Können Sie ihren Augen trauen? Können wir unseren Augen wirklich trauen? Wie oft sehen wir etwas – oder glauben nur etwas zu sehen? Ist es Ihnen umgekehrt nicht auch so gegangen, dass Sie sich fragen mussten, ob Sie blind waren, weil – im Nachhinein betrachtet – direkt vor Ihren Augen etwas geschah, und Sie haben es nicht gesehen? Um das „Sehen-können“ bzw. das „Nicht-sehen-können“ geht es in unserem Predigttext heute an Estomihi, dem letzten Sonntag in der Vorfastenzeit.
(Lesung des Predigtextes)
Jesus kündigt zunächst seinen Jüngern, seinen engsten Vertrauten, an, dass er leiden und sterben werde. Aber sie verstehen nicht oder sehen nicht, was er ihnen anvertraut.
Diese „Blindheit“ der Jünger betont der Evangelist Lukas gleich an drei Stellen und macht so überdeutlich, dass die Jünger noch nicht sehen oder verstehen. „Sehen“ bedeutet für Lukas, das sehen zu können, was eigentlich verborgen ist. Dem gegenüber stellt er den Blinden, der am Wegrand sitzt. Dieser weiß nicht genau, wo Jesus ist, aber er ahnt, irgendwo da muss er sein. Also schreit er nach Jesus. Auch als er angeherrscht wird, er solle schweigen, schreit er weiter und wird noch viel lauter. Er ist sich sicher: Bei Jesus finde ich Heilung. Er glaubt fest daran, und sein Glaube wird belohnt.
Als Jesus den Blinden fragt, was er sich wünscht, kann der sofort und ohne Nachdenken seinen sehnlichsten Wunsch benennen. Jesus schenkt dem Blinden die Sehkraft und befreit ihn damit zugleich aus der beschämenden Lebensweise eines Bettlers. Der Blinde vertraut und kann daher die Erlösung sehen, die von Jesus ausgeht. Er geht von sich aus auf Jesus zu und schreit lauthals nach ihm. Jesus nimmt dies wahr und macht ihn heil. Einen solchen Schritt in die Nachfolge wagen – dazu braucht es Vertrauen. In unserem Alltag sehen wir manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht. Da haben wir Angst vor etwas und sind gelähmt. Da fehlen der tröstende Zuspruch und das Vertrauen darauf, dass etwas zu einem guten Ende kommen wird – auch wenn das nicht so ist, wie wir es uns in uns ausmalen. Lösungen, die uns vor Augen stehen, sind für uns unsichtbar. Wir verstehen nicht, warum etwas ist, wie es ist, und was dahinter stecken kann.
Wie die Jünger haben wir genaue Vorstellungen davon, was wir gut und richtig finden, was das Beste für unser Leben ist. Da fällt es schwer, einen anderen Verlauf der Dinge zu akzeptieren. Gottvertrauen hilft! Wie dem Blinden. Wer es noch nie nötig hatte, dass ihm die Augen geöffnet werden, der wird vielleicht immer seine Probleme haben, zu verstehen, worum es im Glauben geht: Glaube bedeutet nämlich, Gott zu vertrauen.
Niemand kann sagen, dass das einfach ist, selbst für jemanden, der glaubt. So ist es bei den Jüngern, als Jesus ihnen erzählt, was in Jerusalem geschehen wird, diese es aber nicht verstehen können, weil doch alles so schön ist im Moment; weil sie gute Tage mit Jesus erleben und selbst die schwierigen Tage bei Jesus doch irgendwie erfüllte Zeit sind, angefüllt mit der Gewissheit: Jesus ist etwas Besonderes, und wir gehören zu ihm. Ihre rosige Zukunft mit Jesus ist so klar vor ihrem inneren Auge zu sehen, dass die Jünger nicht verstehen können, was Jesus ihnen sagt: „Ich gehe meinen eigenen Weg, auf dem Ihr nicht mit dabei seid – ja, nicht dabei sein könnt, denn das ist nicht Euer Weg”. Darauf läuft es hinaus mit Jesus, das weiß er und sagt es auch.
Die Jünger verstehen noch nicht, dass Jesus, den die Menschen ablehnen, verfolgen, links liegen lassen werde, den sie verleugnen und am Ende sogar foltern werden, dass dieser Jesus von den Toten auferweckt wird, um unseretwillen: So groß ist Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen. Für mich ist das etwas Tolles an dieser Geschichte, dass es gar nicht schlimm ist, dass die Jünger noch nicht verstehen: Jesus lässt sie nicht einfach links liegen, weil sie ihn nicht verstehen: Sie bleiben seine Freunde und seine Weggefährten. Im Glauben ist „Nicht-Verstehen“ und „Nicht-Sehen-Können“ auch erlaubt. Die Nachfolge ist trotzdem möglich, mit der Nachfolge wird auch irgendwann das „Sehen“ kommen. Am Wichtigsten ist die Bereitschaft, sich die Augen öffnen zu lassen.
In diesem Jesus, der ans Kreuz geht, zeigt sich Gott, der Gott, der nicht in Menschenwünschen und Menschenvorstellungen aufgeht, der Gott, der nicht im Menschenwillen und -gewalt untergeht, der Gott, der wirklich Gott ist, der auch die tiefste Dunkelheit, den Tod, hell machen und erleuchten kann. Kein Wunder, dass der Blinde, der schon im Dunklen sitzt, schneller versteht, was das für eine Chance ist.
Diejenigen, die meinen, ihnen wäre schon ausreichend das Licht Gottes aufgegangen, begreifen oftmals gar nicht das Ausmaß dessen, was ihnen schon geschenkt ist.
So ist es kein Wunder, dass das Wunder an dem blinden Bettler geschieht, während die Jünger erst bis Karfreitag und Ostern warten müssen, bis zu dem Zeitpunkt nämlich, als auch sie in die Finsternis fielen, als für sie alles aus und vorbei ist, als alle ihre Hoffnungen zerstört und das gute Leben dahin scheint und ihnen Gott nur noch wie ein ferner Traum vorkommt. Da, als ihnen nichts mehr blieb als der Glaube, finden auch sie den Auferstandenen, erkennen auch sie das Licht der Welt in seinem vollen Glanz von Gott selbst.
Der wunderbare Gott, der aus der Not errettet, tut das, damit alle, die nicht mehr sehen, wohin es gehen kann, wieder einen Weg erkennen. Damit alle, die nicht mehr erkennen, wie es weitergehen soll, einen Ausweg finden. Damit alle, die nicht mehr die Kraft finden, aufzustehen und zu schreien, den Mut haben, genau das zu tun – und wenn sie dabei auch gegen noch so viele Stimmen anschreien müssen – Stimmen in sich selbst und von außen. Manchmal gibt es auch in unserem Leben kleine Wunder: Ein Streitgespräch öffnet mir die Augen dafür, was immer wieder falsch läuft. Trotz allem Zank nimmt mich jemand in den Arm, und ich merke, ich muss mich nicht immer nur verteidigen. Ich habe Angst vor der Zukunft, vor dem, was kommen kann, bin gelähmt und gehe vom Schlimmsten aus, und bin daher verzweifelt, aber ein lieber Mensch spendet mir Trost, plötzlich werde ich ruhiger und vertraue darauf, dass mich mein Weg immer zu einem guten Ziel führt. Das sind die kleinen Wunder, und es gibt viele andere mehr. Sie sind nicht spektakulär, aber sie fühlen sich heilsam an. Ich wünsche uns allen, dass wir solche Wunder erleben, die uns die Augen öffnen.
Es ist schwer, den Durchblick zu haben, wenn man mitten in etwas steckt, wenn man an etwas festhält – an der Vorstellung, wie etwas zu laufen hat, wie etwas ist, wenn es gut und richtig ist – richtig in unseren Augen. So ging es auch den Jüngern. In ihren Augen durfte nicht sein, dass Jesus stirbt. Erst im Rückblick haben sie verstanden, was Jesus ihnen sagt. Erst vom Ende her begannen sie zu sehen und zu verstehen, was Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi bedeuteten.
Insofern macht die Geschichte uns Hoffnung: Manchmal muss ich abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, Manches werde ich im Nachhinein in einem andern Licht sehen. Das Puzzle meines Lebens ist in Bewegung, solange ich lebe. Es fügt sich immer neu zusammen. Ich muss mir keine Vorwürfe machen, dass ich manches nicht sofort als das gesehen habe, was es ist. Erkenntnis braucht Zeit, Geduld und auch Vertrauen. Es kann sein, dass das Ende einer Sache so überraschend ist, dass ich alles, was vorher gewesen ist, ganz neu sehe und begreife. Wichtig ist, dass ich nicht aufhöre zu vertrauen. Wenn wir spüren und wissen, wohin es gehen soll, dann schenke uns Gott die Energie und das Vertrauen des blinden Mannes, der sich nicht davon abbringen lässt, zu Jesus zu kommen und ihm zu folgen. Gebe es Gott, dass wir die Wahrheit und das Licht unseres Lebens erkennen und Jesus nachfolgen.