Unzufrieden sitzt Karl-Heinz in seinem Rollstuhl. Wie oft hat er das seiner Frau schon gesagt, dass sie ihn nicht so lange warten lassen soll. Er hat seine zweite morgendliche Tasse Kaffee noch nicht getrunken. Auf die zweite Tasse will er auf gar keinen Fall verzichten. Ewig warten will er schon gar nicht. Das weiß sie ganz genau. „Wo bleibt sie nur?“, fragt er sich ungehalten. „Was macht die denn die ganze Zeit?“ „Grete!“ ruft er durchs ganze Haus, „Grete!“. „Ich komm ja schon“, tönt es aus der Küche. Seine Frau beeilt sich. Schnell greift sie nach der Glaskanne aus der Kaffeemaschine und saust ins Wohnzimmer. „Hier hast du deinen Kaffee“, sagt sie und schenkt ihm den Becher voll. „Das wurde aber auch Zeit“, brummt er, beachtet sie nicht weiter und blättert in der Fernsehzeitung. Grete geht mit der Glaskanne in der Hand in die Küche und stellt sie in die Kaffeemaschine zurück. Er ist so ungeduldig geworden. Dauernd schimpft er mit ihr, jagt sie von einer Stelle zur anderen, hat hier einen Wunsch, will da etwas haben. Es ist nicht mehr schön mit ihm. Er ist unzufrieden, mault herum, hat fast immer schlechte Laune. Verstehen kann sie ihn ja. Er hat es nicht leicht.
Karl-Heinz ist mitten aus seinem Beruf herausgerissen worden, bekam einen Schlaganfall, konnte seine Tätigkeit als Versicherungskaufmann nicht mehr ausüben. Die Krankheit hat sein Leben und das ihre von einem Tag auf den anderen verändert. Plötzlich sah Grete sich vor unlösbaren Problemen. Wie das Haus halten, das sie sich vor ein paar Jahren gekauft hatten? Der Schlaganfall brachte sie und Karl-Heinz neben den anderen Schwierigkeiten, die mit der Krankheit einhergingen, in eine finanzielle Notlage. Nächtelang hat Grete sich den Kopf zerbrochen: Wie kann es weitergehen? Mit ihrem Mann konnte sie die Probleme nicht besprechen. Er konnte sich nicht mehr mitteilen, hatte die Sprache verloren. Sie hat alle Kosten durchgerechnet, gekürzt, wo sie nur konnte. Ihre Mutter und die Schwiegereltern haben geholfen. Die finanziellen Probleme hat das Ehepaar letztlich überstanden. Aber die Krankheit und die Veränderungen, die mit Karl-Heinz geschehen sind, haben das Zusammenleben nicht leicht gemacht. Die Krankheit hat ihn zermürbt. Er hat zwar wieder gelernt zu sprechen, aber er ist behindert. Er kann nicht mehr laufen, kann so nicht mehr mit den Menschen kommunizieren, wie er es immer gern gemacht hat.
Zuerst kamen noch die Arbeitskollegen und Nachbarn, fragten nach seinem Befinden. Doch das ließ irgendwann nach. Um Karl-Heinz ist es einsam geworden. Er selbst teilt sich nicht mehr mit, verkapselt sich in sich selbst. Mit der Zeit ist er vereinsamt. Er ist depressiv geworden, nörgelt mit ihr, Grete, herum. Nichts kann sie ihm recht machen. Dauernd hat er etwas auszusetzen. Sie hat bis zu einem gewissen Grad Verständnis. Er hat es nicht leicht. Es gelingt ihr, sich manchmal zusammenzureißen, aber das geht nicht immer. Sie ist selbst mit ihren Kräften am Ende. Sie ist es leid, ihren Urlaub dazu zu verwenden, um mit ihm zum Arzt zu gehen oder Krankenhausaufenthalte zu organisieren. Sie kann nicht mehr und möchte dieses Leben mit einem nörgelnden Mann nicht mehr. Sie ist selbst schon in einer Klinik gewesen, um sich aufzubauen. „Geben Sie Ihren Mann in ein Pflegeheim“, wurde ihr geraten. Das kommt für sie nicht in Frage. Abgesehen davon, dass ihr Mann ihr das nicht verzeihen würde, würde das Haus, dass sie nur mit großer Anstrengung halten konnte, dabei verloren gehen. Am Ende stünde sie mit Nichts da. Das würde niemanden helfen, wenn sie Karl-Heinz in ein Pflegeheim geben würde, ihm nicht und ihr auch nicht. Und so geht es weiter wie bisher. Er lässt weiter seinen Unmut an ihr aus. Er fühlt sich selber dabei nicht wohl. Er merkt, dass es nicht in Ordnung ist, seine Frau, die alles für ihn tut, so zu behandeln. Er weiß: Das ist ungerecht. Aber er kommt aus dem Teufelskreis nicht heraus. Grete kann ebenso wenig das Muster durchbrechen, und so leben sie ihre Tage ohne Licht.
„Lebt als Kinder des Lichts“, lesen wir im Epheserbrief. Als wenn das so einfach wäre. Wir sind gefangen in Strukturen und Verhaltensweisen, können nicht aus unserer Haut. Dabei war es früher so schön gewesen, als die Liebe noch jung war und Karl-Heinz und Grete sich ihr Leben aufgebaut hatten. Es hat sich alles mit der Zeit so abgeschliffen. Schlimme Worte fallen, Beschimpfungen, Verdrehungen, Bezichtigungen, Schuldzuweisungen. Nicht erst seit der Krankheit ist der Umgang unfreundlich und verletzend geworden. Im Nachhinein betrachtet ist es ein schleichender Prozess gewesen. Dabei ist es nicht nur Grete, die eingesteckt hat. Sie teilt auch aus. Sie fühlt sich selbst nicht gut dabei, weiß, dass auch sie ihren Mann oft ungerecht behandelt. Es ist manchmal schwierig in einer Ehe oder einer Beziehung liebevoll und respektvoll miteinander umzugehen. Menschliche Schwächen und Unfähigkeiten erschweren oder verhindern gar einen achtsamen Umgang. Das gilt nicht nur unter Eheleuten oder unter Menschen, die sich nahe stehen, das gilt auch innerhalb einer Christengemeinde. Der Epheserbrief erinnert daran, dass wir geliebte Kinder Gottes und Christi sind. Als Geliebte haben wir es nicht nötig, andere herunterzuputzen. Als Geliebte Gottes und Christi haben wir ein gutes Fundament. Christinnen und Christen leben als Kinder der Liebe und des Lichts. Durch Jesus Christus sind wir geheiligt und haben schon jetzt Anteil am Reich Gottes. Aufgrund dieser Basis benennt der Epheserbrief Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Geheiligte halten sich fern von Unzucht, Unreinheit und Habsucht. Auch passt törichtes und dummes Geschwätz nicht zu Menschen, denen das Reich Gottes verheißen ist.
Was zu Menschen, die von Gott und Christus geliebt und geheiligt sind, passt, ist Danksagung. Es ergibt sich von selbst, dass Geliebte Gottes andere nicht ausbeuten, sie zu Objekten machen und einen persönlichen Nutzen aus ihnen ziehen. Solches Verhalten nennt der Epheserbrief Unzucht. Ebenso wenig passt es zu einem christlichen Leben, rücksichtslos Reichtümer und Güter an sich zu raffen. Verlierer sind diejenigen, die über nicht genügend Mittel und Macht verfügen, sich dagegen zu wehren. Ein habgieriges Verhalten geschieht auf Kosten anderer und beutet Menschen aus. Wer sich so verhält, zieht den Zorn Gottes auf sich. „Halte euch fern von Unzucht, Habgier und Unreinheit“, mahnt der Epheserbrief. Was der Verfasser konkret mit Fernhalten von Unreinheit an dieser Stelle meint, lässt sich nicht genau sagen. Da der Brief an Heidenchristen gerichtet ist, wird er kaum von der Unreinheit sprechen, die dem Verständnis des Judentums entspricht. Möglicherweise nimmt der Epheserbrief die Deutung von Unreinheit auf, die Jesus einmal vorgenommen hat. Jesus hat einmal vor dem Hintergrund einer Diskussion mit Schriftgelehrten und Pharisäern zu dem Volk gesagt: „Nicht was in einem Menschen von außen hineinkommt, – sprich die Speise -, macht den Menschen unrein, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt“ (vgl. Mk 7,15). Diese Deutung von Unreinheit: „Was aus dem Mund eines Menschen herauskommt, macht unrein“ würde passen. Denn der Epheserbrief warnt von schandbaren, dummen und losen Reden. Worte, die zerstören und verletzten, Worte, die die Unwahrheit verbreiten, Worte, die Menschen ins Unrecht setzen, sind unrein. Menschen, die so reden, haben sich die Verheißung auf das Reich Gottes verwirkt. Ein Unreiner wird auch nicht Gottes und Christi Reich erben.
Es ist keine Lappalie, wenn Menschen böse reden. Christus hat uns geheiligt. Das hat Folgen für Sichtweisen und Umgang mit Menschen. Es ist nicht gleichgültig, wie ich rede, lebe, denke und handle. Ich soll mich auch nicht von andern zu bösen Reden und Handlungsweisen verführen lassen. Ich bleibe für mich verantwortlich, wenn ich ihnen nachgebe und kann die Schuld nicht auf andere schieben. Es ist schwerwiegend, wenn sich Kinder Gottes nicht wie Kinder Gottes verhalten. Der Epheserbrief ist davon überzeugt, dass das Folgen für unser Leben hat und für das Leben darüber hinaus. Wir können uns die Verheißung auf das Reich Gottes verspielen. Der Epheserbrief ist Mahnung und Verheißung zugleich. Die Mahnung ist nicht als Drohung zu verstehen, sondern als eindringliches Werben, in der Liebe zu leben. „Ihr seid Gottes Licht“, erinnert der Verfasser des Briefes Christinnen und Christen. „Lebt als Kinder des Lichts.“ Folgt dem Beispiel Gottes, ahmt ihn nach: „Lebt in der Liebe, wie Christus es getan hat.“ Das ist ein hoher Anspruch, Gott nachzuahmen, zu lieben wie Jesus geliebt hat.
Wir spüren selbst, dass wir oft genug versagen. Wir leben oft nicht in der Liebe, sind getrieben von Egoismus, Machtgelüsten und anderen zweifelhaften Motiven. Manchmal verhindert schlichte Unfähigkeit ein Leben in Liebe und freundlicher Zuwendung. Wir stoßen oft genug an unsere Grenzen, leiden darunter. Wir sehnen uns selbst nach einem Leben in Liebe und Güte, so wie der Epheserbrief es fordert. Die Vorstellung, als Kinder des Lichts zu leben, entspricht einer tiefen Sehnsucht in uns. Wie wunderbar, wenn die Früchte der Liebe: Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit, unser Leben bestimmen. Wie wunderbar, wenn Menschen auf der ganzen Welt Güte und Gerechtigkeit widerfahren. Wie wunderbar, wenn die Gewalt ein Ende hat und die Wahrheit endlich über die Lüge siegt. Wenn dieser Zustand vollkommen eintritt, ist das Reich Gottes endgültig gekommen. Wir sind aber schon jetzt Geliebte Gottes und als solche ahmen wir Gottes Beispiel nach. Christus hat uns aus den Fallstricken der Finsternis erlöst. Als bereits jetzt Erlöste leben wir nicht mehr in der Finsternis, wir leben im Licht. Das Licht lassen wir leuchten durch gute Werke. Gott verheißt uns sein Reich. Diejenigen, die das Reich ererben, werden mithelfen, dass Gottes Reich schon hier ein wenig sichtbar wird.
Wir richten unsere Augen auf Gott und auf das, was er uns verheißen hat. Wir blicken auf Christus, der unsere Lebensquelle ist. Tägliche Ärgernisse und Auseinandersetzungen sind damit nicht verschwunden. Sie verlieren ihren Stellenwert; sie sind der Liebe und dem Licht untergeordnet. Dank ist die angemessene Haltung eines geheiligten Menschen. Wer dankbar ist, ändert seinen Sinn; sieht auf die Fülle und nicht auf den Mangel. Wir brauchen das, was uns ärgert und stört, nicht verdrängen und unter den Teppich kehren. Wir dürfen aussprechen, was uns zu schaffen macht, damit wir unseren Ärger loswerden. Wichtig ist, dass das, was ich sage, in Liebe geschieht und den anderen in seiner Persönlichkeit stehen lässt. Auch er ist ein geliebtes Kind Gottes, das Sehnsüchte und Wünsche hat. Unsere Augen blicken auf Gott und seine Liebe. Gottes Augen blicken auf uns und sehen uns freundlich an. Er hat Acht auf uns und hütet uns wie seinen Augapfel.