor Verdammnis, Hölle, Fegefeuer. Gefangen im Netz religiöser Pflichtleistungen. Ohne Entrinnen, ohne Trost. Umstellt von Anklägern. Verkrümmt in sich.

Ein kräftiger Schlag. Nein, niemand sollte mehr Angst haben, sich das Heil nicht leisten zu können, sich nicht freikaufen zu können von den schaurigen Monstern. Sünde, Tod, Teufel. Wie auch? Soviel Geld hatte niemand. Weder Papst noch Kaiser. Und – wozu auch? Dieser Preis war längst bezahlt. Christus! Er ist der Erlöser, niemand und nichts anderes sonst. „Erteilte mir der Papst mit der Auflage der Heilsnotwendigkeit den völlig harmlos erscheinenden Befehl, einen Löffel Milch zu mir zu nehmen, so täte ich es nicht, weil dadurch die Wahrheit des Evangeliums getrübt würde.“ (WA 40; 1,167,9ff). An Christus hänge ich mein Herz, nur an ihn. Ihn lasse ich nicht, wie hoch der Preis auch sein mag.

Luther lies den Hammer fallen und ging. „Jetzt war der Grund gelegt (1 Kor 3,11). Aufgetan die schöne Pforte (EG 166;WA 54, 185,12-186,20). Geht ein durch die Tore (Jes 62,10). Langsam näherten sich Menschen der Kirchentür, einige zögerlich, andere hastig. Und fingen an zu lesen. 95 Thesen – geschrieben in Gewissensnot, angenagelt mit der Kraft des Glaubens und verteidigt in der Gewissheit, dass „wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Ich kann nicht anders; hier stehe ich. (Reichstag zu Worms, 1521)!“ Frei durch Glauben!

(Übergang: kurze Orgelmeditation)

2021 n.Chr. Sonntagvormittag. Überall in Deutschland. Wir feiern Reformationsfest. Ein Befreiungsfest. Frei aus Glauben! Seit Paulus‘ Brief und Luthers Thesenanschlag haben sich die Zeiten geändert. Wir leben in einer Welt, in der Freiheit lautstrak propagiert, vielfältig inszeniert, gefordert, gelebt und verteidigt wird. Passt doch. Ein Befreiungsfest in einer freien Welt. Gibt es also keine Briefe mehr zu schreiben und keine Thesen mehr anzuschlagen?

Sind die Zeiten der Bedrohung vorbei? Sind wir alle endlich frei? Ich glaube nicht. Die Bedrohungen sind anders, unübersichtlich, manche erstarken gegenwärtig. Viele Menschen führen das Wort „Freiheit“ im Mund. Doch nicht alle sprechen die gleiche Sprache. „Freiheit ist ein Kaugummibegriff geworden – an jedem Schlagbaum versteht man etwas anderes darunter.“ (Oskar Kokoschka). Es tut Not, genauer zu beschreiben, was man mit „Freiheit“ meint und was nicht. Zwei Überlegungen:

– Für mich bedeutet Freiheit nicht: „Ich kann alles tun, was ich will, und ich kann alles lassen, was ich nicht will.“ Die Grenze meiner Freiheit ist immer der Andere, sein Leben, seine Würde, seine Freiheit. Gerade die Coronakrise macht das deutlich. Sie stellt uns vor die scheinbare Alternative „Freiheit“ oder „Regeln“ (oder in den Worten der AFD: „Freiheit oder Coronairrsinn“).

Viele Menschen empfinden Abstand, Maske und Impfen als Einschränkung ihrer Freiheitsrechte, nicht wenige auch als illegitime Einschränkung und Bevormundung. Ich persönlich mag das auch alles nicht, und auch ich möchte frei atmen und umarmen können, aber ich finde den Verzicht darauf in diesen Zeiten vernünftig. „Niemand hat das Recht, eigene Freiheit auf Kosten der Gesundheit anderer zu genießen“ (Stefan Weil). Am Ende leiden dann alle. Das gilt generell:

Freiheit ohne Empathie und gegenseitige Verantwortung führt zu Willkür und Egoismus. Und nicht selten geht dann die Freiheit der Starken auf Kosten der Schwachen. Wenn ich z.B. freie Auswahl für wenig Geld beim Einkaufen habe, zahlt oft jemand anderer den Preis, der unter Ausbeutung und menschenunwürdigen Produktionsbedingungen leidet. Dann wächst Unfrieden, der Schrei nach Gerechtigkeit erhebt sich zu Recht. Immer wo die Freiheit anderer beschnitten wird, leidet auch meine Freiheit. Denn solange Menschen sich gegenseitig unterdrücken, zensieren und gefangen nehmen, ist auch meine Freiheit antastbar.

– Für mich bedeutet Freiheit nicht: „Ich muss alles tun, was ich kann.“ Die Grenzen meiner Freiheit sind meine Schwächen, meine Narben, mein verzagtes Herz. Sicher, es klingt verlockend, wenn man die Werbung hört: Immer volles Tempo („Bereit für die Freiheit“ [Audi]), überall grenzenloses Netz („Freiheit ist, wenn dich nichts mehr aufhält“ [O2]), immer aus dem Vollen schöpfen („Die Freiheit nehm‘ ich mir“ [VISA)]. Freier Markt, freie Liebe, freies Netz, freie Wahl, freie Fahrt! Darin liegen Chancen, ohne Zweifel, Chancen zu gestalten, sich zu positionieren und sich einzubringen, etwas zu bewegen. Das alles kann aber ins Gegenteil kippen.

Wo Freiheit zum Zwang wird, sich stets verwirklichen und selbstoptimieren zu müssen, da wird sie zur Unfreiheit. Dann hat man keine Wahl, man muss all dem hinterher jagen, was die freie Welt bietet, um auf dem Laufenden zu sein, damit man in der Beschleunigungsspirale vorankommt und das Rad nicht stehen bleibt. Wer sich nicht mehr im Hamsterrad abstrampeln kann oder will, fällt heraus. Ist freigesetzt. Oder gar vogelfrei.

Was bedeutet Freiheit für Sie? – Was hält Sie gefangen? – Wann haben Sie sich das letzte Mal wirklich frei gefühlt? – Was oder wer macht Sie frei?

(Übergang: kurze Orgelmeditation)

„Zur Freiheit hat Christus uns befreit!“ Die Freiheit, von der Paulus gesprochen und für die Luther gekämpft hat, ist mehr, und sie ist anders als all unsere Überlegungen über Freiheit. Die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat, bedeutet Frieden mit Gott. Gott hat die Freiheit, „ja“ zu mir zu sagen, obwohl alles in mir und um mich herum für ein „nein“ spricht. Sein „ja“ ist sein Geschenk an mich, im Glauben empfange ich es. Mehr braucht es nicht, um frei zu sein. Diese Freiheit kann nicht instrumentalisiert oder umfunktioniert, nicht missverstanden oder missbraucht werden, denn sie kommt nicht aus uns selbst, weder aus meinem Handeln noch aus dem Handeln anderer.

Ich muss keine Chance ergreifen und mich selbst befreien, ich kann in keine Falle tappen, ich muss nicht auf Kosten anderer frei sein, und andere können mir diese Freiheit nicht nehmen. Wo Gottes Freiheit herrscht, da weichen die Mächte und Gewalten, Sünde, Tod und Teufel, da fallen alle Grenzen. Da gibt es Gott und uns und seine Liebe. Das zu wissen macht mich frei, jede Stunde, jeden Tag.

Ich muss nicht perfekt sein, sondern kann einfach ich selbst sein mit meinen Farben und meinen Narben. Auch wenn ich mich selbst in den Widrigkeiten des Lebens verheddere, auch wenn mir jemand Fesseln anlegt, das Schicksal mir die Luft abschnürt oder Systemzwänge mich lähmen – in Gott bin ich frei.

Allein durch Glauben. Ich kann mit offenem Visier kämpfen und verwundbar bleiben, weil ich ahne, dass es gerade die Brüche sind, die das Leben für das Licht durchlässig machen, für jenen Frieden, den es nicht gibt auf dieser Welt, den nur Gott unseren unruhigen und verzagten Herzen schenkt, er allein.

 

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2 Kommentare on “Reformation 2021 – Was heißt schon frei?

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Die Predigt ist sehr gut aufgebaut: Zuerst wird der Leser eingeführt in die grundlegende Situation, welche das Christentum durch Jesus und Paulus von allen Gesetzes-Religionen klar trennt. Am Reformationstag dankt Pastorin Dr Janßen dann an den Paukenschlag von Luther zur Freiheit von der Werkgerechtigkeit, dass ich nur von Gott geliebt werde wenn ich genügend für ihn gearbeitet habe.( Manche Kinder wollen bis heute sich durch Schöntun die Liebe der Eltern erwerben.) 2021 definiert , Reformation bedeutet, ich kann lassen was ich nicht will. Heute gibt es auch den Zwang zur Freiheit Zum Schluß stellt die Pastorin heraus, Reformation bedeutet: ICH KANN ICH SELBST SEIN: Gott schafft Frieden in unseren unruhigen Her- zen. – Die Pedigt ist verständlich formuliert . – Vielleicht könnte man ergänzen es bleibt für uns Gestz und Evangelium. Oder mit der modernen Psychologie von Riemann und Schulz von Thun. Wir leben zwischen den Polen Zwanghaftigkeit und Freiheit. Wenn wir eins vernachlässigen , schädigt es. .

  2. Pfrin. Christiane Lutz

    Von welcher Gesetzes-Religion ist denn eigentlich die Rede? Und von welchem Gesetz? Vom Römischen Recht? Oder vom Gängelband irgendeines römischen Provinzgouverneurs? Oder – gegeben dass es Paulus ist, der hier spricht – von der Tora Gottes,die “heilig,gerecht und gut ist?”(Röm.7,12)
    Und von welcher Freiheit ist die Rede, die Freiheit ein solches Gesetz einfach in die Tonne zu treten, weil erst Christus kommen musste,um Empathie und Verantwortung zu lehren, wovon die Juden ja noch nie etwas gehört hatten (die Juden leuchten zwar ständig in der Predigt durch, werden aber nie beim Namen genannt. Ergo bleibt der ganze Konflikt völlig unklar).
    Wie doch die uralte Anti-These lebt!
    Spannend – und nicht zufällig – dass sie gerade in dem AfD-Slogan wieder auftaucht!!
    Die Freiheit, “ich selbst sein zu können” hat nun edgültig nur etwas mit unserer heutigen Verehrung des Individuums zu tun (was zudem nur für einen sehr kleinen Teil der Erdbewohner gilt), aber sicher nichts mit Luthers Reformation.

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