Sehnsucht nach einer besseren Welt
Tango am Festtag Christi Himmelfahrt
Predigttext (abweichend von der aktuellen Perikopenreihe): Prediger 3,1 und 4 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde ...
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.
Im alttestamentlichen Buch des Predigers heißt es (3,1.4, Einheitsübersetzung): Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz.
Leib- und Lustfeindlichkeit in der christlichen Tradition
Tanzen hat seine Zeit. Dieser Bibelvers hat der Tango-Messe von Sjöberg den Titel gegeben. Wir hören sie heute im Gottesdienst. Die ganze Musik im Gottesdienst ist im Tangostil. Tanzen hat seine Zeit. Das Alte Testament erzählt von einem tanzenden König: David (2 Sam 6,14-23). Bei der Überführung der Bundeslade nach Jerusalem tanzt David einen erotischen Tanz. Wie es bei den lebensfrohen Kultfesten in Kanaan üblich war. Seine Frau Michal findet das anstößig und stellt ihn zur Rede. David verteidigt sich, dass er aus geistlicher Freude tanzt.
Der Kampf gegen Sinnlichkeit und Tanz hat in der jüdisch-christlichen Kultur eine lange Tradition. Bei Michal können wir ein Gottesbild greifen, das in der Kirchengeschichte verheerende Wirkung hatte: Gott sei leibfeindlich. So wurde viele Jahrhunderte lang in katholischen, reformierten und lutherischen Gotteshäusern gepredigt. Einher ging, dass die Lust diffamiert und für sündig erklärt wurde. Im Mittelalter wurde gar die Kasteiung propagiert. Und auch später versuchte man, das Fleisch abzutöten. Angesichts von so viel Widerstand gegen Leiblichkeit und Tanz in der jüdisch-christlichen Tradition drängen sich die Fragen auf: Macht ein Tango-Gottesdienst überhaupt Sinn? Tanzen hat seine Zeit, aber ist die Gottesdienstzeit die Zeit zum Tanzen? Ist ein ehrwürdiger reformierter Gottesdienstraum ein Raum zum Tanzen?
Wertschätzung des Tanzes im Alten Testament
Tanzen hat seine Zeit. Oft ist im Alten Testaments wertschätzend von Tanzen die Rede. Im sogenannten Hohen Lied beispielsweise heizt ein Männerchor die Braut Schulammit mit den Worten an (Alle Zitate: 7,1-2, Einheitsübersetzung): Wende dich, wende dich, Schulammit! Wende dich, wende dich, damit wir dich betrachten. Der Bräutigam antwortet darauf Was wollt ihr an Schulammit sehen? Die Männer singen: Den Lager-Tanz! Der Lager-Tanz war ein hochzeitlicher Tanz. Angefeuert tanzte die Braut zwischen zwei Lagern, d.h. zwei Reihen von männlichen Hochzeitsgästen. Den Tanz sehend stimmt der Bräutigam ein Beschreibungslied an. Sein Blick gleitet vom Tanzschritt über die Tanzschuhe hoch zu den tanzenden Rundungen seiner Braut. Er singt betört: Wie schön sind deine Schritte in den Sandalen, du Edelgeborene. Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, gefertigt von Künstlerhand.
Das Hohe Lied ist eine Sammlung von israelitischen oLiebesliedern. Es mag verwundern, dass sich ein ganzes Buch von sinnlichen Liebesliedern in der Bibel findet. Indes, es war in der Kirchengeschichte umstritten. Beim 2. Vatikanischen Konzil vor 50 Jahren wurde in der katholischen Kirche eingeführt, dass die Bibel aus dem Lateinischen in die jeweiligen Landessprache übersetzt werden durfte. Im Konzil wandte sich ein Kardinal gegen die Übersetzung mit dem Verweis auf das Hohe Lied. Er sagte, man solle das Hohe Lied lieber in der Schicklichkeit des Lateins belassen. Warum? Das Hohe Lied ist ein Buch voller Leidenschaft, Sehnsucht, Einsamkeit und Erotik. Die katholische Kirche tut sich freilich bis auf den heutigen Tag schwer mit Sinneslust. Ihre Priester müssen enthaltsam leben.
In seinen Emotionen gleicht das Hohe Lied dem argentinischen Tango. Der Tango ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und in anderen Hafenstädten am Rio de la Plata entstanden. Diese Städte waren damals ein multikulturelles Gemisch. Es herrschte Arbeitslosigkeit und Elend. Einwanderer aus Europa vor allem aus Spanien und Italien, trafen dort auf afrikanische Sklaven und einheimische Indios. Es gab viele Glückssucher, Hungerleider und Kleinkriminelle. Da viele Einwanderer ihre Familien zurückgelassen hatten, herrschte Frauenmangel und blühte die Prostitution. Die Hoffnungen der Einwanderer schlugen meist schnell in Depressionen um. In diesem Milieu entstand der Tango. In ihm spiegelte sich das Lebensgefühl der Menschen: ethnische Spannungen, existentielle Not, verzehrendes Verlangen und heimatlose Einsamkeit. Es entstand ein Paartanz voller Sehnsucht, Gegensätze, Wehmut, Leidenschaft, Wut und Sinnlichkeit. Der Tanz ist wegen seines Ursprungs in Hafenschänken und Bordellen zunächst nicht salonfähig. In der Oberschicht gilt er als anzüglicher Tanz der Verruchten und Armen. Erst um 1900 wird er in einer weniger erotischen Form gesellschaftsfähig und wird bald in Europa zum beliebtesten Modetanz. Da erklärt ihn Papst Pius X. als sündhaft und verbietet ihn den Katholiken.
Der sinnliche Mensch – ein Abbild Gottes
Tanzen hat seine Zeit. Entscheidende Aussagen über das Wesen des Menschen finden sich in der Schöpfungsgeschichte. Im 1. Buch Mose lesen wir (1 Mose 1,27+28+31, Einheitsübersetzung): Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Die Schöpfungsgeschichte hebt hervor, dass der Mensch ein Abbild von Gott ist. Dies meint, jeder Mensch ist königlich und gottähnlich. Zu beachten ist: Gott hat den Menschen mit einem Körper erschaffen. Das ist kein Unfall des Schöpfers. Vielmehr taugt der menschliche Leib als Symbol für Gottes Gegenwart. Der leibliche Mensch ist ein Bild Gottes. Ferner, die Sexualität ist ausdrücklich göttliche Schöpfungsgabe und Segen. Gott segnet die Menschen und gibt ihnen die Fähigkeit zur Fortpflanzung. Zusammenfassend betont die Bibel nach der Erschaffung des Menschen: Es war sehr gut. Im Schöpfungsbericht finden wir keinen leib- oder lustfeindlichen Gott. Der Körper ist vielmehr eine gute Gabe Gottes. Er ist wertvoll, ein Geschenk.
Nach der Schöpfungsgeschichte ist auch die sexuelle Unterschiedenheit schöpfungsgemäß. Als Mann und Frau schuf er sie, heißt es da. Dies meint: Gott schuf den Menschen als soziales Wesen. Die Verschiedenheit findet ihre Erfüllung in der Ergänzung. Das Fremde wird zur Bereicherung. Gott schuf den Menschen als sinnliches Wesen. Dieses Wesen hat eine Ergänzung nötig. Genau dafür aber steht der Tango! Mit tänzerischen Mitteln bringt er zum Ausdruck, dass ein Mensch der Ergänzung bedarf. Der Tango ist tänzerische Darstellung einer Leerstelle. Eine Art getanztes Hinweisschild, auf dem steht: „Es fehlt etwas! Ich sehne mich danach!“ Sehnsucht ist eine der treibenden Kräfte des christlichen Lebens. Sehnsucht, dass es mehr gibt als wir anfassen können. Sehnsucht nach einer besseren Welt. Der Tango ist tänzerische Inszenierung der Sehnsucht. Sinnlich wird in diesem Tanz Sehnsucht, Begehren, Leidenschaft und Heimatlosigkeit dargestellt.
Tanzen hat seine Zeit. Auch Jesus war nicht leibfeindlich. Der Lieblingsjünger durfte seinen Kopf in Jesu Schoß legen. Jesus feierte gern. Man traf ihn auf Hochzeitsfeiern. Nach dem Evangelisten Johannes hat er bei der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein verwandelt. Und zwar in 600 Liter Wein! Vielleicht hat er auf dieser Hochzeitsfeier auch getanzt, wenngleich es uns der Evangelist nicht berichtet. Wie auch immer, Jesus war sich nicht zu schade, seinen Jüngern eigenhändig die stinkenden Füße zu waschen. Zugleich genoss er es, dass eine Frau seine Füße sinnlich mit duftendem Öl einrieb. Jesus war sinnlich, zärtlich und lebensfroh.
Bwfreiender Tanz
Der Blick in die Bibel zeigt: Die Leib- und Lustfeindlichkeit der Kirche war ein fataler Irrweg. Sinnlichkeit haben beim Schöpfergott und bei Jesus ihren guten Platz. Aus diesem Grund sollten Sinnlichkeit und Tanz auch ihren Platz im Gottesdienst haben. Tanz befreit den Menschen von der Schwere der Dinge. Tanz bindet den Vereinzelten an die Gemeinschaft. Tanz fördert eine beschwingte Seele. Aus diesem Grund hat der Tango heute auch im Gottesdienst seinen Raum. Der Tanz der Sehnsucht wird virtuos vorgetanzt. Und am Ende des Gottesdienstes ist es an Ihnen – wer möchte, kann selbst Tango tanzen. Tanzen hat seine Zeit. Folgender Spruch wird dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben, wenngleich er wohl nicht aus seiner Feder stammt (Zitat: https://meister.igl.uni-freiburg.de/ gedichte/ anonym06. html): “O Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen!”