Schmerzlicher Verlust
Nichts ist mehr wie bisher
Predigttext: Lukas 7,11-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
11 Und es begab sich danach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. 12 Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. 13 Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! 14 Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! 15 Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. 16 Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. 17 Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land.
Homiletische und exegetische Vorüberlegungen
Die Stadt Nain kommt nur hier in der Bibel vor. Nain liegt in der Nähe von Schunem, nicht weit von Nazareth. Mit Schunem ist eine Parallele zu der Totenauferweckung des Sohnes der Schunemiterin gezogen, die der Prophet Elisa vollbringt (2. Kön. 4,32-37). Wichtiger ist die Lokalisierung der Auferweckung am Stadttor. Am Stadttor wird Recht gesprochen. Es wird wahrscheinlich eine Erzählung folgen, in der Menschen zu ihrem Recht kommen. Die Geschichte von der Totenauferweckung ist keine Sensationsgeschichte, sondern sie bezeugt Jesu vollmächtiges Handeln. Mit Jesus bricht die Gottesherrschaft an. Die Totenauferweckung ist ein Zeichen, dass es beim Tod nicht bleiben wird; dass das Leben den Tod letztlich überwindet. Leben wird beiden zugedacht: dem Sohn und der Mutter.
Gottes Erbarmen steht im Mittelpunkt. Es geht nicht um eine individualistische Deutung: dieser Mutter, diesem Sohn wird Leben geschenkt. Es geht um Gottes heilsgeschichtliches Handeln. Die Weihnachtsbotschaft leuchtet auf: Gott hat sein Volk besucht. Jesus sieht die Not; er verheißt denen die Seligkeit, die Leid tragen, die nach der Gerechtigkeit dürsten, die Barmherzigkeit üben. Furcht ergreift die Menge als sie die Auferweckung mit erleben. Gottes Eingreifen löst Angst aus, wandelt sich aber in große Freude. Die Menge preist Gott für den großen Propheten, der unter ihnen aufgestanden ist.
Der 16. Sonntag nach Trinitatis liegt Ostern gegenüber. Er thematisiert den Themenkomplex Tod und Auferstehung. Der Wochenspruch aus 2. Tim 1,10 wird am Grab gesprochen. Die ersttestamentliche Lesung Klagelieder 3,22 verweist auf die Barmherzigkeit Gottes, die dem heilsgeschichtlichen Handeln vorausgeht.
Die Geschichte müsste eigentlich heißen: “Die verwaiste Witwe”, denn es geht in diesem Bibelabschnitt in erster Linie um die Witwe und nicht, wie die Überschrift vermuten lässt, um den Jüngling, der von den Toten aufersteht. Die Auferweckungsgeschichte springt zunächst ins Auge. Wie ist das möglich, dass einer, der schon tot ist, wieder lebendig wird? Das kann doch niemand glauben, dass so etwas geschehen ist. Selbst wir als Christinnen und Christen, die Jesus wohl gesonnen sind, haben da unsere Schwierigkeiten. Wir haben grundsätzlich Schwierigkeiten mit Jesu Wundertaten und Heilungen, erst recht mit einer Auferweckung. Diese Schwierigkeiten hatten Menschen in der Antike nicht. Es geht weniger um das Wunder selbst, als vielmehr um denjenigen, der es vollbringt. Die Wunder sind ein Hinweis auf die besondere Macht des Vollbringers. Jesus ist der Sohn Gottes, der wie Gott Macht über Leben und Tod hat. Wenn Jesus Tote auferweckt, so weist er sich als der verheißene Messias aus, auf dem sein Volk seit Jahrhunderten wartet. Drei Auferweckungen überliefert die Bibel, die Jesus vollzogen haben soll: die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-45), die Auferweckung des Jairus Töchterlein (Mk 5,22-43) und die Auferweckung des Jüngling von Nain.
Gleich nach der Auferweckungsgeschichte des Jüngling von Nain positioniert Lukas die Anfrage des Johannes des Täufers nach dem verheißenen Messias. Johannes sitzt im Gefängnis, er sendet zwei seiner Jünger zu Jesus mit der Anfrage: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Jesus antwortet indirekt: “Geht zu Johannes und sagt ihm, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium verkündet (Lk 7,22)”. „Tote stehen auf“: Das kann nur ein Gottessohn bewirken. Dass Jesus aus Gottes Macht handelt, daran zweifelt niemand. Einmütig preisen alle, die das Wunder miterlebt haben, Jesus als den großen Propheten, durch den Gott aus dem Himmel auf die Erde gekommen ist. “Gott hat sein Volk besucht”, bekunden sie zuerst ängstlich, dann aber ehrfürchtig und aus voller Überzeugung. Der Himmel tut sich auf: Gott besucht sein Volk. Zacharias preist in seinem Lobgesang den Gott Israels, der sein Volk besucht und es erlöst ( vgl. Lk 1,68). Jesus erweckt den toten Jüngling zum Leben. Mit diesem Erweckungswunder steht Jesus in der ersttestamentlichen Tradition der Totenerweckungen. Beide Propheten Elia (1. Kön. 17,17-24) und Elisa (2. Kön 4,32-37) erwecken einen toten Sohn, einmal den Sohn einer Witwe wie in Nain und den Sohn einer Schunemiterin. Tote auferwecken kann nur ein Mensch, der von Gott kommt.
Die Szene spielt sich am Stadttor in Nain ab. Zwei Gruppen begegnen sich: Jesus mit seinen Jüngern, die in die Stadt hinein wollen und die Mutter, die aus der Stadt hinaus will, um ihren verstorbenen Sohn zu beerdigen. Trauernde begleiten die Mutter. Der Trauerzug begegnet dem Lebenszug, am Stadttor hält Jesus den Leichenzug an. Das Stadttor ist ein besonderer Ort, es trennt die Stadt von ihrem Umland, außerhalb der Stadtmauer wurden die Toten begraben. Golgatha liegt außerhalb der Stadtmauer Jerusalems. Ein Stadttor trennt die Lebenden von den Toten. Am Stadttor ist nach altorientalischer Sitte auch die Stätte, an der Gerichtsverhandlungen abgehalten werden. Hier wird Recht gesprochen. Eine Witwe, die niemanden mehr hat, die sie versorgt, ist dem Tode geweiht. Am Stadttor verhilft Jesus ihr zu ihrem Recht. Die Witwen und Waisen werden im Ersten Testament besonders geschützt, weil sie extrem gefährdet sind. Es geht in der Auferweckungsgeschichte in erster Linie um die Mutter, die Witwe ist. Es wird hervorgehoben, dass sie nur einen Sohn hat, ihren einzigen, den sie zu Grabe tragen muss. Der Verlust schmerzt. Es gibt wohl keinen schlimmeren Schmerz als den Schmerz einer Mutter, die ihr Kind verliert. Die Bezeichnung „einziger Sohn“ erhöht die Dramatik. Die Frau ist am Ende, emotional und wirtschaftlich.
Einer Frau ist es im alten Israel nicht erlaubt, für sich selber zu sorgen. Sie kann kein Eigentum erwerben; sie kann keiner Arbeit nachgehen, die ihren Lebensunterhalt sichert; sie ist nicht erbberechtigt. Eine Witwe ist in jedweder Hinsicht von ihrem Sohn abhängig. Eine Frau, die keinen Mann mehr hat, der der einzige Sohn stirbt, ist vollkommen schutzlos. Eine schlimmere Situation als die einer verwaisten Witwe ist kaum vorstellbar. Sie hat keinen Versorger, keinen Rechtsvertreter, sie ist völlig auf sich allein gestellt. Wenn sich ihrer niemand erbarmt, – und wer sollte das tun, gilt sie ihren Verwandten doch nur als eine Last – wird sie in kurzer Zeit verarmen und verelenden. Mit dem Tod ihres Sohnes ist ihr Schicksal besiegelt. Sie hat keine Aussicht auf Zukunft. Mit dem toten Sohn trägt sie sich selbst zu Grabe. Noch nehmen die Menschen Anteil. Eine große Menge begleitet sie auf ihren schweren Gang. Aber wenn die Beerdigung vorbei ist, wird die Menge sich bald wieder auflösen. Die ersten Tage werden noch welche an ihrer Seite sein, dann wird es ruhiger werden, bis schließlich niemand mehr kommt und auch keine Rücksicht nimmt. Die Leute erwarten, dass nach einer gewissen Zeit der Alltag wieder einkehren muss und dass das Leben in seinen gewohnten Bahnen verläuft. Aber so ist das nicht, nicht für eine Witwe. Für die anderen geht das Leben weiter, für sie ist nichts mehr wie bisher, wird es nie wieder werden. Es ist so, als ob eine unsichtbare Wand sie von den anderen trennt.
Jesus sieht die Mutter, lässt sich ihre Not zu Herzen gehen, greift ein, hält den Trauerzug an. Sie jammert ihn. Er hat Mitleid und Erbarmen. “Es jammerte ihn” diese Formulierung finden wir in zwei weiteren Erzählungen bei dem Evangelisten Lukas. Ein Samariter erbarmt sich über einen Fremden, der unter die Räuber gefallen ist. Der Vater erbarmt sich über seinen verlorenen Sohn, der – völlig verelendet – wieder nach Hause kommt, um sich bei seinem Vater als Knecht zu verdingen. Es jammerte ihn. Im Hebräischen ist in dem Wort “Erbarmen” (rhm) der Mutterschoß angesprochen. Es geht um das mütterliche Erbarmen Gottes, das die Witwe durch Jesus erfährt. Jesus erbarmt sich ihrer. Die Regung seines Herzens leitet die Rettung ein. “Weine nicht”, spricht er zu der Frau. Das ist keine billige Vertröstung, hier geschieht aufrichtige Anteilnahme. Jesus sieht das Leid der Mutter. “Im Weine nicht” das heißt doch: Du brauchst keine Angst zu haben. Das “Fürchtet euch nicht” der Engel auf den Feldern von Bethlehm klingt durch.
Die Verheißung aus der Offenbarung, dass Gott alle Tränen abwischen wird, wird für die Frau wahr. Jesus erweist sich als der Sohn Gottes, der das Leben bringt. Jesus hat keine Scheu vor dem Tod, er tritt an den Sarg, berührt ihn, kommt in Kontakt mit der nach jüdischem Verständnis kultisch unreinen Totenbahre. Er verunreinigt sich selbst. Die Auferweckung geschieht aber durch nicht durch die Berührung der Totenbahre, sie führt nur dazu, dass die Träger anhalten. Die Auferweckung geschieht durch die Worte: “Steh auf”. Hier erst wendet er sich dem Sohn zu. Bisher ging es ausschließlich um die Mutter. Der Jüngling richtet sich auf. Als Beleg, dass er wirklich lebt, fängt der Jüngling an zu reden. Jesus übereignet der Mutter ihren Sohn ebenso wie es einst der Prophet Elia bei dem auferweckten Sohn der Witwe von Sarepta getan hat. Mit dem Sohn wird der Mutter ihr Lebensglück und ihre Existenzgrundlage zurückgegeben. Nicht nur dem Sohn, auch der Mutter wird neues Leben geschenkt.
Die Auferweckung des Sohnes ist auch eine Auferweckung der Mutter. Die umstehende Menge preist Gott; anders als im Johannes-Evangelium kommt es nicht zur einer Spaltung (Joh 7,43). Sie streiten sich nicht darüber, aus welcher Vollmacht Jesus gehandelt: aus der Vollmacht Gottes oder des Satans. “Ein großer Prophet ist unter uns aufgestanden” lobt die Menge. Der Sohn Gottes ist in die Welt gekommen. Gott selbst besucht sein Eigentum. Er komm in die Welt, um denjenigen Recht zu schaffen, die benachteiligt sind, die im Finstern leben, denen die Lebensgrundlage entzogen ist wie bei der Witwe in Nain. Die Witwe steht stellvertretend für alle, die keine Zukunft haben. Gott hat sein Volk besucht, um es zu erlösen aus. Der Besuch Gottes gilt Israel, dann weitet er sich aus auf alle Völkern. Gott eröffnet Zukunft, schafft Recht und Gerechtigkeit. In Barmherzigkeit wendet er sich den Notleidenden zu, verhilft zu neuem Leben, schon vor dem Tod. “Steh auf”, lautet die Auferstehungsbotschaft. “Steh auf” nicht erst nach dem Tod.
Steh auf für das Leben, gegen unnatürlichen Tod.
Steh auf für Gerechtigkeit, gegen Unrecht und Machtmissbrauch.
Steh auf für Frieden, gegen Gewalt und Willkür.
Kennen Sie Auferstehungsgeschichten im eigenen Leben? Kennen Sie Auferstehungsgeschichten im Leben anderer? Wo jemand wieder Mut fasste, als er glaubte, nun sei alles aus? Wo jemand neue Hoffnung schöpfte, als alles aussichtslos erschien? Wo jemand einen Weg fand, nachdem sich lange kein Weg zeigte? Wo es für jemanden hell wurde, der zuvor nur Dunkelheit erlebte? Unser Predigttext ist eine Auferstehungsgeschichte mitten im Herbst. Der Herbst führt uns die Vergänglichkeit vor Augen. Der heutige Sonntag mit dem Schwerpunkt Auferstehung steht dem Osterfest im Kirchenjahr gegenüber. Angesichts von Sterben und Tod vergewissern wir uns, dass es beim Tod nicht bleiben wird, denn Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat (2. Tim 1,10b). „Bist du es, der da kommen soll oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Sagt allen, was ihr gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.
Jesus Christus,
mit dir will ich aufstehen
gegen Armut und Elend,
gegen Leiden und Unbarmherzigkeit,
gegen Zweifel und Resignation,
gegen Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit,
gegen Unterdrückung und Zwang.
Jesus, mit dir will ich aufstehen
für alles, was das Leben fördert.
Sei du mit mir, damit ich aufstehe mit dir.
Eine frohmachende “Oster-Predigt” formuliert Pfarrerin Borchers über die Toten-Erweckung des Jünglings zu Nain. Denn der 16.Sonntag nach Trinitatis liegt für sie Ostern gegenüber. Sehr eindringlich, mitreissend und mit schönem Redefluss bringt sie den Text nahe. Schon bei der Einleitung stellt sie gegen Zweifel klar, dass Jesus wie Gott auch Macht hat über den Tod. Dann wendet sie sich der Szene in Nain zu: Der Trauerzug mit dem toten Sohn auf der Bahre begegnet dem Zug des Lebens mit Jesus und seinen Jüngern. Selten eindringlich schildert sie den Schmerz der verwaisten Mutter. Selten informativ berichtet sie dann aber auch über die Situation einer Mutter, welche damals ihren einzigen Sohn verloren hat, den einzigen Versorger und Ernährer, Rechtsvertreter und Beschützer. Sie hat keine Aussicht auf Zukunft. Hunger und Elend, Gewalt und früher Tod drohen ihr. Jesus erbarmt sich ihrer. Wie bei der schönsten Verheißung der Bibel in Offenbarung 21 wischt er schon jetzt ihre Tränen ab. Das Wichtigste – zum Jüngling sagt er: Steh auf! Es geht um Emanzipation, Aufstehen, Auferstehung, Befreiung des Sohnes und der Mutter zu neuem und hoffnungsvollen Leben. Zum schönen Schluss fragt die Pfarrerin die Hörenden, ob sie selbst Auferstehungs- und Heilungs – und Hoffnungs-Geschichten in ihrem Leben kennen. Sie schließt mit einem schönen Gedicht. – Eine begeisternde Predigt. – An der Basis haben Predigerinnen und Prediger erfahrungsgemäß mit den drei Totenerweckungen und der Auferstehung Jesu im Gespräch viele Schwierigkeiten, wie auch die Autorin zu Beginn feststellt. E. Drewermanns psychologische Auslegung ist erfahrungsgemäß dabei eine ganz große Hilfe. Wahrscheinlich hat die Mutter ihren einzigen Sohn und ihre einzige Hoffnung so geklasmmert, dass ihm die Luft zum eigenen Leben, zur Entfaltung und Partnerin-Suche erstickte und er sich einfach total depressiv hoffnungslos tot hinlegte. Jesus sagt ihm deshalb: Steh auf! Und: Er gibt ihn seiner Mutter wieder. Mit neuem Lebensstil werden sie beide leben! – Unabhängig von Drewermann eine begeisternde Predigt, die man sich gern ausdruckt.