Schnur, die nicht zerreißt
Eine Geschichte voller Hintersinn und Witz, voller Glück und Tiefe
Markus 12,28-43
Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5.Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Hinführung zum Predigttext
Sowenig – wie zu befürchten ist - in den im Ferienmodus befindlichen Pfarreien der Israelsonntag am 10. nach Trinitatis als solcher gefeiert werden mag, soviel liegt an Variationsmöglichkeiten vor. Bei gleichem Wochenspruch kann der Akzent gelegt werden auf „Israel und die Kirche“ (begleitet von grünem Parament) – dazu gehört eben Mk 12, 28-34.
Oder auf „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ (mit violettem) in mehr oder weniger hilfreichem oder solidarischem Bezug zum großen jüdischen Feiertag Tischa bAv, dem 9. Tag im Monat Av, an dem der Zerstörung beider Tempel, aber auch anderer Unglücke gedacht wird, etwa des unglücklichen Endes des Bar-Kochba-Aufstandes oder der Deportationen aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka.
Möge die Tradition hässlichen christlichen Triumphes wegen vermeintlicher Strafe Gottes und angeblicher Aufkündigung des Bundes zu diesem und jedem anderen Tag endgültig zu Ende gekommen sein. Obwohl der vorliegende Abschnitt auch bisher schon bei Predigten zum Israelsonntag zugrunde gelegt wurde, war er bis zur Perikopenrevision Teil der Predigtordnung am 18. Sonntag nach Trinitatis, wo es um Gebote und bzw. Gebote zur Nächstenliebe geht.
Der Frage, ob und wie die biblischen Bezüge des Israelsonntags in Ferien- und Vertretungszeiten überhaupt aufgegriffen werden können, schließt sich als nächste die Frage der Rezeption an. Wird Antisemitismus und Antijudaismus auch in der Öffentlichkeit oder gezielt an den Evangelischen Akademien verhandelt, so ist das Bewusstsein des christlichen Beitrags (Klaus Müller: Antijudaismus als christlicher Antisemitismus) in den Gemeinden schätzungsweise eher gering.
Das historische Wissen, ob etwa die eigene Gemeinde mehrheitlich den Deutschen Christen angehörte, ist nur marginal. Die Arbeit daran lässt sich wohl nur als langsames Bohren harter Bretter verstehen. Eine eher zufällig zusammengekommene Gemeinde, vielleicht vor allem bestimmt durch Trau-, Tauf- und vor allem Bestattungsabkündigung soll ja nicht nur irritiert werden.
Der Predigttext selbst ist zunächst geprägt von Einverständnis und Gemeinschaft. Wie lässt sich solche vermitteln und nicht etwa zerstört liegen gelassen? Zu den eher subtilen Verweisen im Text findet sich Material in Bernd Schröders Predigtmeditation (Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe 1, Berlin 2018):
Die „Kaskade von Infragestellungen Jesu“ zwischen Mk 11,27 und 12,28 und ihr Abschluss im Predigttext. Die dezidierte „Erweiterung im Gebot der Gottesliebe (durch) ein viertes Element“ von etwas Verstandesmäßigem. Parallelen etwa bei Philo oder im Talmud. Wichtig in Bezug auf die Homiletik sind seine Warnung vor einer Rückprojektion eindeutig erkennbarer jüdischer sowie klar getrennter christlicher und jüdischer Positionen in die biblische Zeit. Und sein Hinweis auf oft unbekannte heutige jüdische Kontexte wie die „Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum“ von 2015.
Die Gestaltung des 10. Sonntags nach Trinitatis sollte auf alle Fälle verstanden werden im Sinne der Charta Oecumenica, bei der evangelischen und katholischen Christen Europas ausdrücklich ans Herz gelegt wird (Pkt 10), die „Gemeinschaft mit dem Judentum (zu) vertiefen“.
Die Evang. Landeskirche in Baden hat die Charta unterzeichnet. Der 10. Sonntag nach Trinitatis bietet durchaus Gelegenheit, Dokumente (oder Teile davon) wie die Charta Oecumenica oder die Erklärung orthodoxer Rabbiner auszulegen und ihre Rezeption zu befördern.
Lieder
"Die güldne Sonne" (EG 449)
"Lobet und preiset, ihr Völker (!), den Herrn" (337)
"Nun danket Gott" (290)
"Wohl denen, die da wandeln" (295)
Besonders in Abendmahlsgottesdiensten: Credolied von Gerhard Bauer: „Wir glauben, Gott ist in der Welt“ auf die Melodie des Credoliedes 184 (Aus: Wo wir dich loben wachsen neue Lieder, 167)
Höhere Mathematik
Kürzlich hat mir mein Mann ein Interview vorgelesen, ein Gespräch zwischen einem Mathematiker und einem Spiegelreporter. Das Interview beginnt damit, dass der Reporter dem Mathematiker einen Witz erzählt, einen speziellen Mathematikerwitz. Er geht so: Stehen zwei Mathematiker vor dem Hörsaal. Kommt eine Studentin raus. Kommt noch ein Student raus. Geht ein Student rein. Sagt der eine Mathematiker zum andern: „Wenn jetzt noch jemand rein geht, ist der Hörsaal leer.“ Hmh? Verstanden? Natürlich ist der Hörsaal nicht leer. Nur wenn man es eben rein mathematisch betrachtet, was die beiden Hochschullehrer da sehen: Minus eins und minus eins gleich minus zwei. Plus eins gleich minus eins. Und wenn jetzt noch einer dazukommt, dann geht die Rechnung auf: ist gleich Null. Null Student: dann ist der Hörsaal leer. Aaah!
Ein Witz also über Mathematiker, die so in ihren Zahlen und Dimensionen leben, dass sie die Alltagswelt gar nicht nachvollziehen können. Der berühmte Mathematikprofessor aber hat den Witz nicht verstanden und musste ihn sich erst erklären lassen. Witze zu erklären, hat meistens etwas Schales an sich. Aber hin und wieder kommt man nicht drum rum. Hin und wieder sind Witze so fein gestrickt, dass man sie erklärt bekommen muss, um sie genießen zu können. Ein bisschen wie mit den Witzen geht es mir mit dem heutigen Predigtabschnitt.
Eine wunderbare Geschichte. Eine Geschichte voller Witz und Hintersinn, voller Glück und Tiefe. Und mir liegt soviel daran, dass sie das mit mir genießen können, dass ich doch ein bisschen erkläre. Gespräch mit dem Schriftgelehrten Oberflächlich hören wir ein Gespräch zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten. Einem anderen Schriftgelehrten, muss man sagen. Denn Jesus hat bei seinem ganzen öffentlichen Auftreten, wenn er nicht gerade jemanden heilte oder irgendwo zu Besuch war und es sich gut gehen ließ beim Essen, wenn er nicht grade schlief oder wanderte, überall sonst hat Jesus die Schrift, die Bibel ausgelegt. Hat gelehrt. War ein Schriftgelehrter. Sprach über all die Bücher, die wir Christen das Alte Testament nennen.
Weil Jesus in seinen Predigten über Gott sich immer auf die Bibel bezog, deshalb ist unser Neues Testament gespickt mit Zitaten aus dem ersten Teil, gespickt mit Satzstücken des Alten Testaments, mit Hinweisen auf Geschichten, Gespräche, Personen. So ist das Neue Testament also wesentlich Predigt über das AT, ist Auslegung der Heiligen Schrift – wie Jesus sie kannte und lehrte. Auch der Abschnitt für heute.
Streit um Auslegung
Wenn wir unsere Schriftstelle, ein Stück aus dem 12. Kapitels des Markusevangeliums, nicht nur hören, sondern nachlesen würden im Neuen Testament und uns auch die Sätze drum herum ansähen, dann würden wir feststellen, dass hier ein Abschluss vorliegt. Der Abschluss nach einer ganzen Reihe von Streitgesprächen. Und zwar Streitgesprächen in Jerusalem. Wohin Jesus wegen des Passafestes gekommen ist. Noch genauer: es sind Streitgespräche im Tempel. (In Klammer gesagt: Jesus hat da nicht mehr lange zu leben. Der Evangelist, der das Evangelium schreibt, weiß das natürlich. Eine christliche Gemeinde, die öfters das Evangelium hört, natürlich auch. Nur jemand, der die Stelle zum ersten Mal liest, weiß das vielleicht nicht.) Kurz vor Jesu Tod und Auferstehung erleben wir Streit. Streit im Tempel.
Streit um die Schrift
Streit um die Auslegung. Alle möglichen Leute sind beteiligt: Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste zuerst (11,27). Dann einige von den Pharisäern und von den Anhängern des Herodes (12, 13). Und schließlich Sadduzäer, also Leute aus der Oberschicht, die sich Auferstehung keinesfalls vorstellen können. Das höchste Gebot Und nachdem so viel diskutiert wurde und Jesus jedes Mal anderer Meinung ist, den Sadduzäern auch sagt: Ihr irrt! Ihr denkt falsch, ihr ohne Auferstehungshoffnung (das wird natürlich für Jesus noch ganz, ganz wichtig!), nach all den Diskussionen, nach all dem Streit, tritt zu ihm einer der Schriftgelehrten, der zugehört hatte! Zugehört: also nicht mitgestritten. Nicht laut geworden. Zugehört hat er! Jesus hat auf ihn Eindruck gemacht mit seinen Antworten. Vielleicht will er von Jesus so etwas wie persönliche Meinung hören. Zum Abschluss. Und fragt: Welches ist das höchste Gebot?
Nun gibt es zur Zeit Jesu sogar Diskussionen darüber, ob man so überhaupt fragen darf. Aber der Schriftgelehrte tut es. Und Jesus gibt ihm eine Antwort. Eine Doppelantwort. Mit einem Zitat aus der Schrift, aus der Thora. Wir würden sagen: aus den Mosebüchern. Zuerst zitiert er das „Schma“. Es heißt so, weil „Schma“ das erste hebräische Wort davon ist. Schma heißt: „Höre!“ Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein. Schma Israel, adonei elohenu, adonai ächad. Vielleicht sollte man auch übersetzen: der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Aber wie auch immer. In der Schrift geht es weiter und heißt: Und du, Israel, sollst den Herrn, deinen Gott lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft (5. Mose/ Deut 6,5). Jesus setzt diesmal mit dazu, legt die Stelle noch aus mit der Anmerkung „von ganzem Gemüt“.
Das Schma ist eine Art Glaubensbekenntnis des Judentums. Ein Wort des Unterschieds etwa zur römischen Welt. Der Herr ist unser Gott. Der Herr ist einer. Das „Gemüt“ Als Markus sein Evangelium geschrieben hat, lag der furchtbare Krieg der Römer gegen die Juden grade zurück oder er war noch im Gang. Und vermutlich gab es Tausende von Kämpfern, aber auch von Gefolterten und Hingerichteten, die mit dem Schma auf den Lippen in den Tod gegangen sind. Von ganzer Seele, mit aller Kraft: Vielleicht denkt der Evangelist da schon an den Foltertod Jesu. Wie Jesus in den Tod geht, weil er an Gott hängt mit aller Kraft, von ganzer Seele, mit ganzem Gemüt. Beim Evangelisten Johannes heißt es: Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben lässt für seine Freunde.
Der Evangelist Markus setzt im Wort Jesu den Akzent: nichts größeres als der, der sich an Gott hält bis zum letzten Atemzug. Was aber meint nun Jesus, wenn er das Bibelzitat auslegt, indem er auch das Gemüt dazu nimmt? Gemüt hört sich ja fast an wie „gemütlich“. Aber das Wort, das hier in der Lutherübersetzung mit „Gemüt“ das Griechische des Neuen Testament übersetzt, hat eher mit Verstand zu tun. Nicht mit „gemütlich“.
Jesus sagt damit: Man darf ruhig den Verstand und einen guten, klugen, nachdenklichen Kopf mit dazunehmen, wenn man an Gott denkt. Er meint nicht, es sich gemütlich zu machen. Der Schriftgelehrte nimmt das Jesuswort auf, bestätigt es, alle hören es nochmal auch aus seinem Mund, was Jesus Gutes und Kluges gesagt hat. Mit Herz und Verstand, mit aller Kraft – Gott lieben! Und den Nächsten! Denn neben die Gottesliebe stellen Jesus und der Schriftgelehrte die Liebe zum Nächsten. Eine Doppelspitze der Gebote. Ein Doppelgipfel der Schriftgelehrtheit.
Für Jesus und den Schriftgelehrten zwischen all den anderen Streithähnen gilt das biblische Sprichwort (Prediger 4,12): Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen. Und eine dreifache Schnur reißt nicht entzwei. Die geschriebene Thora und ihre doppelte Auslegung: ein festes Band! Es sei noch mal erinnert: Beim Evangelisten spielt die Szene im Tempelhof! Und es sei gleichfalls erinnert: Als der Evangelist schreibt, ist der Tempel vermutlich schon zerstört. Wie die Leute in Qumran stand wohl auch Jesus kritisch zum Tempel. Der Schriftgelehrte ist mit ihm da offenbar einig.
Der Schriftgelehrte ist es, der in der Linie der Propheten Brand- und Schlachtopfern allenfalls zweite Priorität einräumt. Seid getrost Die Zeitgenossen des Evangelisten aber hören damit zugleich die Botschaft: Seid getrost. Habt keine Angst. Der Tempel ist verloren durch die Römer. Der Ort, an den Gott sich so lange gebunden hat, ist zerstört. Aber Schriftgelehrte und Jesusleute, das dürft ihr wissen, sind sich einig: Es geht auch ohne die Opfer. Denn was ist das höchste Gebot? Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein. (Nicht die Römer, nicht einmal nach ihrem Sieg). Und du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit wachem Verstand und mit all deiner Kraft. Und: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Es bleibt auch nach all der Zerstörung die Schrift in Kraft! Gottes Geschenk bleibt bestehen. Es bleibt in Kraft das Lernen und Wirken und Tun – deine Entscheidung. Das liegt bei dir: Antwort auf die Gabe Gottes. Im Predigtabschnitt heißt es am Ende: Niemand wagte mehr, ihn zu fragen. Wo es doch vorher so lange hin und her ging. Das aber ist das letzte Wort. Einer mag überwältigt werden. Zwei können widerstehen. Eine dreifache Schnur reißt nicht entzwei.
Unser Abschnitt: eine Geschichte voller Hintersinn und Witz, voller Glück und Tiefe. Voller Zuspruch und Anspruch. Voller Trost und Auftrag. Zugegeben: ich habe viel erklärt. Ich wünsche mir so, dass Sie die Geschichte mit mir genießen können. Heute am Israelsonntag, der gewidmet ist der Nähe zwischen Christen und Juden. Am Israelsonntag in der Nähe des jüdischen Feiertags (Tischa bAv), der der Tempelzerstörung gedacht hat – dieses Jahr am 11. August. Gottes Gabe, sein Wort und die doppelte Auslegung, die in all ihren Facetten spricht von der Liebe zu Gott und den Nächsten. Ein unzerstörbares Band. Eine Schnur, die nicht zerreißt.
Der Friede Gottes, höher als alle Vernunft (aber nicht ohne!), bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
In der Einführung gibt die Predigerin die Möglichkeit, über den „Israelsonntag“ nachzudenken. Ihr Angebot: sich z.B. mit der Charta Oecoumenica auseinanderzusetzen, um sich klar zu werden über die eigene Haltung zu „Israel und Kirche“. Und dann beginnt und schließt sie ihre Predigt mit einem Witz. Denn auch der Predigttext von der Frage nach dem höchsten Gebot ist „eine Geschichte voller Hintersinn und Witz“. Sie lädt uns ein, nachzudenken, zu lachen und zu verstehen, was Jesus meint. Interessant ihre Bewertung Jesu als Schriftgelehrter, der mit seinen „Gegnern“ schlagfertig – und eben auch witzig umgegangen ist. Als ob erst dann ein wirkliches Gespräch stattfinden könne. Und wie kann man auch sonst über das Doppelgebot der Liebe sprechen? Das Wichtigste für die Predigerin ist aber, dass wir diese Episode zwischen Jesus und dem (anderen) Schriftgelehrten „genießen“. Welches Ziel sollte eine Predigt sonst haben, als die biblischen Texte zu genießen?