Schreiende Steine
Glaube bedeutet nicht das Einhalten von Vorschriften, er bedeutet Wachen, spontane Aktionen, Freude und Gotteslob
Predigttext: Lukas 19,37-40 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Und als [Jesus] schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.
Steine zeichnen sich nur durch ihr beredtes, nachhaltiges Schweigen aus, oder nicht? Um mit dem Herzen zu verstehen, daß Steine sprechen, singen und sogar – wie Jesus sagt – schreien können, nehmen wir einen kleinen Umweg. Ich erzähle Ihnen von dem französischen Architekten Fernand Pouillon, geboren 1912, aufgewachsen in Südfrankreich. Er studierte in Paris und baute in Marseille, in Aix-en-Provence und in Algerien, damals französische Kolonie. Einige Jahre lang engagierte er sich als Kommunist, dann wandte er sich wieder der Architektur zu. In einem aufsehenerregenden Prozeß wurde er zu vier Jahren Haft verurteilt, und es sollte Jahre dauern, bis Pouillon vollständig rehabilitiert wurde. Während er seine Flucht plante, notierte der Architekt seinen einzigen Roman, der auf Deutsch „Singende Steine“ heißt. Das Buch erschien 1962, vor fast sechzig Jahren.
In diesem Roman erzählt der Architekt von einem geistlichen Kollegen, dem Baumeister, Steinmetz und Mönch mit dem Namen Wilhelm Balz. Er zieht mit einer Gruppe von Maurern und Laienmönchen in die Nähe des kleinen Dorfes Thoronet in der Provence. Über die Zeit der Planung und des Baus des Zisterzienserklosters, das dort entsteht, führt der Baumeister ein fiktives Tagebuch. Wilhelm notiert seine Sorgen und Befürchtungen, er beschreibt die Konflikte mit den anderen Mönchen, und er freut sich über die Fortschritte, die der Bau macht.
Am Anfang herrscht Uneinigkeit wegen der Steine aus der Umgebung, die für die Mauern des abgelegenen Klosters benutzt werden sollen. Ich lese eine kurze Passage vor: „Jeden Morgen machen wir uns während der Stunden im Steinbruch eine lebhafte Vorstellung davon, wie unsere Mauern und Gewölbe einmal aussehen werden. Ich habe mehrere Beispiele für die Behauung aufstellen lassen. (…) Ängstlich nähern wir uns den Steinen: Noch nie war ich mit einem solchen Baumaterial konfrontiert. Diese harten, unregelmäßig brechenden Steine, von Höhlungen durchsetzt, werden weitgehend das Aussehen des Baues bestimmen. Zum ersten Mal beobachten mich meine Brüder voll Mißtrauen. Sie sind an regelmäßige glatte Steine gewöhnt; diese rauen und derben Gesteinsblöcke betrachten sie argwöhnisch. Sie glauben noch nicht an die Schönheit dieser wilden Steine. Einer von ihnen sagte: ‚Wie schade, daß Du keinen richtigen Steinbruch gefunden hast!‘ Ein anderer meinte noch skeptischer: ‚Für die Säulen und Kapitelle sollten wir aber doch richtige Steine kommen lassen.‘ Ich bin der einzige, der an das große Ergebnis glaubt. (…) Der Widerstand bei der Bearbeitung ist eines der zuverlässigsten Elemente der Schönheit. So fühle ich mich diesem Fels verbunden, der keine Veredelung, keine Skulptur zulässt.“
Schon im Mittelalter bedeutete es Schweiß und harte Arbeit, Steine durch Behauen, Meißeln und Verfugen zum Sprechen zu bringen. Das Ergebnis, das schlichte Zisterzienserkloster Thoronet, mit Kreuzgang, Kapelle und Refektorium, können Touristen heute besichtigen. Den Baumeister Wilhelm Balz allerdings hat Francois Pouillon erfunden. Er wollte zeigen, wie ein Architekt des Mittelalters ohne Taschenrechner, Bauplan und Bagger die Steine zum Singen und Sprechen bringen kann. Der weltberühmte Schweizer Architekt Le Corbusier, bekannt für die Kapelle von Ronchamps in den Vogesen, schrieb nach einem Rundgang durch Thoronet: „Licht und Schatten sind die Lautsprecher dieser Architektur der Wahrheit.“
Jesus sagt: „Wenn die Jünger schweigen, werden die Steine schreien.“ Das griechische Wort, das Jesus für Schreien gebraucht, hat wenig zu tun mit einem schwebungsfrei intonierten vierstimmigen Bachchoral. Vielleicht hatte Jesus bei seiner mineralogischen Musiktheorie den Propheten Habakuk im Sinn, der in seinen Weherufen verkündet (Hab 2,11): „Denn auch die Steine in der Mauer werden schreien, und die Sparren am Gebälk werden ihnen antworten.“ Es braucht ein wenig theologischen Mörtel, um Architektur, Akustik und Gotteslob fugenfrei miteinander zu verkleben.
Glaube besteht in dieser Geschichte des Lukasevangeliums vor allem aus Lob. Friede im Himmel – nicht umsonst klingt die Weihnachtsgeschichte an, mit himmlischen Sängern und staunenden Hirten, die sich zur Chorgemeinschaft vereinigen. Gut ist es, über den Glauben zu sprechen. Besser ist es, Gottes Ehre gemeinsam zu loben. Noch besser ist es, davon zu singen. Am allerbesten entsprechen die Menschen Gottes Herrlichkeit, wenn sie sie gemeinsam singend loben. Vom bloßen Sprechen über das Gebet bis zum Gesang steigert sich die Intensität. Mehr Lob als Musik ist nicht möglich. Einer der schönsten Kanons aus dem Gesangbuch folgt dem Text: „Lobet und preiset, ihr Völker den Herrn. Freuet euch seiner und dienet ihm gern.“ (EG 337) Nicht nur ich mache die Erfahrung: Gemeinsames Singen mit anderen verbindet mich in besonderer Weise mit anderen, sowohl mit den Mitsängern als auch mit den Zuhörern. Und ich spüre dann, daß das gesungene Gotteslob nicht ins Leere zielt.
Die Pharisäer dagegen geben sich als Bedenkenträger, was mich sofort an die klerikale Bürokratie erinnert, die jede Form von Spontaneität, Enthusiasmus und Kreativität sofort in die engen Kanäle von Vorschriften, Verordnungen und Aktenvermerken lenkt. Leider werden die Freude des Glaubens und das sanfte Wirken des Heiligen Geistes auf diese Weise sehr schnell zum Austrocknen gebracht. Gotteslob und Himmelsfrieden paßt nicht in die verschwurbelten, auf Vorsicht und Schlupflöcher getrimmten Überlangsätze des Gesetzes- und Verordnungsblattes. Liebe Schwestern und Brüder, ich will mit Ihnen nach einer Glaubensform suchen, die von Intensität, Kreativität und Osterjubel bestimmt ist. Dieser gemeinsame Glaube läßt sich nicht in das Prokrustesbett eines Regals mit Leitzordnern aus dem Oberkirchenrat pressen. Glaube bedeutet nicht das Einhalten von Vorschriften, er bedeutet Wachsen, spontane Aktionen, Freude und Gotteslob.
Es fällt auf, wie Jesus den Pharisäern auf ihren Einwand antwortet. Der freundliche Mann aus Nazareth reagiert gar nicht auf den Vorwurf der Pharisäer. Er rechtfertigt sich nicht. Er geht nicht zum Gegenangriff über. Statt dessen sagt er: Wenn die Jünger Gott nicht loben und ihm die Ehre geben, dann werden es die Steine tun. Die Steine werden schreien. Diese Antwort ist geeignet, noch heute die dürre Welt der Vorschriften, Verordnung und Durchführungsbestimmungen gründlich durcheinander zu bringen. Hätte Jesus eine Reform des Vorschriften- und Verordnungswesens vorgeschlagen, so hätte man wenigstens eine Kommission oder eine Projektgruppe gründen können, um die Erneuerungsvorschläge so lange zu diskutieren, bis sie völlig verwässert und wirkungslos geworden sind. Aber gegen schreiende Steine kommt keine Bürokratie an.
Aus diesem guten und im Glauben begründeten Widerspruch läßt sich eine felsenfeste evangelische Glaubenslehre bauen. Am Anfang steht der Satz: Gott wird immer gelobt, dauernd, nachhaltig, ohne Unterbrechung. Die Engel loben Gott (siehe Weihnachten am Gatter der Schafherde), die Glaubenden loben Gott, die Menschen loben Gott, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind: die schreienden Babies, die kleinen Kinder, die am Strand singend ins Wasser hüpfen, die seufzenden, klagenden, dankbaren und abenteuerlustigen Menschen, die lieber mit Gott die Welt entdecken als mit der Bürokratie Gebote zu befolgen. Und nicht zu vergessen: Es ist auch möglich, durch die FFP-2 Maske hindurch Gott zu loben, zu beten, zu predigen, für Gott und in Gottes Namen zu schreien.
Das Wort „schreien“, besonders das im griechischen Original verwendete Verb, trägt in sich auch den Aspekt der Klage. Vielen Menschen wollen Gott nicht immer nur loben, sie wollen berechtigterweise auch ihre Klagen hervorbringen. Und weder die Bibel noch Jesus verbieten das. Wir Glaubenden dürfen Krankheiten herausschreien, Enttäuschungen herausschreien, Fehler und Sünden herausschreien, Mühsal und Überforderung herausschreien. Wer schreit, der gibt das Gespräch mit Gott nicht auf, sondern der behaftet Gott bei seinen Zusagen und Verheißungen. So geben auch der Klagende und der Schreiende die Wirklichkeit Gottes nicht preis. Im Gegenteil: Sie nehmen ihn ernst.
Und man kann noch einen Schritt weiter gehen: Menschen leiden unter Krankheiten, die so schwer sind, daß sie die Leidenden zum Verstummen bringen. Selbst dann, so Jesus von Nazareth, werden die Kranken nicht allein gelassen. Die schreienden Steine treten an die Stelle der verstummten, am Leiden erstickenden Menschen. Architekten wie Fernand Pouillon haben das so gedeutet, daß allein das aus Steinen zusammengesetzte Gebäude – das Kloster in der Provence, die Kathedrale auf dem Marktplatz, das Gemeindezentrum in der Vorstadt und das die winzige Kapelle am Rand des Fahrradweges – die Botschaft des Gotteslobs und des Himmelsfriedens in sich tragen. Jeder sieht sie – und die Glaubenden wissen, was geschieht. Und nicht nur sie, auch alle anderen können sich davon trösten lassen, selbst die Bedenkenträger.
Gott kann in so vielen Gestalten gelobt werden. Im Flüstern, im Sprechen, im gemeinsamen Beten, im vierstimmigen Chor. Im Schrei der Klage ebenso wie in der kontrapunktisch aufgeladenen Jubel- und Freudenkantate. Im Schweigen oder im stummen Verweis auf die Steine, die Lob und Klage übernehmen, wenn aus welchen Gründen auch immer die Worte fehlen.
Und der Friede Gottes, der stets neu gepriesen sein will, singend und schreiend, schweigend und klagend, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. A
Nachbemerkung: Das in der Predigt zitierte Buch ist Fernand Pouillon, Singende Steine. Die Aufzeichnungen des Wilhelm Balz, Baumeister des Zisterzienserklosters Thoronet, München 2015 (7.Aufl., frz. 1962). Fotos der Zisterzienser-Abtei Thoronet finden sich hier: https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2013/11/10/thoronet-iii/; https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2013/11/05/thoronet-ii/;
https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2013/10/30/thoronet-i/;
Man kann sich auch eine Aufnahme einer alten Messe aus diesem Kloster anhören:
https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2014/01/15/thoronet-iv/