Sehschule des Glaubens
Den liebevollen Blick im Alltag trainieren
Predigttext: Lukas 6,36-42, Von der Stellung zum Nächsten (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn aeben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.
41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Kurzes Vorwort zum Predigttext
Wenige Verse aus der Feldrede Jesu im Lukasevangelium, aber so viele Gedanken und Parabeln, dass es gar nicht möglich ist, in einer Predigt allem gerecht zu werden. So habe ich ausgewählt und mich konzentriert. Auf die Verse 36-38 und 41-42.
Lesenswert in diesem Zusammenhang über Lukas 6,39 und 6,40 von Gabi Kern: „Absturzgefahr (Vom Blinden als Blindenführer)“ und „Größenwahn?! (Vom Schüler und Lehrer)“ - beides in „Kompendium der Gleichnisse Jesu“ herausgegeben von Ruben Zimmermann (Gütersloh 2007).
Das Sehen und Nicht-Sehen-Können, das die späteren Verse der Perikope dominiert, habe ich auch auf den ersten Teil der Perikope bezogen. Nur wer erkennt, wie wir allein aus der Barmherzigkeit, der Vergebung und der Zuwendung Gottes leben, nimmt dieses Bedürfnis danach und diese Fähigkeit auch bei sich und anderen wahr. Doch es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir es können. Es verlangt Übung. Das Bild von Lehrer und Schüler spricht ebenfalls in diese Richtung. Am Ende geht es darum, zuerst in der Gemeinde aus einem Teufelskreis von Schuldzuweisungen und Verurteilungen herauszufinden, um tatsächlich gemeinsam zu leben. Aber da nicht alle Teile der Perikope so klar nur auf das Leben innerhalb der Gemeinde bezogen sind, empfinde ich es auch als legitim, über den „Tellerrand“ der Gemeinde hinauszublicken.
Nun sind die erwähnten Beispiele zum Teil sehr ortsgebunden. Trotzdem habe ich sie eingefügt. Auch um vielleicht Interesse zu wecken, manches Projekt selbst zu wagen wie z.B. den interreligiösen Fotowettbewerb. Mit dem Link zur Website des Dekanat Mainz können Sie zum Artikel über diesen Fotowettbewerb gelangen, der sicher ein gutes Bespiel dafür ist, wie wir alle unser Sehen schulen können:
http://rheinhessen-evangelisch.de/die-dekanate/dekanat mainz/neues/nachrichten/ artikel/datum/2015/06/02/preisverleihung-interreligioesen-fotowettbewerb/.
Wir können sehen lernen
Es gibt Seh-Schulen. Schulen zum Sehen lernen. Für Kinder und Erwachsene. Weil wir sehen auch lernen können. Weil Sehstörungen sich durch Training bessern oder sogar vollkommen verschwinden. Denn besser sehen können ist manchmal wirklich nur eine Frage des Trainings. Für Jesus gibt es auch eine „Sehschule“ – eine „Sehschule“ des Glaubens. In der sollten wir alle regelmäßig trainieren. Einige seiner Übungsvorschläge für den Alltag lauten:
(Lesung des Predigttextes)
1. Schritt: Mein persönliches Seh-Trainingsprogramm
Bevor ich in der Sehschule eines Augenarztes beginnen kann, muss ich genau erfahren, wo meine Probleme überhaupt liegen. Erst dann werden mir bestimmte Übungen verordnet und ich weiß, welche Augenmuskelpartien besondere Aufmerksamkeit brauchen. Für Jesus und die „Sehschule“ des Glaubens gilt das genauso. Erste „diagnostische“ Fragen in seinem Sinne könnten sein: Erkennst Du, wo Gott barmherzig ist mit dir, und wo bist du barmherzig mit anderen? Wo erlebst du, dass Gott dich nicht verurteilt, und wo hältst du dich zurück im Urteil über andere?
Spürst du, wie Gott dich reichlich beschenkt und wem schenkst du? Nun: Wie schnell, wie genau können Sie auf diese Fragen antworten? Wo brauchen Sie mehr oder weniger Zeit, um zu erkennen, wie das bei Ihnen ist? Je nach dem müsste dann auch Ihr tägliches „Übungsprogramm“ zusammengestellt werden. Es gilt also, am Anfang herauszubekommen, wo wir „Trainingsbedarf“ haben. Vielleicht sind Sie ja bereits jemand, der mit dem Schenken wenig Schwierigkeiten hat. Sie haben Zeit, die Sie anderen widmen, ohne ständig auf die Uhr zu schauen. Sie haben für sich erkannt, dass es eine Freude ist zu geben. Sie hängen nicht so am Geld oder fragen sich ständig, ob das jetzt richtig investiert war. Ihre leeren Hände machen Ihnen keine Angst. Sie können loslassen. Haben Ihre Hände frei – auch für andere. Schenken können Sie!
Aber vielleicht merken Sie im Nachdenken über Ihren alltäglichen Umgang mit anderen, dass die Aufmerksamkeit bei Ihrem „Sehtraining“ ganz woanders liegen muss. Wie schnell urteilen Sie z.B. über andere? Klar, in den ersten Sekunden einer Begegnung entscheidet sich viel. Da laufen unbewusste Wahrnehmungsprozesse ab, die uns schnell zu einem ersten Urteil „leiten“. Ein Training in der Sehschule des Glaubens kann uns bewusst machen, dass wir uns davon nicht ver-leiten lassen dürfen. Wir könnten lernen, uns nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden zu geben, sondern weiter den offenen Kontakt suchen. Vielleicht könnte ein Training in diesem Alltagsbereich auch wichtig sein, weil Sie merken: Mein „Sehfeld“ ist eingeschränkt. Ich schaue auf einen anderen von oben herab, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Mir fehlt der weite Blick. Wenn ich über einen anderen „mein“ Urteil abgebe, ihn oder sie ver-urteile, sehe ich nicht den ganzen Menschen. Erfolge eines Trainings in der Sehschule des Glaubens wären an dieser Stelle: In Beziehung zu kommen und im anderen meinen Nächsten zu erkennen. Jesus will, dass wir den liebevollen Blick im Alltag trainieren. Und Sie? Sie kennen – oder erkennen – sicher Ihre „Problemzonen“, denen Training gut tun würde.
2. Schritt: Sichtblockaden entfernen – Perspektiven wechseln
Aber Jesus ist sich sicher, dass wir sogar noch mehr brauchen als eine Sehschule. „Oft seht ihr doch gar nichts!“ wirft er seinen Zuhörern vor, „Wieso meint ihr denn trotzdem, euch um die Angelegenheiten anderer kümmern zu können? Ihnen sagen zu müssen, was richtig oder falsch ist?“ Mit dem Bild vom Balken im eigenen Auge – da übertreibt Jesus ziemlich. Das würde ja keiner überleben. Geschweige denn damit bei anderen die kleinen Splitter erkennen und entfernen können. Aber seine Kritik, die darin steckt, trifft den Punkt genau: Wenn wir nicht bereit sind, unsere eigenen Fehler zu sehen, dann können wir uns jegliche Meckerei über andere sparen. Also: Erst weg mit dem Balken bei mir. Selbstkritisch sein. Bereit sein, die Perspektive zu wechseln und nicht nur auf die anderen zu deuten, sondern über mich und mein Verhalten nachzudenken. Nur das hilft am Ende, den Durchblick zu bekommen. Das ist die einzige Haltung, mit der ich auch anderen – kritisch – begegnen kann.
Beispiele
Vor kurzem erklärte mir ein Projektmanager aus der IT-Branche, dass es für ihn oft die meiste Arbeit sei, ein Projektteam dazu zu bringen, konstruktiv in die Zukunft zu denken. Wenn es darum ginge, die Vergangenheit zu analysieren und festzustellen, was ist gut gelaufen und was muss verbessert werden, blieben manche Teammitglieder leicht in gegenseitigen Schuldzuweisungen stecken. Es bräuchte oft enormen Einsatz, um da wieder heraus zu kommen. Doch genau davon hänge der Erfolg jedes Projektes ab: Die Fehler offen zu benennen und dann konstruktiv mit Blick in die Zukunft weiterzuarbeiten. Alles andere sei verlorene Energie. Wie können wir unser „Projekt“ des Miteinanders voran bringen in Jesu Sinne? Das ist natürlich eine Frage für jede Gemeinde. Aber Jesu Blick führt auch über die Gemeindegrenzen hinaus. Wie können wir miteinander leben? Ich erlebe dies konkret als Frage hier in der Mainzer Innenstadt, wo Menschen vieler Kulturen und Religionen beheimatet sind. Wo Flüchtlinge leben genauso wie die, die 15 € für den Quadratmeter zahlen können.
Die Sehschule des Glaubens empfinde ich als eine wunder-volle Basis, um genau das angehen zu können. Wir schauen uns ehrlich an, was ist. Wo es Probleme gibt, weil verschiedene Kulturen auch unterschiedliche Lebensweisen einbringen. Wo wir staunen können, welche Vielfalt auf engstem Raum zusammenleben kann. Wo wir mitleiden, weil der Krieg in fernen Ländern durch die Flüchtlinge jetzt auch bei uns hautnah zu spüren ist und ein Gesicht bekommt. Wir schauen nicht weg, sondern hin. Respektvoll, interessiert. Wir lassen den anderen nicht einfach seinen Weg gehen, nach dem Motto, jeder macht, was er will, sondern fordern uns in Beziehungen. Wir halten Unterschiede aus. Wir kehren Verständnisschwierigkeiten und Konflikte nicht unter den Teppich. Zum Projekt „Miteinander leben“ gehören sie dazu. Wir wollen einander sehen und angesehen werden. Dem anderen Ansehen verleihen bekommt so noch einmal einen neuen Klang.
Das ist Training in der Sehschule des Glaubens. Es geschieht täglich hier in der Neustadt: Unter Nachbarn. In unserem Kindergarten mit Kindern und Eltern aus 21 Nationen. Beim Ökumenischen Mittagstisch, bei dem sich jeden Freitag Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft umeinander sorgen, miteinander essen und austauschen. Ein spezielles Sehtraining gab es letztens beim interreligiösen Fotowettbewerb, der hier in Mainz stattfand. „Zehn muslimische und sieben christliche Jugendliche bildeten sieben gemischte Teams und zogen jeweils zwei Stunden durch die Landeshauptstadt, um gute Motive zur Thematik `Vielfalt, Toleranz und Respekt in Mainz´ zu finden. Dabei entstanden nicht nur tolle Fotos, sondern auch spannende Begegnungen. Neue Perspektiven wurden gesucht und gefunden, interessante Gespräche auf der Suche nach passenden Motiven geführt, neue Orte kennengelernt.“ Ein Foto gefällt mir persönlich besonders: Im Vordergrund eine junge Muslima mit Kopftuch, den Rücken der Kamera zugewandt, der Blick geht über ihre Schulter hinweg. Ihre Hände formen ein Herz mit dem Blick auf die Christuskirche. Ja, wir brauchen sie alle: die Sehschule des Glaubens!
Lernerfolge
Doch wie in jeder Schule: Manchmal ist Lernen einfach mühsam. Den schnellen Erfolg gibt es nicht. Rückschläge sind normal. Wir müssen dranbleiben. Aber andere zu erleben, die ihre Augen offen haben und sich engagieren, steckt an. Macht Lust, dabei zu sein. Und manche Trainingserfolge stellen sich sogar fast von selbst ein. Denn wenn andere uns ihr Mitgefühl zeigen, trainiert das automatisch auch unsere Fähigkeit, mitzufühlen und barmherzig zu sein. Und wenn ich erlebe, dass ich nicht einfach auf den ersten Blick verurteilt werde und eine Chance bekomme, verändert das auch meinen Umgang mit anderen. Auch wenn die Lernfortschritte klein sind – mit der Zeit wird mein Blick genauer. Ich schaue auf das, was nicht gut ist. Spreche es an. Ohne andere dabei klein zu machen.
Ich merke: Jesus hat schon recht. Wer wegschaut, zieht den anderen nur mit in die Grube. Wer wegschaut, sorgt dafür, dass Balken und Splitter bleiben, wo sie sind. Mit der Zeit wird mein Blick genauer und wenn ich Glück habe, richten sich auch genaue Blicke auf mich. Ich werde angesehen. Nicht gemustert. Nicht beurteilt. Einfach angesehen. Da sieht jemand mich, so wie ich bin, mit allen Macken und allen Wundern. Jesus hat recht, dass er uns herausfordert, sehen zu lernen. Es ist unsere einzige Chance, den Blick frei zu bekommen und klar zu erkennen: Was für ein Reichtum, der uns da in den Schoß fällt – mit jedem Menschen, den wir sehen und der uns sieht! Nicht mehr und nicht weniger! So entsteht Miteinander.
Die größte Sünde beim Predigen ist ein schlechter Predigtaufbau. Das hat der kluge Hamburger Pastoral-Psychologie-Dozent und Pastor Dr. Gunnar von Schlippe behauptet. Den Predigtaufbau der Predigt von Pfarrerin Klünemann finde ich ganz besonders gelungen. Als erstes findet sie ein sehr originelles und im Alltag wichtiges Thema im Predigttext: Sehschule des Glaubens. Dazu brauchen wir ein Trainingsprogramm. Wie schnell urteilen wir im Alltag über andere. Wie stark spürt der andere unsere Einstellung zu ihm. Jesus will, dass wir den liebevollen Blick im Alltag trainieren, damit wir zu dem Mitmenschen in Beziehung kommen und in ihm unseren Nächsten erkennen. Jesu Kritik unseres kritischen Blicks für andere mit dem Bild vom Balken im Auge für uns selbst übertreibt mächtig. Aber Selbstkritik ist der Anfang, um den Durchblick zu bekommen. Sehr anschauliche Beispiele bringt Pfarrerin Klünemann dann aus den Betrieben, den Kirchen-Gemeinden, der Innenstadt und im Zusammenleben der Kulturen und der Kindergarten-Eltern. Durch die christliche Sehschule ergeben sich Verbesserungen im Umgang. Hier angelangt bekräftigt die Predigerin zum Schluss die Sehschule Jesu. Was für ein Reichtum steckt in jedem Menschen, den wir sehen und der uns sieht! Die Zuhörenden werden durch diese Sehschule nach dem Gottesdienst sicher neu und bereichert in die Welt und zu dem Nächsten blicken! – Als Kommentator bekomme ich jetzt den neuen Blick, dass diese schöne Predigt auch bemerkenswert menschanfreundlich formuliert wurde mit prägnanten Begriffen und vielen markant kurzen Sätzen.