“Rogate”, dieser Sonntag im Kirchenjahr hat das Bitten und Beten zum Thema. Der Predigttext ist ein komplizierter johannischer Text, den man überschreiben könnte mit „Die Bitte in Jesu Namen”. Es ist ein Abschnitt aus den sog. Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium, also den letzten Gesprächen, die Jesus vor seinem Kreuzestod mit seinen Jüngern geführt hat. Viele Themen hat Jesus vor dem Abschiednehmen mit seinen Jüngern besprochen: Die Nächsten- und Bruderliebe hat er ihnen nochmals ans Herz gelegt; vor Abfall und Verwirrung hat er sie gewarnt, wenn schwierige Zeiten auf die Jünger zukommen werden durch den Hass der Welt und die Bedrängnis, der die Jünger ausgesetzt sein werden nach seinem Tod. Trösten wollte er sie in ihrer Traurigkeit und sie der Freude versichern, die er in ihr Herz geben wird und die niemand wieder von ihnen nehmen wird. Jesus ist ein guter Seelsorger in seinen Abschiedsreden, er weiß um die Ängste und Sorgen seiner Freunde, die nicht wissen, wie es weitergehen soll, wenn sie ihn, Jesus, nicht mehr leiblich bei sich haben werden. Er sagt ihnen zu: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden”. Einen großen Trost und Seelenschatz vertraut er ihnen an, der ihnen helfen soll, über all die Traurigkeit und Ängstlichkeit nach dem Abschied und seinem Tod hinwegzukommen, dieser Schatz ist das Gebet.
Gebet – Seelenschatz und Seelentrost
Das Gebet ist das Band, das die Jünger und alle Nachfolgerinnen und Nachfolger mit Jesus und dem Vater im Himmel allezeit verbinden kann. Im Gebet steckt viel Trost und Hilfe, eine stille Freude und ein Friede, den wir Menschen nicht aus uns selbst heraus haben können. Das Gebet in seinem, in Jesu Namen ist das vollmächtige Vermächtnis Jesu, das er seinen Jüngern und auch uns als Christen in der Nachfolge ans Herz legt. In seinem Namen vertrauensvoll zu Gott, unserem himmlischen Vater, beten zu dürfen, das ist Jesu Angebot an uns, um mit ihm, unserem verstorbenen und auferstandenen Herrn, in Kontakt zu bleiben. Das Gebet ist die Quelle, durch die uns immer wieder neue Kraft zuströmt; die freie Rede, in der wir offen und ehrlich in Worte fassen können, was uns auf der Seele liegt. So wie Jesus selbst auch frei und offen mit seinem Vater geredet hat. Das Gebet in Jesu Namen – unser Seelenschatz und Seelentrost als Christinnen und Christen, unsere Hilfe und unser Halt, unser Hoffnungsanker, der uns mit Jesus verbindet. Im Gebet orientieren wir uns himmelwärts und sind gleichzeitig geerdet. Wir sehen die uns umgebende Gegenwart, rechnen aber mit einem Raum jenseits von Raum und Zeit. Zu Jesus dürfen wir im Gebet zu jeder Zeit und ohne Angst mit unseren Bitten kommen.
Gebet und Alltagsgespräche
Beten und Bitten – frei heraus. Traun wir uns das? Tun wir das? In den Alltagsgesprächen zwischen Menschen geschieht oft das, was wir alle kennen: wir formulieren die Wirklichkeit aus Scham oder Angst so um, wie wir sie gerne hätten. Wir halten mit der Wahrheit hinter dem Berg. Wer gibt schon gerne Schwächen und Fehler zu? Vor anderen Menschen wollen wir doch lieber stark und zupackend erscheinen, als Menschen, die immer alles im Griff haben. Wer kehrt im Gespräch mit anderen wirklich sein Innerstes nach außen, gibt seine Ängste und Sorgen offen zu? Hand auf’s Herz: Wer antwortet ehrlich auf die Allerweltsfrage „Na, wie geht’s?“ mit einer ehrlichen Antwort. Oft haben wir Angst, uns angreifbar zu machen, verletzlich zu zeigen, persönliche Probleme oder Befindlichkeitsstörungen offen zu bekennen, aus Angst, jemand könnte unsere Schwäche ausnutzen. So geben wir in unseren Alltagsgesprächen immer nur einen Teil von uns preis; andere Dinge behalten wir lieber für uns, machen sie mit uns selber aus.
Das Gebet zu Gott gibt uns die Chance, ehrlich vor uns selber und vor Gott zu sein. Da brauchen wir nichts zu beschönigen, mit nichts hinter dem Berg zu halten, auch nicht mit dem, was für uns vielleicht nicht besonders rühmlich ist. Beten – Gottes Einladung zur Ehrlichkeit vor uns selber. Beten – Gottes Einladung, unsere Lasten und Sorgen frei und offen, ohne falsche Scham zu benennen. Wenn sie einmal ausgesprochen sind, kann man sie auch leichter angehen. Beten – Gottes Angebot, uns vor ihm klar zu werden über unser Leben, über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, über die Wege, die wir schon gegangen sind, gerade gehen oder die noch vor uns liegen. Beten – ein großer Schatz, der durch nichts Weltliches ersetzt werden kann. Kein freundschaftliches Gespräch, auch kein therapeutisches Gespräch kann das Gebet ersetzen.
Vor Gott können wir ehrlicher, ungeschminkter reden und unser Herz ausschütten als vor irgendeinem Menschen. Vor ihm können wir im Gebet ohne Angst unser Innerstes nach außen kehren, denn er nimmt uns so an, wie wir sind, wie uns gerade zumute ist. Beten – die freie Rede vor Gottes Angesicht im Vertrauen darauf, bei ihm allezeit ein offenes Ohr zu finden. Beten – uns bergen in der Weite seiner Liebe, aus der uns Trost und Heil erwachsen kann. So wie es in einem Lied aus unserem Gesangbuch heißt: „Wenn die Last der Welt dir zu schaffen macht, hört er dein Gebet. Wenn dich Furcht befällt vor der langen Nacht, hört er dein Gebet. Wenn du kraftlos wirst und verzweifelt weinst, hört er dein Gebt. Wenn du ängstlich bist und dich selbst verneinst, hört er dein Gebt. Er hört dein Gebet. Er versteht, was sein Kind bewegt, Gott hört dein Gebet.“
Früchte des Gebets
In unserem Predigttext sagt Jesus das mit ähnlichen Worten: „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. … Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei”. Gott hört, wenn wir zu ihm rufen, wenn wir ihn bitten. Zwei Dinge sind es, die er durch das Gebet in uns schaffen will. Jesus benennt sie: es ist die Freude und es ist der Friede. „… dass eure Freude vollkommen sein“ und „… damit ihr in mir Frieden habt“, sagt Jesus in seiner Abschiedsrede im Zusammenhang mit der Kraft des Gebets. Wenn wir uns im Gespräch mit Gott von ihm bedingungslos angenommen und gehalten wissen, wird uns leichter ums Herz, dann sind unsere Probleme zwar nicht automatisch gelöst, aber wir finden mitten in unseren Sorgen neue Kraft und Phantasie, um Lösungen für unsere Probleme zu suchen. Wenn wir ruhig werden vor Gott im Gebet, durchströmt uns ein Frieden, der alles Getriebensein von uns nimmt, alle Ängstlichkeit weitet, die uns das Herz zuschnürt. Gottes Angebot zum Gebet ist eine große Chance für uns Menschen, eine Einladung, uns von ihm verwandeln zu lassen, damit unsere Traurigkeit sich wandelt in neue Hoffnung, unsere Unruhe und unser Getriebensein in einen Frieden, der unserer Seele gut tut, sie beruhigt und ihr aufhilft. So wie das der Kirchenvater Augustinus erlebt hat und in seinen sog. „Bekenntnissen“ in die Worte fasste: „… ruhelos ist unser Herz, bis es seine Ruhe hat in dir” (conf. I 1,1).
Wir brauchen diese Ruhe in Gott. Wir brauchen einen festen inneren Halt, um in der Welt bestehen zu können mit allem, was uns darin begegnet. Wir brauchen die Freude und den Frieden Gottes, um unser Leben annehmen zu können, so wie es uns gegeben ist – mit allen Höhen und Tiefen. Das gilt für uns als einzelne Menschen und als Gemeinschaft. All unser menschliches Sehnen und Hoffen, unsere Angst und unsere Freude, unsere Bitten und unsere Klagen dürfen wir vor Gott bringen – persönlich und zusammen mit anderen. Jesus will für uns eintreten. Das hat er seinen Jüngern und allen, die ihm nachfolgen, in seinen Abschiedsreden fest zugesagt, indem er sagt: „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben”. Jesus gibt seinen Nachfolgern ein Gegenwort gegen all unsere menschlichen Ängste und Sorgen mit auf den Weg, ein stärkendes und Mut machendes, tröstliches und hoffnungsvolles Wort, das auch wir heute mit uns nehmen dürfen. Jesus Christus spricht: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden”. Daran dürfen wir uns festhalten im Gebet – jederzeit und überall, in allen Lebenssituationen.