“Seid barmherzig …”

Weltumfassende Ethik

Predigttext: Lukas 6,36-42
Kirche / Ort: Johannes-Diakonie / 74869 Schwarzach
Datum: 14.07.2019
Kirchenjahr: 4. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Dr. theol. Heinz Janssen

Predigttext: Lukas 6,36-42 (Übersetzung nach Martin Luther)

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder messen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Gedanken zur Predigt

Lukas 6,36-42, eine Perikope aus der lukanischen Feldrede Jesu, gehört zu den unbestritten wichtigsten biblisch-ethischen Texten. Wichtig ist mir, den Zusammenhang des neutestamentlichen Textes mit den Inhalten des Ersten Testaments, der Bibel Jesu, zu benennen. Zur Exegese verweise ich auf E. Schweizer, NTD 3, Göttingen 1982, S. 80-83 (Schweizer grenzt die Perikope anders als üblich ab: V.37-42). Meine Fragestellung in der Predigt zielt auf elementare ethische Gemeinsamkeiten in den großen Weltreligionen. Angeregt dazu hat mich Hans Küngs Initiative für "Das Ethos in den sechs großen Weltreligionen“. Ist nicht die ethische Frage, die Besinnung auf das Potential in der eigenen religiösen Tradition und die Entdeckung der diesbezüglichen Gemeinsamkeiten in den großen Religionen neben der mystischen Dimension die besondere Herausforderung des dritten Jahrtausends nach Christus? In der Predigt sind einige Zitate aus ethischen Texten anderer Religionen aufgenommen. Ich lasse sie durch eine/n Sprecher/in lesen. Das Predigtlied („Selig seid ihr“) nimmt die Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu auf.

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Was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen … – Soll ich jetzt eine Moralpredigt halten? Hat Jesus eine solche gehalten oder war es dem Evangelisten Lukas so wichtig, eine christliche, d. h. eine auf Christus zurückführende Moral, eine “christliche Ethik” aufzuschreiben?

I.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht. Verdammt nicht. Vergebt“, sagt Jesus.

Wissen wir Menschen nicht, was gut und richtig ist? – Wir sind doch nicht unbarmherzig. Wir spenden für  Notleidende. In jedem Gottesdienst legen wir Geld für Projekte zusammen, mit denen wir anderen Menschen helfen. Wir spielen uns nicht als Richter über andere Menschen auf. Wir halten uns an das Vaterunser und sind bereit zu  vergeben.

„Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder messen“, sagt Jesus weiter. Wir messen doch nur, wo es angebracht ist, oder? Habe ich es nötig, Andere zu beurteilen oder mich mit ihnen zu messen?

Jesus fragt weiter: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“ – Der Balken im eigenen Auge. Hier fragt Jesus nach unserer Ehrlichkeit uns  selbst gegenüber. Jesus ruft uns auf, uns selbst zu ändern. Es ist in seinen Augen nicht meine Aufgabe, den anderen Menschen zu ändern.

Natürlich müssen Eltern und andere Vorgesetze die jungen Menschen erziehen, sie lehren, was gut für sie und zugleich gut für ihre Mitmenschen, auch für die Natur, ist. Selbstverständlich muss ich eingreifen, wenn menschenverachtende Dinge geschehen, und für eine Besserung kämpfen.

II.

Der Balken in meinem Auge ist eine bildhafte Beschreibung meiner eigenen Unvollkommenheit:
Ich und Du – wir haben bei allem Lernen und Bemühen nur ein (kleines) Stück allen Wissens.
Ich und Du – wir verstehen die Ereignisse nur aus unserem bescheidenen momentanen Blickwinkel heraus.
Ich und Du – wir mögen es noch so sehr versuchen, wir werden nicht ohne Schuld  leben. Wir brauchen Barmherzigkeit, verständnis- und liebevollen Umgang miteinander, inneres Augenmaß und Vergebung.

“Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!” Jesus ruft zu einer Ethik auf, die sich an der Barmherzigkeit Gottes orientiert. Das “Wie du mir, so ich dir” bekommt jetzt einen anderen und schöneren Klang: Wie du mir dein Herz zuwendest, so will ich es auch dem Menschen zuwenden, dem ich gerade begegne. Jesu Aufruf zur Barmherzigkeit ist von globaler, umfassenden Weite. Der katholische Theologe Hans Küng hat dafür den Begriff „Weltethos“ geprägt. Was für ein folgenreicher Schritt, wenn alle Menschen der Welt nach diesem Ethos leben würden! Gott sei Dank gibt es überall auf der Welt nicht wenige Menschen, die sich diesem Geist Jesu verpflichtet wissen und danach leben und handeln.

III.

Geht es nicht in jeder Religion um die Frage der Bestimmung des Menschen? Woher er kommt, wohin er geht, wofür er lebt? Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen, weil jede in ganz unterschiedlichen Kulturen und Traditionen ihren Ursprung hat. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Ich möchte heute nach den Gemeinsamkeiten fragen. Entdecken wir sie!

Schauen wir auf das Judentum. Jesus gehörte dieser Religion  an. Seine Bibel ist auch Teil der unsrigen. Wir haben z. B. die Schöpfungsgeschichte gemeinsam (1. Mose / Genesis 1-3) und einen ethisch so grundlegenden Text wie die Zehn Gebote (2. Mose / Exodus 20), und das Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (3. Mose / Leviticus 19,18). Im Talmud steht: „Auf drei Dingen ruht die Welt: auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden“.

Im Islam gilt die Lehre des Koran, dort ist zu lesen (Sure 2, 256; 3,104): „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ und „Aus euch soll eine Gemeinschaft (von Gläubigen) entstehen, die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten“.

Vom Buddhismus sagt man, dass er unserem Religionsverständnis teilweise sehr nahe kommt. Die fünf Grundgebote dieser Religion sind: „Ich gelobe, mich des Tötens zu enthalten, ich gelobe, mich des Stehlens zu enthalten, ich gelobe mich, des unrechten Wandels in Sinnenlust zu enthalten, ich gelobe, mich des Lügens zu enthalten, ich gelobe, mich des Rausches zu enthalten“.

Die chinesische Religion ist von Konfuzius geprägt, er lehrt z. B. Tugenden wie: „Ein- und Unterordnung, (Mit-)Menschlichkeit, Pflichterfüllung, Wissen um das Rechte, Gegenseitigkeit, Toleranz, Ehrfurcht, Erfüllung der Kindespflichten“. Menzius, ein anderer chinesischer Weiser sagt: „Der Gütige lässt die Art, wie er einen geliebten Menschen behandelt, auch dem ungeliebten zuteil werden“.

Zu den großen Weltreligionen gehört der Hinduismus, eine der ältesten Religionen. Im Mahabharata heißt es: „Man sollte nicht nehmen, was dem anderen gehört, das ist eine ewige Verpflichtung“.

Nach Mahatma Gandhi sind die sieben sozialen Sünden: „Politik ohne Prinzipien, Geschäfte ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakter, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Genuss ohne Gewissen, Religion ohne Hingabe“.

Es lohnt sich, nach der Ethik der sechs großen Weltreligionen zu fragen und ihre Gemeinsamkeiten aufzuspüren. Es gibt sicher noch mehr Aussprüche als die hier zitierten, die uns wegen ihrer Gemeinsamkeiten überraschen. Gehen wir auf Suche, suchen wir die Begegnung und das Gespräch mit Menschen, die einer anderen Religion angehören.

IV.

Uns steht in diesem dritten Jahrtausend nach Christus eine große Aufgabe ethischer Besinnung und Praxis bevor. Sie wird noch Generationen herausfordern, aber sie kann die Zukunft der Weltbevölkerung sein. Wir müssen dabei nicht in die Ferne schweifen. Es kann zwar sehr anregend sein, in die Länder mit anderen Religionen zu reisen und sich damit zu befassen. Wichtiger aber scheint mir, die eigenen religiöse Tradition wahrzunehmen, sich damit auseinanderzusetzen und sich auf die Wurzeln unserer nationalen, religiösen und kulturellen Herkunft zu besinnen. Ich habe ja nichts dafür getan, dass ich evangelisch bin. Meine Eltern haben mich in ihre religiöse Tradition hineingenommen und mich darin begleitet. Diese Einsicht schafft eine gute Ausgangsbasis für einen Dialog mit den Menschen anderer Religionen, für das Entdecken von Gemeinsamkeiten und für das Staunen darüber, was wir voneinander lernen können.

Eine Weltethik, die von allen Menschen anerkannt und gelebt wird – welch eine Vision. Der Lohn würde Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung der Schöpfung und ein barmherziger Umgang miteinander sein.

Der Friede Gottes, der alle menschliche Vernunft weit übersteigt, durchdringe uns, unsere Gedanken und Pläne, und lenke sie in eine gute Richtung, damit wir das Leben, die Würde und die Freiheit des anderen Menschen schützen in Gottes geliebter Welt.

 

 

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Ein Kommentar zu ““Seid barmherzig …”

  1. Chr. Kühne

    In den „Gedanken zur Predigt“ nennt der Prediger sein Ziel: eine Ethik in der heutigen Welt, die nach tragfähigen Werten und Normen sucht. Wie kann die aussehen? In der Predigt lesen wir zuerst von den guten Absichten, die jeder Mensch hat. Aber sind wir auch ehrlich uns selber gegenüber? In einem zweiten Abschnitt führt Heinz Janssen den Begriff „Weltethos“ von Hans Küng ein. Und er wendet unser Sprichwort „Wie du mir, so ich dir“ auf Gott an: Wie du mir gegenüber barmherzig bist, erweise auch ich mich barmherzig dir gegenüber. Ist das nicht eine Maxime aller großen Weltreligionen?! Vielleicht ist es für das 3. Jahrtausend wichtig, dass wir uns in unserem je eigenen Glauben an dem ausrichten, „was uns unmittelbar angeht“ (P. Tillich), an dem Gott, an dem „unser Herz hängt“ (M. Luther), sodass unsere Ethik immer einen höheren, göttlichen Bezugspunkt hat. „Der Lohn würde Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung der Schöpfung und ein barmherziger Umgang miteinander sein“, ruft uns der Prediger am Ende und Ziel seiner Predigt zu. Das Lied „Selig seid ihr“ ist eine gute Antwort der Gemeinde auf diese Predigt.

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