Mögen Sie wirklich spannende, ja dramatische Geschichten? Dann ist die Geschichte heute etwas für Sie: Eifersüchtig und misstrauisch verfolgte vor langer Zeit in Israel der mächtige König Saul den jungen David und dessen Weggefährten. David hatte lange am Königshof gelebt, aber Saul wurde eifersüchtig und paranoid, so kam es zum Bruch zwischen den beiden. Saul war sich sicher: David könnte sein Nachfolger auf dem Königsthron sein. Also verfolgte er ihn, um ihn zu töten. Eines Tages begegneten sie sich wirklich. Und dieses Treffen geschah so (Predigttext: 1. Samuel 24, 1-20, Übersetzung: Basisbibel):
I
1 Und David zog von dort [sc. aus der Wüste Maon] hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt.
Es gibt immer einen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Wer ist schon perfekt? Wir wissen das: Wir sehen das bei anderen. Wir sehen das bei uns selbst, wenn wir ehrlich sind. Die Frage ist nicht, ob wir immer gut sind. Die Frage im Leben ist immer, wie wir uns entscheiden, wenn gut und bös unklar werden.
Saul und David standen ständig vor dieser Entscheidung. Die Geschichte, die wir heute hören, stammt aus vorchristlicher Zeit und ist mindestens 3000 Jahre alt. Aber manches allzu Menschliche scheint sich kaum verändert zu haben und so lohnt sich der Blick auf diese dramatische Episode.
David war mit seinen Männern auf der Flucht. Es ging um Leben und Tod. Immer wieder gelang es ihm, der Verfolgung durch König Saul zu entkommen. Und König Saul? Immer wieder war er ganz nah dran, David zu fangen und aus dem Weg zu räumen. Jetzt war es wieder soweit: David versteckte sich ganz hinten in einer Höhle und hörte mit seinen Männern Geräusche vom Eingang. Saul betrat ganz alleine den Eingang, erleichterte sich, legte sich hin und schlief ein. Draußen hielten seine Männer Wache. Das war die Gelegenheit für David! Seine Männer drängen ihn: Jetzt erfüllt sich Gottes Verheißung: „Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt.“Nutze diese Chance, töte Saul und werde König!
Bleiben wir an dieser Szene stehen: Da flüstern die Männer ihrem Anführer einen Mordbefehl ins Ohr. Und damit dieser Ratschlag auch wirklich Gewicht hat, zitieren Sie ein angebliches Prophetenwort. „Diese Chance ist Gottes Geschenk an dich“, meinen sie zu David hin. „Nun ist der Weg frei zum Thron in Jerusalem, und es erfüllt sich die Verheißung, dass du der neue gesalbte König Israels wirst. Jetzt ist die Zeit!
Kann David der Versuchung widerstehen? Hat er nicht ein Recht, sich zu schützen, nachdem Saul ihm nach dem Leben trachtet? Was werden seine Männer von ihm denken, wenn er diese Chance verstreichen lässt? David nimmt sein Messer, steht auf und geht auf den Eingang der Höhle zu. Da geschieht folgendes:
II
Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls.
6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 7 und er sprach zu seinen Männern: Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen.
Eine dramatische Szene, denn all dies spielt sich im Dunkel und im Schweigen ab. Äußerlich kann man nicht viel sehen. Davids Männer warteten gespannt, ob sie nun zu Soldaten eines neuen Königs geworden sind. Aber erst einmal passiert nichts. Saul schläft. David schleicht sich leise wieder in den hintersten Bereich der Höhle zurück. Alles was er seinen Männern zeigt, war ein Stück Stoff…
In der Hebräischen Bibel wird diese Szene ausgesprochen prägnant formuliert. Leise, ganz leise und vorsichtig schneidet David den Stoff von Sauls Mantel. Sich kaum bewegend, niemanden verratend und vielleicht noch durch ein Geräusch den Tod riskierend, tastet sich David in Sicherheit. Aber in ihm ist alles in Aufruhr. Der Puls rast und sein Herz schlägt hart. Er begreift die Gefahr, in der er persönlich schwebt. Entweder tötet ihn Saul mit seinen Männern oder er tötet den von Gott eingesetzten König und zieht damit den Zorn Gottes auf sich. Davids Männer sind wütend, als sie begreifen, was (nicht) geschehen war. Aber David ist absolut klar: einen Gesalbten Gottes töte ich nicht. Und er verbietet seinen Männern, etwas zu tun. Die Formulierung im Hebräischen kann man auch so übersetzen: „Da zerriss David sie mit Worten“. Deutlicher kann man einen Befehl nicht umschreiben.
Halten wir kurz fest: David will seine Herrschaft nicht mit einem Mord beginnen; nicht einmal, wenn ihm das als Chance Gottes nahegelegt wird. Er besinnt sich auf seinen Glauben und respektiert, dass Saul immer noch der von Gott eingesetzte König bleibt.
Niemand kann uns die eigene Verantwortung im Leben abnehmen. Niemand kann uns die Verantwortung vor Gott abnehmen. Das muss jede und jeder selbst verantworten. Aber die Geschichte geht weiter:
III
Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging,
9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um. Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. 10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des HERRN. [12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen.] 13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; 14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! [16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand!]
Was wir hier so flüssig lesen können, ist in Wirklichkeit unfassbar schwer. David geht ein extremes Risiko ein. Er liefert sich praktisch dem Saul aus. Er setzt alles auf eine Karte, nimmt allen Mut zusammen und spricht den König an. Er beginnt voller Respekt mit Worten des Vertrauens: „Mein Herr und König!“ Danach gibt er die Entscheidung an Saul: „Entscheide du, wem du vertrauen willst. Den Gerüchten, die behaupten, ich wolle dich ins Unglück stürzen; oder deinen eigenen Augen, die sehen, dass Gott mir jede Gelegenheit gab, dir Böses zu tun – und ich tat es nicht. Gott hat dich zum König eingesetzt, das gilt. Also werde ich nichts Frevelhaftes tun. Denn daraus kann nichts Gutes werden. Saul, entscheide du.“
David setzt auf Einsicht. Er riskiert alles, sogar sein Leben. Wenn er sich täuscht, dann würde er das nicht überleben. Versöhnung braucht Mut, großen Mut. Versöhnung sucht den Frieden auch mit dem Gegner und will Leben statt Tod, Liebe statt Hass, Fürsorge statt Gleichgültigkeit. Versöhnung ist auch der Schlüssel zum Glauben. Glaube und Hass, Glaube und Tod sind Gegensätze. Es ist Davids Glaube, der ihn davor bewahrt, Saul zu töten. Es ist Davids Glaube, der ihn weitsichtig macht und ihm zeigt, dass aus Bösem nie etwas Gutes entstehen kann. Über Macht und Gerechtigkeit kann nur Gott urteilen. Und so entsteht ein Raum für Versöhnung. Wie reagiert nun Saul auf dieses überraschende Angebot?
IV
17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast!
Für einen Moment geschieht hier etwas Großes. Hier begegnen sich zwei Könige. Saul, dessen Tage gezählt sind und David, dem aufsteigenden Stern am Himmel Israels. Für einen Moment ist jedes Misstrauen, jeder Hass, jeder Machthunger verschwunden. Wir lesen hier ein außergewöhnliches Stück Literatur! Die Geschichte ist so angelegt, dass beide - Saul und David - nicht so handeln, wie es von ihnen erwartet wird, sondern wahre Größe zeigen können. So endet Verfolgung und Todesdrohung, so endet paranoide Angst und Hass. Möglich wurde dies durch Davids großen Mut und durch den Glauben beider an denselben Gott. Beide konnten sich an die Werte erinnern, die dem Glauben an Gott zugrunde liegen.
So alt diese Geschichte ist, so aktuell sind die Anfragen an unsere Zeit: Heute geschieht Regierung durch Parlamente, die von vielen gewählt werden. Die Herrschaft ist immer auf Zeit übertragen. Das ist gut so. Bisher galt: Wer seine Kraft der Politik zur Verfügung stellt, verdient erst einmal unseren Respekt. Wie aber ist Versöhnung in einer Gesellschaft möglich, die immer weniger Respekt mehr vor ihren Amtsträgern hat? Es gehört zur Demokratie, dass wir Entscheidungen hinterfragen und immer wieder auch streiten über den richtigen Weg zu einem respektvollen menschlichen Leben. Was aber, wenn der Respekt voreinander nicht mehr zu den akzeptierten Grundwerten gehört?
Zu einer guten Zukunft, zu klugen Entscheidungen gehört Mut. Damit es Menschen gut geht, darf man nicht den einfachen Weg gehen. David folgt seinen Freunden nicht, weder in deren Streben nach Macht noch bei deren Behauptung, Gott gebe die Gelegenheit, die Macht zu ergreifen. David hat in unserer Geschichte ein sicheres Gespür dafür, dass der Glaube an Gott ein redliches Leben voraussetzt. 1600 Jahre später beginnt in Europa die Diskussion darüber, ob ein redlicher Zweck auch kriminelle Mittel rechtfertigt. Die bis heute dauernde Diskussion darüber ist verräterisch: Um mit David zu sprechen, muss es heißen: Wenn es am Ende gut werden soll, dann muss der Weg dahin auch schon gut und redlich sein. Der Zweck heiligt die Mittel - und legt die Mittel damit fest.
An immer mehr Orten dieser Welt sehen wir, wie alt werdende Männer sich an ihre Macht klammern und dabei kriminelle Methoden und gewissenlose Rechtsbeugung ohne jedes Skrupel einsetzen. Nichts ist Ihnen heilig, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist wohl wieder Zeit, sich auf gemeinsame Werte zu einigen statt sie nur ständig zu diskutieren. David setzte selbst bei seinem Gegner Saul auf dessen Respekt vor Gott. Sein Mut hat sich gelohnt, er machte so Versöhnung möglich.
Wer ist schon perfekt? Es gibt immer einen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber die entscheidende Frage ist doch immer, wie wir uns entscheiden, wenn gut und bös unklar werden. Davids Mut, Sauls Einsicht – und der Moment der Versöhnung. Wir brauchen solche Sternstunden.