Staunenswert
Glück des Augenblicks
Predigttext: Römer 11,33-36 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
33O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
34Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jes 40,13)35Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3)
36Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Staunen
O welch eine Tiefe des Reichtums! – Nein, ich habe nicht viel Zeit zu reagieren. Würde ich zu überlegen anfangen – ich würde alles verspielen. Ich darf staunen! Staunen geht so: Oh! Oder: O lala! – in die Länge gezogen. Oder: Wow!
Eine tolle Aussicht oben auf dem Berg nach langer Wanderung. Der überraschende Schuss auf’s Tor, unerwartet. Oder der Anblick der Braut in ihrem weißen Kleid. Für große Augen gibt es nur die kleinen Laute, für Überraschungen das lange „Oh“. Oh wie schön! Oh wie toll!
In dem „O“ steckt das Glück des Augenblicks. Auf einmal ist es da. Das „O“ lässt sich nicht planen. Es hat etwas von einer Sternschnuppe. Konservieren lässt sich das „O“ auch nicht. Es will immer neu sein. Manchmal auch: Was für eine Wendung! O welch eine Tiefe des Reichtums!
Reichtum
Ich möchte auch so aus dem Häuschen sein wie der Mensch, der uns heute einen Brief schreibt. Paulus. Mitten in einem Brief, der noch nicht einmal an sein Ende gekommen ist, gerät er mit einem „O“ ins Staunen.
„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“
Was hat Paulus gesehen? Wovon ist er überrascht worden? Was haut ihn um? Eigentlich müssten wir jetzt den Brief ganz lesen, bis zu dieser „O-Stelle“. Leider geht das jetzt nicht. Sie könnten sich das aber vornehmen. Der Brief, der zunächst an die Gemeinde in Rom adressiert ist, gehört zu den Meisterwerken. Zu den Meisterwerken, Gottes Weisheit und die Erkenntnis Gottes Satz für Satz zu entfalten. Gottes Weisheit soll, ja muss doch auch erkannt werden! Von uns! Paulus, von Hause aus Jude und jüdischer Gelehrter, sieht mit großem Staunen, dass Gott seinem Volk Israel die Treue unverbrüchlich hält, aber auch uns, die Menschen aus allen Völkern, in seinen Bund hineinnimmt. Verdient hat das keiner – sich verdienen kann das auch keiner. Martin Luther hat das für sein Leben, dann aber auch für die „Reformation“ der Kirche mit den Worten umschrieben: allein aus Gnade, allein aus Glauben. Gott teilt seinen Reichtum mit uns – den Reichtum seiner Liebe.
Blättern wir doch einmal in diesem Brief, der Kirchenväter, Reformatoren, Philosophen – katholische und evangelische Christen – Glaubende und Atheisten so sehr inspiriert hat, dass wir die Buchseiten wohl in Millionen abzählen müssten:
Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen (zu denen gehören wir dann über so manche Umwege) – Röm. 1,16
Es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten und werden (doch) ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist – Röm. 3,23f.
Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus… denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist – Röm. 5,1.5b
So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind – Röm. 8,1
Ich bin gewiss, das weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn – Röm 8,38f.
Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen – Röm. 11,29
Und dann heißt es, für Juden und Christen, aus der Feder des sog. Völkerapostels, der seine jüdischen Wurzeln nie verleugnete: Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme – Röm. 11,32. Damit er sich aller erbarme!
Wer Freude daran hat, auch dem Reichtum der Sprache nachzugehen, entdeckt im Wort Barmherzigkeit den Mutterschoß. Die Urgeborgenheit, aus der wir kommen, die uns unser ganzes Leben trägt, die uns auch dann noch umhüllt, wenn wir in Tiefen geraten, wenn uns das Leben abhandenkommt, wenn wir sterben. Gott wird nicht nur als Vater angesprochen – er ist uns Mutter zugleich. Paulus formuliert das auch dem großen Reichtum jüdischer Überlieferungen: Damit er sich aller erbarme!
Jetzt sind wir an der Stelle angekommen, an der unser Paulus, selbst überrascht, voller Staunen sagen muss: O! O was für ein Reichtum. Es ist, als ob er nach einem langen Weg in die Weite schaut. Es ist, als ob endlich der Ball ins Tor geschossen ist. Es ist, als ob eine Braut in ihrem weißen Kleid zum ersten Mal von allen gesehen und bewundert wird. Darf ich so verwegen sein? In dem kleinen „O“ sind wir Gott so nahe, wie in den vielen Sätzen und Worten nicht, die wir, kunstvoll, ängstlich oder voller Zweifel aneinanderreihen.
Paulus fragt noch: Wer hat des Herrn Sinn erkannt ?– wer hat ihm etwas gegeben? Aber eine Antwort wartet Paulus nicht ab, gibt sie auch nicht. Von IHM – und durch IH – und zu IHM sind alle Dinge. Das kann ich erkennen – das kann ich mir geben lassen.
Geheimnis
Dass wir heute ein Fest feiern, an dem die hohen Töne angemessen sind, ist, ich muss es zugeben, noch gar nicht so richtig gewürdigt. Unser Sonntag trägt den Namen „Trinitatis“. Oder: Dreifaltigkeit. Oder: Dreieinigkeit. An diesem Sonntag tauchen wir in den Reichtum Gottes ein – wir sehen, wir loben ihn, wir freuen uns an seiner Liebe.
Wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen, sprechen wir: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir könnten dabei auch, wie unsere kath. Brüder und Schwestern, ein Kreuzzeichen machen über Stirn, Brust und Schulter. Herznähe!
Wenn wir wieder nach Hause gehen, wird der Segen auf uns gelegt. Dreifaltig. Der Herr segne dich … Er lasse sein Angesicht leuchten über dir … Er erhebe sein Angesicht auf dich.
Bei Gelegenheit könnte ich Ihnen über die verwickelte und spannende Geschichte erzählen, in der das Geheimnis der Trinität Gottes durchdacht und in Worte gefasst wurde. Wir freuen uns, dass Gott uns Vater und Mutter ist, dass Jesus Mensch wurde wie wir, dass Gottes Geist Völker, Sprachen und Überlieferungen verbindet. Es ist gar nicht so leicht, das alles zu denken. Aber bestaunen können wir es. Wer staunt, sieht mehr – wer das Staunen verlernt, übersieht alles.
Übrigens: Bei jeder Taufe geschieht ein Wunder. Ein Mensch wird in das Geheimnis Gottes gestellt. Ich taufe dich…. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Detlev Block, ein Liederdichter, hat 1990 ein Tauflied von Johann Jakob Rambach aus dem Jahr 1729 neu in Worte gesetzt. Ich zitiere jetzt nur die ersten Zeilen: Mein Schöpfer, steh mir bei, sei meines Leben Licht und führe mich zum Ziel, wie es dein Wort verspricht… – Mein Heiland, segne mich und nimm mich gnädig an, dass ich mit dir vereint im Glauben wachsen kann… – Mein Tröster, gib mir kraft, mach mich erwartungsvoll und hilf mir zu bestehen, wo ich bestehen soll… – Gott Vater, Sohn und Geist, du liebst mich, wie ich bin. Schenk diese Zuversicht mir tief in Herz und Sinn…
Gespräch
Wenn Paulus vor dem Reichtum Gottes ins Staunen gerät, ahnt er, dass Gott selbst nicht einsam ist, sondern reich, nicht allein, sondern in Gemeinschaft. Alles, was Gott tut, sagt, schafft, segnet, verwandelt – das macht er mit sich aus. Lange bevor wir ihm begegnen, herausfordern, anklagen oder verurteilen. Viele biblische Geschichten erzählen davon. Darum brauchen wir die vielen Sonntage nach Trinitatis. Sie gelten als „festlose Zeit“ – was für eine Dummheit. Wir Menschen schauen Gott ins Herz. Dass wir dabei reich werden, wird zwar so deutlich nicht gesagt, aber gehört zum Staunen. Denn, wie gesagt: Gott ist für Überraschungen gut.
Da ich jetzt aber zum Schluss kommen muss – Sie haben bestimmt schon Hunger -, will ich meinem Freund Martin Luther kurz zuhören. Er sagt gerade in einer Predigt: Der da spricht, ist der Vater. Das Wort, das gesprochen wird, ist der Sohn. Der aber hört, ist der Hl. Geist. Gott ist ein einzigartiges, großes, alles Begreifen sprengende – Gespräch. Für uns. Pro nobis.
Staunen geht so: Oh! Oder: O lala! – in die Länge gezogen. Oder: Wow! Eine Liebeserklärung. Frieden – zugesagt. Der Anblick einer neuen Welt.
unserem Herrn.
… ein kleiner Nachtrag / Liedhinweis: Rock mey soul / Gottes Liebe ist so wunderbar (Nr. 133 in: Liederbuch zwischen Himmel und Erde, tvd: Düsseldorf 6. Aufl. 2011 – ging überraschenderweise sogar im Altenheim: hoch, weit – tief eher nicht.