Staatsleistungen
Evangelischer Glaube und Demokratie sind in besonderer Weise verbunden
Predigttext | Römer 13,1-7 |
---|---|
Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 03.11.2024 |
Kirchenjahr: | 23. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Pfarrer Professor Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Römer13,1-7 (Übersetzung nach Martin Luther)
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut.
Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.
Es ist ja so, die Leserinnen und Leser müßten sich eigentlich mit dem Briefschreiber sofort auf einen heftigen Streit einlassen. Geht’s noch? Der Staat, das ist doch in diesem Blickwinkel ein Tyrann, ein Diktator, ein König oder ein Bundeskanzler. Und schon blinken gleich drei Verständnisfehler auf, die die Deutung dieser Passage erschweren.
Erstens: Der Staat wird falsch beschrieben, wenn er nur von der Spitze her betrachtet wird. Der Staat geht nicht auf in den Richtlinienentscheidungen des Präsidenten oder der Premierministerin.
Zweitens: Zwischen einem Diktator und einer Bundeskanzlerin ist zu unterscheiden.
Drittens ist unüberlegter Gehorsam keine eigene Eigenschaft, die mündige Bürgerinnen und Bürger auszeichnen sollte.
Läßt sich dieser politische Kuddelmuddel auflösen? Ich will es versuchen.
I
Paulus schreibt, legt eine erste Spur. Nur am Anfang schreibt er von Obrigkeit und Untertanengeist, am Ende erwähnt er Steuern und Zoll. Das macht darauf aufmerksam, daß der Staat nicht nur aus Machtausübung, sondern aus einer Fülle kleiner Aufgaben und Funktionen besteht. Der Staat ist ein riesiges komplexes Gebäude, in dem Beamte und Bürger gemeinsam eine Fülle von Aufgaben für das Gemeinwohl erledigen. Dabei helfen Abgeordnete und Richter, Notare und Gemeinderäte, Justizvollzugsbeamte und städtischer Ordnungsdienst, der Bundespräsident und die Ministerpräsidenten, Mitarbeiter der Müllabfuhr und Polizisten, Zollbeamte, Amtsräte, Kreistagsmitglieder, Generäle und Kampfschwimmer, Studienräte, Grundschullehrer und Hausmeister von Schulen, Rechtspfleger und die Mitarbeiter von Bürgerbüros und Standesämtern. All diese Personen ergeben zusammen mit den Bürgerinnen und Bürger den Staat, der für uns ermöglicht, hoffentlich problemfreien Alltag zu organisieren und Konflikte zu schlichten: Urteile fällen, Personalausweise ausstellen, Müll abholen, für Katastrophenschutz bereitstehen, Bundesverdienstkreuze verleihen, Bußgeldbescheide erteilen und viele mehr.
Selbstverständlich ist das kein angenehmes Gefühl, wenn die zu schnellen Autofahrer ein schlechtes Porträtfoto aus dem Blitzer erhalten und ein Ordnungsgeld bezahlen müssen. Manchmal handelt der Staat, und das ist mit einer Geld- oder sogar Freiheitsstrafe verbunden. Manchmal kommt per Brief ein Steuerbescheid, mit der Aufforderung Hunderte oder gar Tausende von Euro nachzuzahlen. So schmerzhaft das sein mag, eine staatliche Radarfalle am Straßenrand sorgt dafür, daß die Menschen am Steuer so langsam fahren, daß die ungeschützteren Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet werden. Und mit den Steuern der Bürger baut der Staat Brücken und Grundschulen, Kindergärten und Schwimmbäder, Museen und Universitäten. Wie das Steuergeld auf einzelne Bereiche verteilt wird, darüber streiten Abgeordnete. Deren Haushaltsentscheidungen können die Bürger zustimmen oder damit hadern. Aber es wird kontinuierlich dafür gesorgt, daß Aufgaben des Gemeinwohls manchmal besser, manchmal schlechter erledigt werden. Der Staat hat die Aufgabe, die erhobenen Steuergelder für eine ausreichende Daseinsvorsorge zu verwenden. Gerade darum darf die Demokratie nicht auf eine einzelne Machtfigur, nicht einmal den Bundeskanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt, reduziert werden.
Paulus hatte nach meiner Überzeugung solch ein komplexes, wenn auch nicht demokratisches Staatsgebilde im Blick, denn er erwähnt ausdrücklich Steuern und Zoll. Daraus darf aber nicht abgeleitet werden, daß jede Staatsform, auch eine schlechte Regierung von Gott eingesetzt ist und Gehorsam beanspruchen darf.
II
Der demokratische Staat geht über das Wechselspiel von Obrigkeit und Gehorsam hinaus. Er greift weit hinaus über einen einzelnen Machthaber. Die biblische Entstehungslinie des demokratischen Staates geht auf das Modell des Bundes zurück. Bürgerinnen und Bürger schließen miteinander einen Bund, um die Aufgabe der Daseinsvorsorge zu übernehmen und sich gegenseitig zu helfen. Dabei lösen sich die Bürger in der Übernahme von Verantwortung ab. Regierende und Regierte sind miteinander austauschbar. Das zeigt sich nicht nur daran, daß bei einer Bundestagswahl Regierungskoalitionen abgewählt werden können. Es gab schon Bundeskanzler wie Helmut Schmidt, die sind durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt worden. Eine Demokratie lebt vom Modell des Bundes und des Vertrags, nicht vom Untertanengehorsam.
Deswegen ist es gut biblisch zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger der Demokratie sind mündig, sie leben ihre Freiheit und Persönlichkeit, solange diese nicht mit der Freiheit anderer kollidiert. In einer Demokratie werden Konflikte durch Entscheidungen der Mehrheit in den Parlamenten oder durch Urteile der (hohen) Gerichte gelöst. Letzteres geschieht vor allem dann, wenn eine Entscheidung gegen die Verfassung verstößt.
Lange Zeit dachte man, Demokratien seien einigermaßen sichere und stabile Einrichtungen. Gruppen und einzelne, die ihre Interessen aggressiv und kompromißlos verfolgen, können sie nicht gefährden. In den Vereinigten Staaten findet am Dienstag eine entscheidende Präsidentschaftswahl statt. Viele Menschen in Europa, im Nahen Osten und anderswo blicken mit Besorgnis nach Washington, weil ein amerikanischer Präsident im Grunde auch die Richtlinien der Weltinnenpolitik bestimmt. Nun ist über die beiden Kandidaten vieles gesagt worden, übrigens auch über ihre religiösen Bindungen.
Unter der Perspektive der Paulus-Passage wird aber etwas anderes wichtig: Der eine Kandidat, der erdbeerblond gefärbte Milliardär zeigt sich nicht zum ersten Mal als rücksichtsloser Streber nach der Macht. Er hat das Ergebnis der letzten Präsidentschaftswahl nie anerkannt. Er hat offensichtlich versucht, die Entscheidungen der Wahlbehörden zu manipulieren. Und er hat am 6. Januar einen Aufstand angezettelt, der die amerikanische Demokratie, immerhin mehr als zweihundert Jahre alt, in Gefahr brachte. Er zeigt in seinem Reden und Handeln keinen Respekt für die demokratischen Institutionen und die Gerichte. Er betrachtet das demokratische Gemeinwesen nicht als einen Wert in sich selbst, der geschützt werden muß. Statt dessen nutzt er die demokratischen Institutionen nur als Vehikel, um sich selbst Macht und Einfluß zu verschaffen. Ich verzichte nun darauf, Ihnen das an weiteren Beispielen zu demonstrieren. Klar ist: Wer so Politik betreibt, der beschädigt die Demokratie.
Es ist ganz richtig, Demokratie hat mit der Verteilung von Macht zu tun. Aber es kommt entscheidend darauf, daß die Macht an mehrere Parteien, Gruppen, einzelne Menschen verteilt wird. Demokratie ist ein politisches System, in der Machtausübung in ein bestimmtes Gleichgewicht gebracht wird. Wer politisch nur an sich selbst denkt, bringt diese Balance zum Einstürzen. Und die Entwicklung, die die Vereinigten Staaten in den letzten beiden Jahrzehnten genommen haben, macht sich leider auch in Europa und in der Bundesrepublik breit.
III
Evangelischer Glaube und Demokratie sind in besonderer Weise verbunden. Um das zu demonstrieren, haben ältere lutherische Theologen immer wieder die Predigtpassage aus dem Römerbrief zitiert. Der Reformationstag, das Jubiläum der Neuentdeckung des evangelischen Glaubens, liegt gerade einmal drei Tage zurück: Martin Luther selbst hielt sich an die Landesfürsten, die ihn vor der lebensbedrohenden Gewalt des Papstes beschützten. Spätere lutherische Theologen haben darum aus dem Obrigkeitsbegriff des Paulus den Satz gemacht: Jeder Obrigkeit ist zu gehorchen, gleich ob es sich um Diktatur oder Demokratie handelt. Das hat für Mißverständnisse und gravierende Fehler gesorgt, denn eine ganze Reihe älterer Theologen waren der Meinung, auch der Diktatur der Nationalsozialisten sei wegen der Briefpassage unbedingter Gehorsam zu leisten.
Diese theologische Fehlentwicklung ist in der Bundesrepublik in einer jahrzehntelangen Diskussion korrigiert worden. Das kostete Zeit und mühsame Auseinandersetzungen. Aber nun ist ein Konsens deutlich geworden. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist bestimmt von Menschenwürde und Menschenrechten, von Ehrfurcht vor Gott und gegenseitigem Respekt. Niemand bestreitet, daß auch eine Demokratie mit inneren Problemen und Konflikten kämpft. Aber es sind gangbare Wege angezeigt, solche Konflikte zu lösen. Das Ordungsgeld wegen Geschwindigkeitsübertretung, über das sich Autofahrer ärgern, ist dabei übrigens kein Problem der Demokratie, sondern ein Problem des Rasers oder der Raserin, die erwischt wurden.
Paulus schrieb über den römischen Staat, der selbstverständlich nicht als Demokratie organisiert war. Rom war ein Imperium, das von wenigen Reichen und ihren Interessen beherrscht wurde. Paulus war sich bewußt, daß die kleinen christlichen Gemeinden keinen Einfluß auf die politischen Verhältnisse rund ums Mittelmeer nehmen konnten. Er favorisierte einen Staat, der bestimmte Aufgaben erfüllt: Er ernährt und schützt seine Bürger, tritt für Infrastruktur und Versorgung ein. Paulus liegt daran, daß die Bürgerinnen und Bürger ihr Leben in einer Ordnung führen können, die ihnen Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit gewährleistet. Dabei nimmt er den Herrschaftsmißbrauch der Senatoren, Kaiser und Konsuln einfach in Kauf. Darüber kann man streiten. Aber wenn man streitet, sind die unterschiedlichen Ebenen gegenwärtiger demokratischer Verhältnisse und eines vergangenen römischen Imperiums zu beachten.
In diesem Zusammenhang fällt auch der Satz über die Gewalt des Schwertes, den man später immer als eine Rechtfertigung der Todesstrafe verstanden hat. Doch nach heutigem Verständnis reichen Souveränität und Machtmonopol des Staates nicht, um einzelnen seiner Bürger gewaltsam das Leben zu nehmen, und sei es um ein schweres Verbrechen zu bestrafen. Denn nicht der Staat, sondern allein Gott ist Herr über Leben und Tod eines Menschen.
IV
Nun mögen Sie vielleicht einwenden: Predigst Du heute nur für staatliche Beamte und Angestellte, von der Müllabfuhr über Abgeordnete und Gemeinderäte bis zur Oberamtsrätin? Das Gegenteil ist der Fall: Ich will am Ende der Predigt auf einen Vers dieser Briefpassage besonders hinweisen. Paulus schreibt, es sei nötig, „um des Gewissens willen“ ein positives Verhältnis zum Staat zu finden.
Die Bürger im Staat sind um des Gewissens willen aufgefordert, sich zu engagieren. Bürger werden nicht als gehorsame Untertanen, nicht als nützliche Idioten oder als Herde von Stimmvieh beschrieben. Wer ein Gewissen hat, findet Kriterien seines eigenen Handelns in sich selbst; er trifft eigenständig Entscheidungen, ausgerichtet an Werten, die er nach seiner inneren Überzeugung für gut und richtig hält. Deser Punkt ist wichtiger als aller Nebeldunst von Gehorsam, Hörigkeit und Strafandrohung, der auch durch diese Briefpassage wabert.
Niemand täusche sich: Auch die verfassungsmäßig orientierte Demokratie besitzt kein ausschließlich positives Bild vom Menschen. Wo der Glaube von Sündern spricht, die Gott nichts zutrauen, da spricht die demokratische Verfassung von Machtkonzentration und darum von möglichem Machtmißbrauch. Ein amerikanisches Beispiel dafür habe ich erwähnt. Den demokratischen Vertrag schließen Menschen in Freiheit und Würde, mit eigenen (Menschen-)Rechten. Das klingt schön, ist aber in Wahrheit sehr anstrengend, weil die Institutionen der Demokratie immer wieder durch leichtere und schwerere Konflikte auf die Probe gestellt werden. Was das für Konflikte sind, dafür muß ich keine Beispiele nennen, denn es handelt sich um all die Streitthemen, die wir aus Nachrichten und Zeitungen nur allzu gut kennen.
Jeder weiß, daß diese Konflikte in den letzten Jahrzehnten von einigen Interessengruppen klein- oder großgeredet, mit Fake News verfälscht oder manipuliert wurden. Das Klima der politischen Öffentlichkeit wurde mit falschen Anschuldigungen vergiftet. Durch soziale Medien und Internet ist das politische Geschäft nicht leichter geworden. Trotzdem ist der als Demokratie organisierte Staat, der auf der Wechselseitigkeit von Regierenden und Regierten beruht, allen Schutz und alle Sorge der Bürgerinnen und Bürger wert.
Und nun, ganz am Ende: Ist das nur politische Theorie, oder hat das auch etwas mit Gott zu tun? Paulus spricht von einem Gott, den die Sorge um die Menschen nicht losläßt. Darum hat er sie zu seinen Ebenbildern gemacht, ihnen Würde und Rechte gegeben. Darum hat er ihnen Freiheit gegeben, eigene (politische) Entscheidungen zu treffen. Gott greift nicht so in die Politik ein, daß er unmittelbar politische Richtungen lenkt. Gott – so Paulus – greift so in das Weltgeschehen, daß er die Freiheit der Menschen zu eigenen Entscheidungen respektiert und annimmt. Seit Jesus Christus wissen wir, daß dieser Gott die Menschen, gerade die Bedürftigen, die Schwachen, die von der Politik Benachteiligten, von denen es nicht wenige gibt, nicht alleine läßt.
Paulus macht uns Hoffnung: Er legt ein Verständnis von Politik nahe, das evangelische Freiheit, Gottes Barmherzigkeit und politische Vernunft zusammenbringt. Also: Auch ein eher nüchterner Predigttext kann am Ende die Herzen, unsere Herzen füllen.