Wir können sehen lernen
Es gibt Seh-Schulen. Schulen zum Sehen lernen. Für Kinder und Erwachsene. Weil wir sehen auch lernen können. Weil Sehstörungen sich durch Training bessern oder sogar vollkommen verschwinden. Denn besser sehen können ist manchmal wirklich nur eine Frage des Trainings. Für Jesus gibt es auch eine „Sehschule“ – eine „Sehschule“ des Glaubens. In der sollten wir alle regelmäßig trainieren. Einige seiner Übungsvorschläge für den Alltag lauten:
(Lesung des Predigttextes)
1. Schritt: Mein persönliches Seh-Trainingsprogramm
Bevor ich in der Sehschule eines Augenarztes beginnen kann, muss ich genau erfahren, wo meine Probleme überhaupt liegen. Erst dann werden mir bestimmte Übungen verordnet und ich weiß, welche Augenmuskelpartien besondere Aufmerksamkeit brauchen. Für Jesus und die „Sehschule“ des Glaubens gilt das genauso. Erste „diagnostische“ Fragen in seinem Sinne könnten sein: Erkennst Du, wo Gott barmherzig ist mit dir, und wo bist du barmherzig mit anderen? Wo erlebst du, dass Gott dich nicht verurteilt, und wo hältst du dich zurück im Urteil über andere?
Spürst du, wie Gott dich reichlich beschenkt und wem schenkst du? Nun: Wie schnell, wie genau können Sie auf diese Fragen antworten? Wo brauchen Sie mehr oder weniger Zeit, um zu erkennen, wie das bei Ihnen ist? Je nach dem müsste dann auch Ihr tägliches „Übungsprogramm“ zusammengestellt werden. Es gilt also, am Anfang herauszubekommen, wo wir „Trainingsbedarf“ haben. Vielleicht sind Sie ja bereits jemand, der mit dem Schenken wenig Schwierigkeiten hat. Sie haben Zeit, die Sie anderen widmen, ohne ständig auf die Uhr zu schauen. Sie haben für sich erkannt, dass es eine Freude ist zu geben. Sie hängen nicht so am Geld oder fragen sich ständig, ob das jetzt richtig investiert war. Ihre leeren Hände machen Ihnen keine Angst. Sie können loslassen. Haben Ihre Hände frei – auch für andere. Schenken können Sie!
Aber vielleicht merken Sie im Nachdenken über Ihren alltäglichen Umgang mit anderen, dass die Aufmerksamkeit bei Ihrem „Sehtraining“ ganz woanders liegen muss. Wie schnell urteilen Sie z.B. über andere? Klar, in den ersten Sekunden einer Begegnung entscheidet sich viel. Da laufen unbewusste Wahrnehmungsprozesse ab, die uns schnell zu einem ersten Urteil „leiten“. Ein Training in der Sehschule des Glaubens kann uns bewusst machen, dass wir uns davon nicht ver-leiten lassen dürfen. Wir könnten lernen, uns nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden zu geben, sondern weiter den offenen Kontakt suchen. Vielleicht könnte ein Training in diesem Alltagsbereich auch wichtig sein, weil Sie merken: Mein „Sehfeld“ ist eingeschränkt. Ich schaue auf einen anderen von oben herab, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Mir fehlt der weite Blick. Wenn ich über einen anderen „mein“ Urteil abgebe, ihn oder sie ver-urteile, sehe ich nicht den ganzen Menschen. Erfolge eines Trainings in der Sehschule des Glaubens wären an dieser Stelle: In Beziehung zu kommen und im anderen meinen Nächsten zu erkennen. Jesus will, dass wir den liebevollen Blick im Alltag trainieren. Und Sie? Sie kennen – oder erkennen – sicher Ihre „Problemzonen“, denen Training gut tun würde.
2. Schritt: Sichtblockaden entfernen – Perspektiven wechseln
Aber Jesus ist sich sicher, dass wir sogar noch mehr brauchen als eine Sehschule. „Oft seht ihr doch gar nichts!“ wirft er seinen Zuhörern vor, „Wieso meint ihr denn trotzdem, euch um die Angelegenheiten anderer kümmern zu können? Ihnen sagen zu müssen, was richtig oder falsch ist?“ Mit dem Bild vom Balken im eigenen Auge – da übertreibt Jesus ziemlich. Das würde ja keiner überleben. Geschweige denn damit bei anderen die kleinen Splitter erkennen und entfernen können. Aber seine Kritik, die darin steckt, trifft den Punkt genau: Wenn wir nicht bereit sind, unsere eigenen Fehler zu sehen, dann können wir uns jegliche Meckerei über andere sparen. Also: Erst weg mit dem Balken bei mir. Selbstkritisch sein. Bereit sein, die Perspektive zu wechseln und nicht nur auf die anderen zu deuten, sondern über mich und mein Verhalten nachzudenken. Nur das hilft am Ende, den Durchblick zu bekommen. Das ist die einzige Haltung, mit der ich auch anderen – kritisch – begegnen kann.
Beispiele
Vor kurzem erklärte mir ein Projektmanager aus der IT-Branche, dass es für ihn oft die meiste Arbeit sei, ein Projektteam dazu zu bringen, konstruktiv in die Zukunft zu denken. Wenn es darum ginge, die Vergangenheit zu analysieren und festzustellen, was ist gut gelaufen und was muss verbessert werden, blieben manche Teammitglieder leicht in gegenseitigen Schuldzuweisungen stecken. Es bräuchte oft enormen Einsatz, um da wieder heraus zu kommen. Doch genau davon hänge der Erfolg jedes Projektes ab: Die Fehler offen zu benennen und dann konstruktiv mit Blick in die Zukunft weiterzuarbeiten. Alles andere sei verlorene Energie. Wie können wir unser „Projekt“ des Miteinanders voran bringen in Jesu Sinne? Das ist natürlich eine Frage für jede Gemeinde. Aber Jesu Blick führt auch über die Gemeindegrenzen hinaus. Wie können wir miteinander leben? Ich erlebe dies konkret als Frage hier in der Mainzer Innenstadt, wo Menschen vieler Kulturen und Religionen beheimatet sind. Wo Flüchtlinge leben genauso wie die, die 15 € für den Quadratmeter zahlen können.
Die Sehschule des Glaubens empfinde ich als eine wunder-volle Basis, um genau das angehen zu können. Wir schauen uns ehrlich an, was ist. Wo es Probleme gibt, weil verschiedene Kulturen auch unterschiedliche Lebensweisen einbringen. Wo wir staunen können, welche Vielfalt auf engstem Raum zusammenleben kann. Wo wir mitleiden, weil der Krieg in fernen Ländern durch die Flüchtlinge jetzt auch bei uns hautnah zu spüren ist und ein Gesicht bekommt. Wir schauen nicht weg, sondern hin. Respektvoll, interessiert. Wir lassen den anderen nicht einfach seinen Weg gehen, nach dem Motto, jeder macht, was er will, sondern fordern uns in Beziehungen. Wir halten Unterschiede aus. Wir kehren Verständnisschwierigkeiten und Konflikte nicht unter den Teppich. Zum Projekt „Miteinander leben“ gehören sie dazu. Wir wollen einander sehen und angesehen werden. Dem anderen Ansehen verleihen bekommt so noch einmal einen neuen Klang.
Das ist Training in der Sehschule des Glaubens. Es geschieht täglich hier in der Neustadt: Unter Nachbarn. In unserem Kindergarten mit Kindern und Eltern aus 21 Nationen. Beim Ökumenischen Mittagstisch, bei dem sich jeden Freitag Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft umeinander sorgen, miteinander essen und austauschen. Ein spezielles Sehtraining gab es letztens beim interreligiösen Fotowettbewerb, der hier in Mainz stattfand. „Zehn muslimische und sieben christliche Jugendliche bildeten sieben gemischte Teams und zogen jeweils zwei Stunden durch die Landeshauptstadt, um gute Motive zur Thematik `Vielfalt, Toleranz und Respekt in Mainz´ zu finden. Dabei entstanden nicht nur tolle Fotos, sondern auch spannende Begegnungen. Neue Perspektiven wurden gesucht und gefunden, interessante Gespräche auf der Suche nach passenden Motiven geführt, neue Orte kennengelernt.“ Ein Foto gefällt mir persönlich besonders: Im Vordergrund eine junge Muslima mit Kopftuch, den Rücken der Kamera zugewandt, der Blick geht über ihre Schulter hinweg. Ihre Hände formen ein Herz mit dem Blick auf die Christuskirche. Ja, wir brauchen sie alle: die Sehschule des Glaubens!
Lernerfolge
Doch wie in jeder Schule: Manchmal ist Lernen einfach mühsam. Den schnellen Erfolg gibt es nicht. Rückschläge sind normal. Wir müssen dranbleiben. Aber andere zu erleben, die ihre Augen offen haben und sich engagieren, steckt an. Macht Lust, dabei zu sein. Und manche Trainingserfolge stellen sich sogar fast von selbst ein. Denn wenn andere uns ihr Mitgefühl zeigen, trainiert das automatisch auch unsere Fähigkeit, mitzufühlen und barmherzig zu sein. Und wenn ich erlebe, dass ich nicht einfach auf den ersten Blick verurteilt werde und eine Chance bekomme, verändert das auch meinen Umgang mit anderen. Auch wenn die Lernfortschritte klein sind – mit der Zeit wird mein Blick genauer. Ich schaue auf das, was nicht gut ist. Spreche es an. Ohne andere dabei klein zu machen.
Ich merke: Jesus hat schon recht. Wer wegschaut, zieht den anderen nur mit in die Grube. Wer wegschaut, sorgt dafür, dass Balken und Splitter bleiben, wo sie sind. Mit der Zeit wird mein Blick genauer und wenn ich Glück habe, richten sich auch genaue Blicke auf mich. Ich werde angesehen. Nicht gemustert. Nicht beurteilt. Einfach angesehen. Da sieht jemand mich, so wie ich bin, mit allen Macken und allen Wundern. Jesus hat recht, dass er uns herausfordert, sehen zu lernen. Es ist unsere einzige Chance, den Blick frei zu bekommen und klar zu erkennen: Was für ein Reichtum, der uns da in den Schoß fällt – mit jedem Menschen, den wir sehen und der uns sieht! Nicht mehr und nicht weniger! So entsteht Miteinander.