„Rogate“ - „Betet“
Weltumspannendes Gebet
Predigttext | Matthäus 6,6-15 |
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Kirche / Ort: | Heidelberg |
Datum: | 17.05.2020 |
Kirchenjahr: | Rogate (5. Sonntag nach Ostern) |
Autor: | Kirchenrat Pfarrer Dr. theol. Heinz Janssen |
Predigttext: Matthäus 6, 7-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. 8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. 9 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. 10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. 11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.] Amen.
Literatur:
Joseph Ratzinger Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Erster Teil, Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg, Basel, Wien (2007), S.161-203.
„Betet!“ – so ruft uns der Sonntagsname “Rogate” auf. Hilfe und Orientierung für all unser Beten will uns das Vaterunser geben. In jedem Gottesdienst wird es seit den Anfängen der christlichen Gemeinden in aller Welt gesprochen oder gesungen. Viele Menschen beten es täglich, sie schöpfen daraus Kraft oder bringen damit Dankbarkeit zu Gott hin zum Ausdruck. Wie viele Vaterunser werden in dieser täglich geöffneten Kirche in Verbindung mit dem Anzünden einer Gebetskerze still zum Himmel geschickt!
I.
Heute ist das Vaterunser der Predigttext, Anlass über dieses Gebet nachzudenken. Ich möchte zunächst zu einer Stille einladen und uns die Frage mitgeben: Welche Worte im Vaterunser haben für mich in diesem Augenblick eine besondere Bedeutung und bringen zum Ausdruck, was ich empfinde?
– Stille –
Möge Gott, was wir in Verbindung mit Worten aus dem Vaterunser soeben gebetet haben, erhören. – Ich möchte jetzt nicht den einzelnen Aussagen des Vaterunsers inhaltlich nachgehen, sondern der Entstehung und dem liturgischen Gebrauch dieses Gebetes. Ich stelle mich der Frage: Das Vaterunser – ein jüdisches Gebet? Dabei bin ich mir bewusst, dass die Zeit noch nicht allzuferne liegt, in der es unerwünscht und sogar höchst gefährlich war, auf eine solche Frage einzugehen.
Das Vaterunser ist nicht nur das wichtigste christliche Gebet, es verbindet auch die Christen aller Konfessionen. In vielerlei Hinsicht ist es “das Gebet, das die Welt umspannt” (H. Thielicke), es umfasst das das ganze Leben mit seinen Höhen und Tiefen. In der frühen Kirche wurde es als “Gebet der Glaubenden” bezeichnet, und nur die Getauften durften es beten. Wir verdanken dieses Gebet Jesus von Nazareth. Wir finden es im Evangelium nach Matthäus (6, 9 – 13), in der Mitte der Bergpredigt Jesu, und im Evangelium nach Lukas (11, 2 – 4) in einem anderen Zusammenhang, von dem wir noch hören.
Ein Vergleich zeigt, dass das Gebet in zwei verschiedenen Fassungen überliefert ist (ich weise auf den ausgeteilten synoptischen Text hin). In den von Matthäus geprägten Gemeinden wurde das Vaterunser also etwas anders gebetet als in den Gemeinden, die sich auf das Lukasevangelium beriefen. Es war offensichtlich üblich, mit den Gebetsworten Jesu frei umzugehen. Diese Tatsache legt die Frage nach dem ursprünglichen Wortlaut des Gebetes Jesu nahe. Dem ursprünglichen Wortlaut am nächsten steht mit großer Wahrscheinlichkeit die Fassung im Lukasevangelium (11, 2 – 4):
(2) Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. (3) Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag (4) und vergib uns unsre Sünden, denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden. Und führe uns nicht in Versuchung.
II.
Die Erweiterung der Anrede “Vater” zu “Vater unser im Himmel”, die Bitten “Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden” und “Erlöse uns von dem Bösen” sowie der Lobpreis “Denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit” fehlten noch im Original. Sie sind in der Gemeinde nach Ostern ergänzt worden. Diese Praxis entsprach dem Umgang mit überlieferten Gebeten. Denn Gebete aus der Glaubenstradition wollten nicht einfach nachgesprochen, kopiert werden, sondern wollten Hilfe und Anleitung sein für das eigene persönliche Gebet und für das Gebet in der Gemeinde. Darum widersprach es keineswegs ihrem Sinn, wenn sie wie im Vaterunser erweitert wurden.
Betont an erster Stelle der Bitten im Vaterunser stehen die beiden Bitten um die Heiligung des Namens Gottes und das Kommen seines Reiches. In den Erweiterungen des Vaterunsers zeigt sich das Ringen der betenden Gemeinde um die Frage, wie sie diesen so zentralen Bitten im Lebensalltag entsprechen kann.
Auch Jesus von Nazareth lebte in der Gebetstradition seines jüdischen Volkes. Für ihn als frommer Jude war dies eine Selbstverständlichkeit. Da gab es die Psalmen und viele andere überlieferte Gebete, die sein persönliches Beten inspirierten. Darum kann man nicht sagen, dass das Vaterunser eine gänzliche Neuschöpfung Jesu ist. Vielmehr nahm Jesus für das Vaterunser Motive aus den ihm vertrauten jüdischen Gebeten auf.
Auffallend ist die Nähe der ersten und zweiten Bitte “Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme” zum Kaddisch-Gebet, das immer am Schluss des Synagogengottesdienstes gebetet wurde: “Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen schuf. Es herrsche seine Königsherrschaft zu euren Lebzeiten und in euren Tagen … in Eile und Bälde…” Ebenso finden sich die Bitten um das Brot, um Vergebung und Bewahrung vor Versuchung in dem wichtigen “Schemone-Esre”, dem sog. Achtzehn- (Bitten-) Gebet. Mit der Bitte “und führe uns nicht in Versuchung” knüpft Jesus wahrscheinlich an ein altes jüdisches Morgen- und Abendgebet direkt an, wo es heißt: “Bring mich nicht … in die Gewalt der Versuchung”.
III.
Im Lukasevangelium erfahren wir etwas über die ursprüngliche Situation der Entstehung des Vaterunsers, über seinen unmittelbaren Anlass (Lukas 11, 1 + 2): “Und es begab sich, dass Jesus an einem Ort war und betete. Als der aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihm: Wenn ihr betet, so sprecht:
(2) Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. (3) Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag (4) und vergib uns unsre Sünden, denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden. Und führe uns nicht in Versuchung.
Es ist, als ob Jesus, die nach seiner Auffassung wichtigsten Gebetsanliegen der israelitisch-jüdischen Religion in diesem Gebet kurz und prägnant für seine Jünger zusammenfasst und sie durch eine besondere Anordnung gewichtet. Jesus hat die im Kaddisch-Gebet vorgefundenen Bitten um Heiligung des Namens Gottes und das Kommen seines Reiches in seinem Gebet betont an oberste Stelle gerückt. In dieser Gewichtung liegt der ureigene Beitrag Jesu. Darum ist das Vaterunser das Gebet Jesu, das Gebet des Herrn. “Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme!” – Es sind diese beiden zentralen Bitten, die die Christen mit den Juden besonders verbinden (und darüber hinaus alle Menschen in den verschiedenen Religionen, die sich auf Gott berufen).
IV.
Ist es nicht auffallend, dass Jesu Person und Sendungsanspruch in seinem Gebet ganz zurücktreten, ja überhaupt nicht vorkommen? Einzig und allein ist darin von Gott und seiner Beziehung zu uns, den Menschen, allen Menschen, die Rede. Gerade darum und durch die noch verdeutlichende Erweiterung der Anrede “Vater” zu “unser Vater” ist das Gebet Jesu ein ökumenisches Gebet im weitesten Sinn des Wortes, “das Gebet, das die Welt umspannt”, das alle Menschen einbezieht und mit Gott in Beziehung bringt. Als Gebet des Juden Jesus war es zunächst ein jüdisches Gebet und auf die israelitisch-jüdische Religion beschränkt. Aber durch die besondere Gewichtung, die ihm Jesus gab und seine Gemeinde nach Ostern bekräftigte, sprengte es die Grenzen der ursprünglichen Religion. Eine die Menschen und Religionen verbindende Kraft ging und geht von ihm aus. Viele, die es heute sprechen, bringen wie Jesus und die damals von ihm lernen wollten, das Vertrauen auf Gott zum Ausdruck, dem allein sie noch zutrauen, diese Welt der Selbstzerstörung zu entreißen und die Menschen zu lehren, auf den Wegen seiner Gebote zu gehen.
“Dein Name werde geheiligt” – immer noch können wir als Christen von den Juden lernen: “dein Name” ist eine Umschreibung des eigentlichen Gottesnamens (JHWH), den die Juden bis heute nicht aussprechen – aus Ehrfurcht und der Ahnung, dass Gott mehr ist, als wir von ihm sagen können, ein letztes Geheimnis, Geheimnis des Glaubens, Geheimnis des Lebens, das auch unsere Gottesbilder (Vater, Mutter, Herr, Herrscher, König usw.) nicht erfassen, sondern sich nur ihm annähern können. Diese Erkenntnis lässt uns achtsam und respektvoll mit anderen Religionen umgehen und ermutigt, nach Gemeinsamkeiten des Glaubens und Lebens zu fragen und voneinander zu lernen.
In einer Umschreibung der ersten beidendbeiden Bitten heißt es: “Geheiligt werde dein Name/ Dein Reich komme”: “Deine Heiligkeit haben wir aus den Augen verloren… Geheiligt werde dein Name von allen Menschen aller Völker. Dein Name ist Rat den Ratlosen, Kraft den Kraftlosen, Sieg den Verlierern, Friedensmacht den Zerstrittenen. Geheiligt werde dein Name. – Unsere Reiche werden mit Berechnung und Verordnungen, mit Mord und Ungerechtigkeit gebaut. Dein Reich ist deine überzeugende Liebe. Dein Reich ist deine Kraft in uns. Dein Reich hat schon gestern begonnen…”
Geheiligt werde dein Name/ Dein Reich komme. Diese Gebetsworte sind nicht nur Bitten. Sie bringen zum Ausdruck, dass Gott allein es ist, der für die Heiligung seines Namens und das Kommen seines Reiches sorgen kann und uns, seine Geschöpfe, gebrauchen möchte, dass sein Wille auch auf der Erde geschieht – uns es klingt darin bereits der Lobpreis an, der dem Vaterunser gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus in der Gebetspraxis der Gemeinden zugewachsen ist (und in manchen Gemeinden noch gesungen wird): Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
(Gemeinde singt:) liturgisches Amen bzw. Amenstrophe “Amen, das ist: es werde wahr” (344,9)