„Warum sind Sie eigentlich Pastorin geworden?“ so wurde ich in den Jahren meiner Berufstätigkeit immer wieder gefragt. Es war meistens so, dass nicht meine Kompetenz in Frage gestellt wurde, sondern dass meine GesprächspartnerInnen eine Art Berufungsgeschichte erwarteten, den einen großen Moment, zu dem ich wusste: Das erwartet Gott jetzt von mir.
Mir war das immer eher peinlich, denn den einen großen Moment hat es bei mir nie gegeben. Zwar sagten meine Klassenkameradinnen bei einem Klassentreffen 25 Jahre später, sie hätten immer gewusst, dass ich einmal Pastorin werden würde, aber mir selbst war das längst nicht so klar, ich habe auch die ersten Semester nicht Theologie studiert. In Zeiten, als es noch nicht so selbstverständlich war, dass eine Frau diesen Beruf ausübte (und in einigen Gemeinde ist es heute noch nicht selbstverständlich!), hätte ich mir manchmal solch ein eindeutiges Berufungserlebnis gewünscht, vielleicht nicht ganz so großartig und furchteinflößend, wie Hesekiel das erlebte, aber so ein kleines hätte ich schon gern gehabt.
Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass Hesekiel nicht so ganz erfreut war über das, was er erlebte. Er erlebte einen Sturm, vielleicht so wie das Tief Sabine in der letzten Woche, Wesen, die wie Menschen aussahen, aber vier Gesichter hatten und in jede Richtung gehen konnten, ohne sich umzudrehen, große Räder, so dass er vor Angst hinfiel.
Als Gott dann in unserem Predigttext zu ihm sprach, war es auch nicht so besonders erfreulich. Er soll wieder aufstehen, und dann wird er zu den Israeliten gesandt und zu den Völkern, und es wird ihm gleich gesagt, dass Israel abtrünnig ist und Gott nicht gehorcht. Er soll sich nicht fürchten, obwohl sie nicht auf ihn hören werden, ihn auch verfolgen werden – und wenn er sie nicht warnt und sie deshalb ohne Warnung in ihr Verderben laufen, dann ist er verantwortlich. Ich finde, das sind keine schönen Aussichten für die Zukunft.
Prophetische Zeitgeschichte
Hesekiel steht dabei in einer Tradition mit Jesaja, Amos und Jeremia, der zur gleichen Zeit lebte und Gottes Wort verkündigte. Jeremia lebte allerdings in Israel, sprach zu dem Volk dort, während Hesekiel in Babylon wirkte. Er war mit vielen anderen 597 vor Chr. dorthin verschleppt worden, nachdem Israel gegen Nebukadnezar II. einen Krieg verloren hatte. Trotzdem waren die Mächtigen nicht zur Einsicht gekommen, wie er und Jeremia es bezeugen. Sie verfielen in die alten Fehler wie vor der Niederlage, und 587, also 10 Jahre, nachdem Hesekiel und die anderen nach Babylon verschleppt wurden, verloren sie wieder gegen Babylon und fast alle wurden umgesiedelt.
Was mich immer erstaunte, war, dass die Propheten des Alten Testaments Dinge kritisiert haben, unter denen wir heute noch immer leiden. 2500 Jahre später haben wir vieles immer noch nicht umgesetzt, was diese Menschen forderten, haben wir immer noch nicht aus ihren Worten gelernt.
Nicht erledigte Aufgaben
So ermahnen sie immer wieder, man sollte Witwen, Waisen, Arme und Fremdlinge nicht unterdrücken und betrügen. Das sind altertümliche Worte, deshalb erkennen wir vielleicht nicht sofort, dass genau diese Bevölkerungsgruppen immer noch benachteiligt sind. Rentnerinnen – meistens Witwen, wenn die Rente des Ehemannes wegfällt – gehören zu den Ärmsten in unserem Land. Alleinerziehende und ihre Kinder – in gewisser Weise Waisen – gehören zu einer der größten Gruppen der Hartz IV Bezieher. Und die Ausländerfeindlichkeit – Fremdlingenfeindlichkeit – ist groß.
„Lebensmittel sind zu billig“, so wurde es gerade offiziell festgestellt, Billigmode ist verpönt. Dabei haben die Tafeln großen Zulauf von Bedürftigen, wenn Lebensmittel wirklich zu billig wären, bzw das Grundeinkommen auch für teurere Lebensmittel reichen würde, dann müsste es Tafeln gar nicht geben. Teure Kleidung kann man von dem Hartz IV Satz auch nicht kaufen. Und nun wird diesen Menschen auch noch Schuldgefühle gemacht, dass sie schuld sein sollen an Umweltzerstörung und der Ausbeutung von Näherinnen überall auf der Welt. Geflüchtete und andere Neubürger sind für einige bei uns schuld an allem Unglück bei uns, müssen teilweise um Leben und Gesundheit fürchten.
Außerdem wird dem Volk Israel immer wieder vorgeworfen, dass es Götzendienst begeht. Baal, Astarte und andere Götter wurden in alten Heiligtümern verehrt. Es wurden aber auch alte Heiligtümer Gottes verboten. Jakob z.B. träumte in Bethel von Gott und errichtete ihm dort einen Altar, später galt dieses Heiligtum als verboten. Unabhängigkeit von einer Großmacht, nationale Identität ist auch etwas, von dem wir träumen. Der Brexit ist Folge solch eines Traums, und auch in Deutschland gibt es Menschen, die gerne wieder als Deutsche allein entscheiden wollen, was wir tun und was wir lassen, Deutschland zuerst sozusagen.
Richtig und falsch
Das war bestimmt für die Menschen damals nicht immer einfach zu entscheiden, was gut war und was böse. Wir wissen jetzt, dass die Propheten Recht hatten – aber es wird immer wieder erzählt, dass es damals auch andere Propheten gab, die das genaue Gegenteil von Hesekiel, Jesaja, Amos, Jeremia und den anderen Schriftpropheten als Wort Gottes verkündigten. Ihre Worte sind nicht überliefert, weil sich im Laufe der Geschichte ihre Prophezeiungen als unwahr herausgestellt haben – ihre Zuhörer damals wussten aber davon nichts.
Ganz genau so geht es uns heute immer noch. Es ist schwierig zu entscheiden, was gut ist und was richtig, was Gottes Wille ist und was nicht. Sind die Lebensmittel zu teuer, müssen Menschen hungern, sind sie zu billig, geht es den Bauern schlecht und die Umwelt leidet. Fremde kommen zu uns, die andere Sitten und Gebräuche – und andere Religionen – haben, und einige vertragen sich nicht mit dem, was unsere Vorstellung von Menschenwürde, von Gottes Geboten sind. Es ist immer wieder schwer, und immer wieder wird neu diskutiert und gestritten, wie man sich zu verhalten hat.
Da wäre es schon schön, solch ein Berufungserlebnis zu haben wie die Propheten, wie heute hier Ezechiel es schildert. Aber auch von anderen kennen wir Visionen und Gottesworte. Wer solch eine Vision gehabt hat wie Hesekiel, zu dem Gott so direkt gesprochen hat wie zu ihm, der weiß, dass er recht hat, dass seine Worte wirklich die Worte Gottes sind und nicht irgendwelche eigenen Meinungen.
Andererseits macht es auch intolerant. Wenn ich meine, Gottes Wille wäre es, A zu tun, und jemand anders ist sich genauso sicher, dass B Gottes Willen entspricht, und wir sind uns beide sicher, dass es Gott selbst war, der zu uns gesprochen hat, dann gibt es keinen Kompromiss mehr, man kann sich nicht mehr irgendwo in der Mitte treffen. An den amerikanischen Evangelikalen, die sich ganz sicher sind, dass Donald Trump der von Gott gewählte amerikanische Präsident ist – weil er Abtreibungen verbieten und Waffen weiter erlauben will – kann man gut sehen, wohin das führt. Dass er Frauen benutzt hat, Arme noch ärmer macht, Unfrieden stiftet, das fällt dann angesichts des angeblichen Willens Gottes nicht mehr ins Gewicht.
Bücher essen
Deshalb finde ich das Ende unseres Predigttextes entscheidend: Gott gibt Hesekiel eine Buchrolle zu essen – damals wurden Bücher ja als großes Papierstück beschrieben und dann zusammengerollt – und diese Buchrolle war so inhaltsreich, dass sie von beiden Seiten beschreiben war. Nun war Papyrus ein Naturprodukt, und auch Tinte bestand aus natürlichen Zutaten, aber trotzdem möchte ich das nicht essen müssen. In Spionagefilmen oder Krimis essen Menschen manchmal ja wichtige Nachrichten, damit sie niemand anderes lesen kann, ich habe mir das immer schrecklich vorgestellt.
Diese Buchrolle ist auch nicht besonders erfreulich. Darauf geschrieben waren Klagen und Seufzer und Weherufe, so wird es beschrieben, nicht unbedingt das, was man essen und danach verkündigen möchte. Doch dann kommt die große Überraschung: Die Buchrolle schmeckt süß. In Psalm 119, 103 wird gesagt: Dein Wort ist in meinem Munde süßer als Honig, und genau so erlebt Hesekiel es hier. Und genauso können wir es auch erleben.
Natürlich müssen wir dazu unsere Bibel nicht essen, aber wir können sie lesen, sie verschlingen, auf Gottes Wort hören, es befolgen. Es wird uns vielleicht nicht die Antworten geben, die wir hören wollen, wir werden auch nicht alles verstehen, so wie die Visionen des Hesekiel auch ohne viel Vorwissen unverständlich sind.
Aber Gott wird uns nahe sein, Er wird uns trösten und stärken. Vielleicht werden wir es nicht als Berufungserlebnis nehmen, so wie ich mich an keines erinnern kann, aber wir werden wissen: Das ist es, was Gott von uns will, dafür sollen wir uns einsetzen, dort sollen wir helfen, dort sollen wir fernbleiben. Gottes Wort ist die Verbindung zwischen damals und heute, und durch Sein Wort spricht Gott noch heute zu uns, und es ist süßer als Honig.