„Siehe …“
Gott lässt unerwartet neues Leben entstehen
Predigttext: Lukas 1,26-38 (Übersetzung nach Martin Luther, Revison 2017)
Die Ankündigung der Geburt Jesu
26 Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth,
27 zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria.
28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!
29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?
30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden.
31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.
32 Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben,
33 und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?
35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.
36 Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei.
37 Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.
38 Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Erste Gedanken beim Lesen
Ein vertrauter Text. Dargestellt in vielen Bildern. Ich muss mich zwingen, genau hinzuschauen. Eine Jungfrau, eine junge Frau, ein Mädchen, bekommt Besuch von einem Engel. Der moderne Mensch hält hier bereits inne. Kann das sein? Und dann geschieht das Einverständnis: Siehe, ich bin des Herren Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Viele Phantasien haben sich an diese Szene geheftet. Und doch bleibt diese Begegnung „heilig“, besonders. Was ist hier eigentlich geschehen? Wie würde Lukas heute schreiben? Alles liegt in der Zukunft: die Empfängnis, der Name des Kindes, die Geburt. Was lernen wir heute über die Bedeutung von Sexualität? Was sollen wir unseren Kindern heute über Sexualität beibringen? Ist nicht diese Perikope ein Skandal, den man heute anzeigen würde?
(Eigene Übersetzung Christoph Kühne:)
Aber im 6. Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt Galiläas mit Namen Nazareth, zu einer Jungfrau, verlobt mit einem Mann, namens Joseph, aus dem Hause David, und der Name der Jungfrau (war) Mariam.
Und er ging zu ihr hinein und sprach zu ihr: Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr (ist) mit dir.
Aber sie war ob des Wortes verwirrt und überlegte bei sich, was das für eine Begrüßung sei.
Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Mariam! Denn du hast vor Gott Gnade gefunden. Und siehe: du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du wirst seinen Namen JESUS heißen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm „den Thron Davids“, seines Vaters geben, „und er wird regieren“ über das Haus Jakob „in Ewigkeit“, und seines Königtums wird kein Ende sein.
Aber Mariam sprach zu dem Engel: Wie wird dies sein, da ich keinen Mann (er-) kenne?
Und der Engel gab ihr zur Antwort: Heiliger Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich beschatten; deshalb wird auch das Heilige, das geboren wird, Sohn Gottes genannt werden. Und siehe: Elisabeth, deine Verwandte (Frau des greisen Zacharias) - auch sie ist schwanger geworden mit einem Sohn in ihrem Alter, und dies ist der 6. Monat für sie, die als unfruchtbar galt; denn nichts ist unmöglich bei Gott.
Mariam sprach: Siehe, (ich bin) die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort.
Und es ging von ihr der Engel.
Der Besuch des Engels Gabriel bei Maria, der zukünftigen Mutter Jesu, ist in der Kunst oft gemalt und dargestellt worden. Die Älteren unter uns werden dieses Bild kennen. Vielleicht werden sich keine Fragen mehr ergeben zur Geburt Jesu, obgleich dies doch eine spannende Frage ist: Wie ist Jesus zur Welt gekommen? Und vielleicht sollten wir uns den Fragen der Kinder und Jugendlichen stellen: Wie ist Jesus zur Welt gekommen? Und wenn Jesus Gottes Sohn ist, wie kommt dann Gott zur Welt? Überhaupt:
Kann ein Gott „zur Welt kommen“? Ist das nicht völlig ungöttlich? Und warum sollte er zur Welt kommen? Und dann ist da noch die Frage nach der „Jungfrauengeburt“: Hier wird eine Jungfrau dargestellt, ein Mädchen, eine junge Frau, die zwar verlobt ist, aber offenbar noch keine sexuellen Kontakte zu ihrem Verlobten, namens Joseph, hatte. Und wie dürfen wir uns das vorstellen, dass der heilige Geist Mariam „überschattet“? Und dann ist diese junge Frau auch noch einverstanden mit diesem Akt! Würde heute nicht die Zeitschrift „Emma“ gegen eine solche „Vereinigung“ Sturm laufen? Fragen über Fragen. Einen Tag vor Heiligabend.
Während wir unsere Weihnachtseinkäufe machen, braut sich eine sehr fragwürdige und kritische Situation auf. Vielleicht anders ausgedrückt: Die Umstände vor der Geburt Jesu sind alles andere als einfach, problemlos und glatt. Bevor Weihnachten werden kann, geschehen Dinge, die mit klarem Verstand nicht zu fassen sind. Bevor Jesus geboren wird, geschehen Dinge, die anders als moralisch einwandfrei oder „politisch korrekt“ sind. Also: Bevor Gott auf diese Erde kommt, geschehen Dinge, die wir unter normalen Umständen verurteilen würden. Denn ich bitte Sie: Ein Engel kommt zu einem Mädchen. Was bedeutet dies im Klartext? Dieser Engel verspricht das Blaue vom Himmel. Alles, was er sagt, geschieht in der Zukunft. Als ob die junge Deern die Möglichkeit hätte, nein zu sagen.
Wäre Gott im Himmel von der Zustimmung einer jungen Frau abhängig?! Hätte Mariam damals nein gesagt, wäre Gott nicht zur Welt gekommen? Gott wäre im Himmel geblieben, während er jetzt – seit Jesus Christus – unter uns auf Erden ist. Zumindest wäre er damals etwa 30 Jahre auf Erden gewandelt. Die Evangelien berichten von dieser Zeit mit vielen Geschichten von Jesus, wie er geheilt habe, zu den Menschen gesprochen, mit ihnen gegessen und getrunken habe. Und die Menschen hätten das Gefühl gehabt, Gott selber sei in diesem Jesus auf der Erde gewesen.
Das alles hat begonnen mit dem Wort jener Mariam: Siehe, (ich bin) die Magd / Sklavin des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort (Vers 38). In diesen wenigen (im Griechischen: 6!) Worten liegt eine ganze Welt, ein ganzes Leben, eine ganze Existenz. Die Magd, der Knecht (mir fällt für Männer kein anderes Wort ein) Gottes sein – können wir das heute nachvollziehen? Ich bin als Mensch ein Diener Gottes. Auch wenn ich einen Beruf habe, Hobbys und vieles, was ich gerne tue, so bin ich doch Gott verantwortlich. Aus ihm ziehe ich meine Kraft, meine Hoffnung, mein Leben. Gott ist meine Zuflucht für und für (Ps 90). Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde (Ps 73). Mariam: Siehe, (ich bin) die Magd / Sklavin des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort (38).
Der israelische Soziologe und Topautor Harari schreibt in seinem Buch „Homo deus“, dass Gott in unserer Welt nicht mehr vorkommt. Also wird es auch keine Engel-Besuche in unseren Familien geben. Wissenschaft und Forschung kommen ohne eine religiöse Begründung aus. Ob wir an einem Embryo heute die Gen-Schere anlegen oder Lebewesen klonen, ist eine Frage der Effizienz, der bedingungslosen Forschung und – des Geldes. Ethische Fragen geraten in den Geruch von Luxusproblemen. Und auch darüber kann man sich einigen. Einen absoluten Maßstab gibt es nicht. Gott in unserer Welt? Gott in unserer Kirche? Gott in uns und unserer Gemeinschaft?
Manchmal ist es spannend, auf Wörter in einem Text zu achten. So auf das Wort SIEHE in unserem Predigttext. Dreimal kommt diese Aufforderung vor: Siehe, du – Mariam – wirst schwanger werden / Siehe, Elisabeth, deine schon ältere Verwandte, ist bereits im 6. Monat schwanger / Siehe, ich – Mariam – bin des Herren Magd. – Es geht also um Wahrnehmungen von ziemlich weltlichen Dingen. Da soll eine junge Frau schwanger werden. Und natürlich ist bei ihr auch Angst im Spiel. Wie wird mein Leben werden? Kann ich dann noch alles machen, was ich mir vorgenommen habe? Was wird aus meiner Karriere? Wird mein Partner bei mir bleiben? Werde ich meinem Kind gerecht werden?
Wenn Gott in mein Leben tritt, dann geschehen unberechenbare Dinge. Da werden Planungen über den Haufen geworfen. Da bleibt nichts wie es ist. Aber es geschieht etwas neues, unerwartetes. Wenn Gott in mir zur Welt kommt, dann geht eine neue Welt auf. Dann wird, was krumm ist, gleich und schlicht. So heisst es in einem alten Kirchenlied. Wenn Gott in mir zur Welt kommt, dann springen alle Knospen auf, werden alle Nächte hell, teilen Menschen, was sie haben. So heißt es in einem neuen Kirchenlied.
Das 2. SIEHE in unserem Text spricht Elisabeth an, die greise Frau des greisen Priesters Zacharias: Siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn – im 6. Monat. Wir wissen schon, dass hier von Johannes dem Täufer die Rede ist. Also geschieht auch hier Unmögliches. Gott ist Fachmann für Unmögliches! Vielleicht haben wir schon in unserem Leben Dinge erlebt, die wir für unmöglich gehalten haben. Dann sind erstarrte Positionen aufgebrochen. Beziehungen haben sich belebt. Menschen sind lebendig geworden, haben den Weg ins Leben zurückgefunden, haben sich aufgemacht, Freude gefunden und Freude weitergegeben. Haben wieder einen Sinn in ihrem Leben gefunden. Haben Gott gefunden mit einem großen Gefühl der Dankbarkeit. Gott sei Dank!
Und das 3. SIEHE zeigt Mariam, einen Menschen, der sich gegründet weiß in Gott. Wie kommt sie dazu? Unsere Geschichte erzählt von Begegnungen mit einem „Engel“. Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel, dichtet Rudolf Otto Wiemer. Es sind Begegnungen, die uns aufhorchen lassen, die uns konfrontieren, trösten, einfach da sind. Mariam hatte eine Begegnung, die sie nie vergessen hat, die ihr Leben geprägt, verändert, belebt hat.
Wo haben wir in unserem Leben ein SIEHE vernommen, das uns verwandelt hat? Vielleicht war es auch eine Not, waren es „schwere Bande“, oder wir standen „in Spott und Schanden“, wie Paul Gerhardt in seinem Lied „Wie soll ich dich empfangen“ 1653 gedichtet hat. Und dann kam ein „Engel“ und machte mich los und groß und hob „mich hoch zu Ehren“.
Gott macht also Unmögliches möglich. Gott schreibt auf krummen Linien gerade. Und Gott lässt neues Leben entstehen, wo wir es nicht erwartet hätten. Gott ist der ganz Andere, mit dem wir nicht rechnen können und sollen. Und das ist in unserem Glaubensbekenntnis sehr schön ausgedrückt in den Worten, er, Gott, sei „geboren von der Jungfrau Maria“. Dies ist ein echtes Paradox, das uns den Verstand sprengen soll. Denn Gott lässt sich nicht denken. Er ist höher als unsere Vernunft. Daher kann er auch unsere unsere Herzen und Sinne bewahren, wenn unsere Sinne und Herzen versagen und verzagen.
Mariam hat damals Gott in sich hineingelassen. Ihr Wollen war geprägt von Gottes Willen und nicht von eigenen Interessen. „Dein Wille geschehe“ war ihr Wille. Und sie hat ein Kind geboren, das diese unsere Welt bis heute verändert hat. Diesen Gott, der größer ist als unsere Vernunft, wollen wir in uns einlassen, damit wir zu Menschen werden, die fruchtbar werden, lebendig, dankbar. Lasst uns mit Maria beten: „Ach mache du mich Armen zu dieser heil´gen Zeit aus Güte und Erbarmen, Herr Jesu, selbst bereit! Zieh in mein Herz hinein vom Stall und von der Krippen, so werden Herz und Lippen dir allezeit dankbar sein!“
digttextr
Pastor Kühne aktualisiert die bekannte Geschichte zu Beginn mit Fragen. Denn die Umstände der Geburt Jesu sind alles andere als problemlos. Ist Gott im Himmel etwa abhängig von der Zustimmung Marias zur Geburt des Messias für die Welt ? Maria stimmt zu: Ich bin des Herrn Magd. Die ganze Existenz liegt für alle Christen ja in der Aufgabe als Mägde oder Knechte für Gottes REich. Gott ist heute recht fern für viele. Aber immer wenn Gott ins Leben tritt, beginnt ein neues Leben. Auch der Elisabeth wird ein Sohn angekündigt. Gott ist Fachmann für Unmögliches. Er ist höher als unsere Vernunft. Den wollen wir einlassen in unser Leben und beten wie Maria: Zieh in mein Herz hinein. – Pastor Kühne baut in seine Predigt über das Ereignis recht viele Fragen ein und macht sie dadurch lebendig. Dadurch führt seine Predigt auch zum überzeugenden Ziel nach innerem dramaturgischen Aufbau. Ein schöne zeitgenössiche Predigt vor Weihnachten.