Ruhe …

Heilsame Erschütterung

Predigttext: Hebräer 4,12-13 (mit exegetischen und homiletischen Gedanken)
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 20.02.2022
Kirchenjahr: Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: Hebräer 4,12-13 (BigS: mit V 11)

Erste Gedanken beim Lesen

Ein Lied von Lothar Veit / Hildesheim klingt in mir an: „Was ist dem Menschen heilig? Der Sonntag ist es nicht …“ Und dann der Refrain: „Lebendig, am dunkelsten Ort, und kräftig, entwaffnendes Wort, und schärfer als alles, was trennt, ist Gott, der uns kennt.“

Das Wort Gottes - wie ein Skalpell. Was bedeutet es, dass Seele und Geist getrennt werden, wie auch Mark und Bein? Es entsteht in mir das Bild der fachgerechten Zubereitung eines (Opfer-) Tiers. Und was bedeutet es, dass das Wort Gottes „ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ ist? Führt uns das Wort Gottes hinter die Gedanken der Gedanken und der Sinne hinter den Sinnen? Deckt das Wort Gottes auf, was in unserem Unterbewussten tobt und drängt?

Ich lese weiter: V13 suggeriert eine Situation vor Gericht. „Vor Gericht und auf offener See sind wir in Gottes Hand“. Jedes Geschöpf erlebt sich vor dem Wort Gottes nackt und bloß. Wir können nichts verbergen vor der grellen Lampe der (kriminalistischen) Untersuchung und Befragung. Mir macht dieses Bild Angst. Will und sollte das Wort Gottes nicht trösten und aufrichten? Hier legt es uns blank. Ein Entrinnen ist nicht möglich. Das Wort Gottes - eine Ent - Täuschung?

Anmerkungen zum Predigttext

Janssen, Gottes Wort … 2012, Anm. 549: Der Hebräerbrief ist nach 13,22 ein paränetisches Schreiben, „ein Wort der Ermahnung“. Die als Brief stilisierte Schrift ist anonym. Zum Verständnis der Perikope ist ein Blick in den Kt hilfreich, der davor bewahrt, sie als dogmatische Abhandlung über das Wort Gottes misszuverstehen. Die beiden Verse 12+13 beschließen den Abschnitt (3,7-) 4,1-13 sowie den ersten Hauptteil des Hb. Thema ist die dem Gottesvolk gegebene Verheissung des „Eingehens in die Ruhe Gottes“ und die Gefahr, diese Verheissung wie die erste Wüstengeneration des Gottesvolkes zu verspielen (vgl. Hb 12,15)

Die Perikope an Sexagesimä, dem 2. Sonntag vor der Passionszeit

Der Predigttext befasst sich mit dem Wesen des Wortes Gottes. H 4,12+13 wird eingefügt in einen  großen Zusammenhang des 4. Kapitels, der von der Ruhe Gottes handelt. V11 ruft dazu auf, zu dieser Ruhe zu kommen. Erinnerungen an Josua, der die Israeliten in das gelobte Land geführt hat, in die „Ruhe“, wachen auf. Vielleicht will der Verfasser eine müde gewordene Christen-gemeinde ermahnen oder ermutigen, auf das „Wort“ heute zu hören und nicht das Herz zu verstocken (V7). Erinnerungen werden wach an das „Wort“, durch das die Welt geschaffen wurde, aber auch an das Wort, das „am Anfang“ war, wie es Joh Ev schreibt.

Nach der Zeit, in der wir über die Menschwerdung Gottes nachgedacht haben und vor der Zeit, in der wir über das Leiden und den Tod Gottes nachdenken, steht eine Zwischenzeit, in der wir über das „Wort“ nachdenken - verbunden mit der Frage, ob wir uns diesem „Wort“ wirklich stellen wollen. Seine Wirkung ist ähnlich wie bei der Operation eines Menschen: das Skalpell trennt Strukturen im menschlichen Körper, damit der Patient wieder gesund wird. Jede Operation ist Not-wendig und geschieht nicht zum Spaß. Der Patient ist dem Operateur ausgeliefert. Er kann sich (dann) nicht mehr wehren. Geschieht die Operation, muss er darauf vertrauen, dass alles gut wird. Wichtig ist, dass krankhaftes Material entfernt wird. Bei einem solchen Eingriff geht es (immer) um Tod und Leben. Gibt es dieses Risiko auch bei dem „Wort“?

Das Ziel ist es, dass wir in die „Ruhe“ eingehen. Das hebräische Wort menuchah bedeutet eine Ruhe, die eine Erholung, ein Sich-niederlassen, eine Geborgenheit ist. Der Text ermutigt müde und desinteressierte Menschen, verantwortlich zu leben und zu handeln. Damit schließt der Predigttext. Wie können wir in der Predigt für Verantwortung begeistern, dass wir uns gerne dieser „Operation“ durch das Wort Gottes unterziehen? Dient es doch unserer Heilung, und dass wir eine Ruhe finden, die uns gelassen, kreativ und - leicht macht.

Credo

EG 525/526 D. Bonhoeffers „Glaubensbekenntnis“

Literatur

Martin Luther, Hebräerbriefvorlesung, zur Stelle, Leipzig 1930.-
Theologisches Begriffslexikon, hg. von Lothar Coenen, Wuppertal 3. Aufl. 1972.-
Heinz Janssen, Gottes Wort und Menschenwort, Saarbrücken 2012.

zurück zum Textanfang

Wer von uns kennt nicht den Satz: Ich will endlich meine Ruhe haben! Oder auch: Könnt Ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen! Manchmal kommt es mir so vor, als ob gerade in unseren jetzigen Zeiten das Bedürfnis nach Ruhe größer geworden ist. Wobei sich die Ruhe heute verbindet mit der Angst. Der Angst vor Ansteckung. Also: Lasst mich alle in Ruhe! Wir können uns später treffen, wenn die Luft Viren-rein ist.

I.

Was wollen wir, wenn wir Ruhe wollen? Ruhe ist ist doch eine Zeit, in der wir entspannen, aufatmen, oder einfach etwas tun, was wir tun wollen. Ohne dass uns jemand dreinredet. Ich will meine Ruhe haben! signalisiert, dass ich wieder ins Lot kommen möchte. Ich habe keine Lust auf Stress, auf Aufgaben, auf Menschen, auf Anforderungen. Ruhe kann bedeuten, einfach dazusitzen, nichts tun oder sich treiben lassen.

Sicherlich will sich die Ruhe mit all dem anderen auch abwechseln. Nur Ruhe zu haben kann langweilig werden. Aber nie Ruhe zu haben, nie ruhig zu werden, führt zu Hektik, Rastlosigkeit und Unzufriedenheit. Zufriedenheit hängt mit Ruhe zusammen. Also ist der Satz „Ich will meine Ruhe haben!“ nicht unbedingt gegen einen Menschen gerichtet, sondern in erster Linie an sich selbst, um die Welt, die Menschen, die wahren Aufgaben besser wahrnehmen zu können. Und dazu ist es manchmal gut, auszuruhen und absichtslos aus dem Fenster zu gucken …

Der Predigttext, der uns heute vorgelegt ist, ist angefügt an eine lange Ausführung über die Ruhe. Und ich habe den letzten Vers mit in unsere Gedanken eingefügt, weil die Ruhe durch unseren Predigttext eine neue Farbe und Bedeutung erhält, wie wir sehen werden. Ich lese aus dem Hebräerbrief Kap. 4, den Vers 11:

Wir wollen uns nun beeilen, hineinzugehen in jene (schöpferische) Ruhe/Erholung, damit nicht irgendeiner nach diesem Beispiel dem Ungehorsam/Unfügsamkeit  (Mangel an Vertrauen) verfällt.

Denn – und nun folgen die beiden Verse unseres Predigttextes – denn lebendig (ist) das Wort  Gottes und wirksam und „durchschneidender“ als jedes zweischneidige (Schlacht-) Messer und durchdringend bis zur Scheidung von Seele (Psyche) und Geist (pneuma), von Gelenken wie auch Mark, und urteilsfähig von Erwägungen und Denkarten des Herzens;
und kein Geschöpf ist verborgen vor ihm, alles aber (ist) nackt und frei-/bloßgelegt (vor) seinen Augen, vor dem wir uns zu verantworten haben.

II.

Wir sehen also die Ruhe und Geborgenheit vor uns und wollen nichts lieber, als in sie einzugehen. „Endlich Ruhe!“ „Endlich nur sein, dasein, für sich sein!“ Doch dann kommen zwei Verse – im Griechischen ist es EIN langer, kunstvoller Satz, in dem es zischt und knallt; in dem von Ruhe nichts zu spüren ist. Der Verfasser spricht vom Wort Gottes. Wenn wir vom Wort Gottes hören, dann mag sich bei uns eine wohlige Wärme ausbreiten. Denn das Wort Gottes ist gut, aufbauend. Das Wort Gottes sind die Gleichnisse Jesu. Das Wort Gottes sind die Reden der Propheten, sind die Psalmen. Das Wort Gottes sind unsere Gesangbuchlieder, die wir mögen und in denen wir uns wiederfinden. Aber die Verse 12 und 13 des 4. Kapitels im Hebräerbrief reden eine andere Sprache. Das Wort Gottes ist lebendig. Es lebt und schafft Leben. Bis hierher folgen wir gerne dem Autor. Auch darin folgen wir gerne dem Verfasser, dass das Wort Gottes Energie ist. Immerhin hat Gott die Welt durch das Wort „Es werde!“ geschaffen.

Doch dann: Das Wort Gottes ist „schneidender“ – so im griechischen Urtext – als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenken wie auch Mark. Es wirkt wie ein Seziermesser, das der Chirurg führt. Das Wort Gottes wie ein Operation. Doch gibt es eine Operation, die nur zum Vergnügen durchgeführt wird? Eine Operation ist Not-wendig, wenn konservative Therapien nicht mehr helfen. Das Wort Gottes ist also für den Notfall bestimmt. Es will uns ins Leben retten. Will uns vor einem nagenden Krebs bewahren. Will herausschneiden, was uns vergiftet und kränkt. So deutlich habe ich das Wort Gottes bisher nicht verstanden! Das Wort Gottes – ein Seziermesser auch von verborgenen, heimlichen Gedanken und dem, was wir so im Sinne haben.

Das Wort Gottes als Psycho-Analytiker, dem wir uns anvertrauen, sodass vor ihm nichts mehr verborgen ist, sondern „alles nackt und freigelegt/bloßgelegt (vor) seinen Augen“ ist? Schutzlos vor dem Wort Gottes? Fühlten sich nicht auch Adam und Eva nackt und schutzlos vor Gott? Wer könnte sich überhaupt vor Gott, vor Seinem Wort schützen? In der Schöpfungsgeschichte kleidet Gott die Menschen, er schützt sie vor ihm.

III.

In unserem Predigttext betreibt das Wort Gottes eine Psycho – Analyse, durch die wir fähig werden, uns vor ihm zu verantworten. Denn das können wir mit unserem „normalen“ Leben, Handeln und Tun nicht. Das Wort Gottes hilft uns, uns klar zu werden über das, was in uns ist, was uns treibt, was uns bewegt. Das scheint mir die Botschaft unseres Predigttextes zu sein.

Was bedeutet das konkret? Gott will, dass wir ihn einlassen in uns, in unser Reden, Denken, Tun. Er will, dass wir sein Wort hören. Damit haben wir ein Grundanliegen des hebräischen Glaubensbekenntnisses verstanden: „Höre, Israel!“ (5 Mose 6,4) Im Hören entsteht das Gespräch. Auch unter uns Menschen führt das Hören zu echtem Kontakt und zu wahrer Begegnung. Wie viel mehr mit Gott! Wir Menschen nehmen beim Anderen doch auch Schwingungen wahr, Unstimmigkeiten oder auch Harmonie. Wir alle haben feine Sensoren dafür, was der Andere verschweigt – ohne immer zu wissen, worum es geht.

Und so auch das Wort Gottes: Es will, dass wir uns verstehen, wir die Menschen untereinander und wir im Gespräch mit Gott. Das Wort Gottes wirkt wie das Wort des Propheten Nathan an den König David, als er seinen Ehebruch mit Bathsheba verschweigen wollte und Nathan ihm die Geschichte von dem Hirten mit seinem einzigen Schäfchen erzählte, das ein Hoher Herr einfach nahm und schlachtete. Und wie David wegen dieses Verbrechens wütend wurde. Und der Prophet ihm zumutete: Du bist der Mann (2 Sam 12,7)!

Eine solche heilsame Erschütterung mutet uns das Wort Gottes zu, damit wir zu den Menschen werden, die Gott gewollt hat, Menschen, die das Hören (wieder) lernen. Und damit ist das Hören auf das Wort Gottes ebenso gemeint wie das Hören auf das Wort unseres Nächsten. Gott ermutigt uns, Sein Wort aufzunehmen, wie fruchtbarer Boden Saatgut aufnimmt. So kann Getreide aufwachsen – wie es im heutigen Evangelium vom Sämann erzählt wird. So kann das Wort Gottes Wirkung zeigen und verkommt nicht zu einer frommen Floskel. Das Wort Gottes will das Leben. Es will unsere Kreativität, unsere Freude. Es will ein tägliches „Es werde licht!“ – selbstverständlich klein geschrieben!

Das Wort Gottes ermutigt uns, gegen die geistige Verwirrung unserer Zeit anzugehen. Es will der Dunkelheit, der Einsamkeit, dem Rückzug entgegentreten. Und dazu braucht es uns Christen. Gott braucht uns Menschen, damit wir zu Menschen werden. Und wir Menschen brauchen uns. So können wir zur Ruhe kommen und einen Raum betreten, in dem Neues wachsen kann und will. Gott sei Dank!

zurück zum Textanfang

Ein Kommentar zu “Ruhe …

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Nach der sehr kreativen und originellen Predigtvorarbeit ist die Konsequenz, dass wir eine Ruhe finden sollen, die uns gelassen und kreativ macht. Lasst mich in Ruhe ! Diese Worte sind heute aktuell wegen der verbreiteten Angst vor Ansteckung. Sehr plastisch wird das in der Predigt aufgenommen.Endlich ruhig sein, nur mal nur sein. Durch das Wort Gottes in der Bibel, besonders durch Jesu Worte und die der Propheten und Psalmen, können wir heilsame innere Ruhe finden. ( Als Seelsorger empfehle ich besonders auch , Gesangbuchlieder wie die von Paul Gerhardt vor sich her zu singen, um heilende Ruhe zu finden. )- Die Worte aus dem Predigttext sind aber auch seelische Seziermesser, damit wir uns klar werden über uns. So klärte der Prophet Nathan mit solchen Worten David über seine große Sünde auf. Gott schenkt uns mit Worten heilsame Erschütterungen , aber auch Ermutigungen. Damit ist der Text in der heutigen verwirrenden Zeit sehr bedenkenswert und aktuell.

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.