I
Es ist gegen 01.00 Uhr Morgens. Dröhnende Schlagermusik liegt in der Luft. Das Tanzvergnügen ist in vollem Gange. Tanzen verrät viel über Menschen und über Beziehungen. Anja zum Beispiel tanzt heute nicht mit ihrem Mann Thomas, sondern mit Ben. Denn Ben ist ein Bild von einem Mann und hat den Dreh raus. Er hat Rhythmus im Blut – ganz im Gegensatz zu Thomas. Der steht auf der Empore des Saales, die Hand in der Hosentasche zur Faust geballt und blickt auf die tanzenden Menschen hinunter, vor allem auf Anja und Ben. Im Vorübertanzen wirft Anja ihm einem Blick zu, der zu sagen scheint: „Guck mal, lieber Thomas, so müsstet du tanzen! So müsstest du sein! So stelle ich mir den idealen Mann, meinen Mann, vor!“ Das war der legendäre Tropfen, der das Fass zu Überlaufen bringt, war eine Drehung zu viel, ein Augenschlag zu viel in die falsche Richtung! Thomas stürmt die Treppen hinunter und rennt aus dem Saal. Er ist wütend. Macht Schluss. Ende. Aus.
II
Auch Israel hat getanzt. Israel hat um das goldene Kalb getanzt. Groß und prächtig ist die Kultfigur, ganz so wie Israel sich einen Gott vorstellt. Doch der Glanz trügt und blendet. Denn Israels Gott ist ein anderer, ganz anders als das goldene Kalb. Er ist unsichtbar und doch da. Er lässt sich nicht in Bilder und Figuren pressen, nicht von Wünschen fesseln, nicht in Vorstellungen bannen. Eigentlich weiß Israel das genau. Doch es ist schwer, einem unsichtbaren Gott zu vertrauen, sich seiner Gegenwart bewusst zu sein, wo man ihn nicht sehen, nicht fühlen und nicht zeigen kann. Israel braucht ist – etwas anderes. Israel braucht ein sichtbares Zeichen der Stärke, gerade jetzt, wo Mose weg ist, die starke Stimme, Mose die starke Hand.
Wen wundert es, dass Israel schwach wird? Gottes Volk gestaltet sich ein goldenes Kalb, einen mächtigen Stier, so wie Götterbilder eben aussehen. Israel opfert seinem goldenen Gott, betet ihn an, tanzt jubelnd um seinen Gott, so als wolle es aller Welt zurufen: „Guckt mal, da ist unser Gott! So muss er sein, unser Gott! So sehen mächtige Götter aus!“ Und Gott? Wo ist der? Gott ist oben auf dem Berg mit Mose. Er sieht dem Treiben unten zu. Lange. Verlassen. Wütend. Voller Enttäuschung blickt Gott auf den Tanz ums goldene Kalb hinab. Irgendwann reicht es. Gott zieht sich zurück. Mit diesem Volk will er nichts zu tun haben. Gott verlässt sein Volk. Will es sogar in seinem Zorn zerstören. Den Bund beenden.
(Lesung des Predigttextes)
III
Gott reicht es! Er distanziert sich von Israel. Das ist nicht mehr sein Volk. Und genau das macht er Mose klar. „Dein Volk, Mose, hat schändlich gehandelt (Ex 32,7)! Guck es dir an, das Treiben deines Volkes da unten! Ich mache da nicht mehr mit. Soll es doch gehen, dein Volk! Soll es doch tanzen, dein Volk! Mich hat es verloren. Allein mein Zorn folgt ihm nach!“ Mose nimmt Gottes Worte nicht hin, Mose nimmt diese Trennung nicht an. Er will Gott sein Volk zurückgeben. „Ach Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Hand aus Ägyptenland geführt hast (Ex 32,11)?“ Mose zieht alle Register, fragt, bittet, fleht, redet mit Engelzungen und strengen Worten, appelliert und argumentiert. „Warum hast du dein Volk befreit – etwa, um es nun zu zerstören? Was sollen die heidnischen Völker denken? Erinnerst du nicht die Verheißungen, die du deinem Volk ins Herz gelegt hast?“ Und tatsächlich! Gott erinnert sich. Mose hat Erfolg.
Gott lässt sich bewegen. Moses Bitten und Flehen wirkt. Gott zieht seinen zornigen Entschluss zurück, er nimmt Israel zurück, er kommt zurück zu seinem Volk. „Da gereute den Herrn das Urteil, das er seinem Volk zugedacht hatte (Ex 32,14).“ Nun könnte so manch einer denken: Was ist das für ein Gott, der sich einfach umstimmen lässt und bereut? Ist er schwach? Leichtfertig? Oder ist er gar jemand, den man manipulieren und formen kann? „Sich umstimmen zu lassen und anderen Sinnes zu werden geziemt sich nicht einmal für einen charaktervollen Menschen, geschweige denn für Gott.“ – so denken nicht nur heute richtige Männer, sondern so formulierte es schon die antike Philosophie (Maximos von Tyros). Doch der Eindruck täuscht. Wankelmütig ist Gott nicht. Wenn er sich abkehrt von seinem Zorn, wenn er umkehrt, so kehrt er nur zu Israel und seinem Bund zurück. Gerade in Gottes Reue liegt seine Treue.
IV
Tanzen verrät viel über Menschen und über Beziehungen. Manche Paare wirken so als würden sie miteinander kämpfen, andere inszenieren ihre Liebe gekonnt und vertraut. Manche tanzen gegen den Rhythmus an, manche tanzen nebeneinander her, einige tanzen allein. Wem werfen wir uns in die Arme? Was lenkt unsere Schritte, was bestimmt unseren Rhythmus, wem sehen wir ins Angesicht? Der Soziologie Ulrich Beck hat vor einiger Zeit die Gesellschaft analysiert. Was er sieht, bringt er mit der Wendung „Tanz um das goldene Selbst“ auf den Punkt. Das scheint auch der Tanzstil unserer Zeit zu sein.
Wir tanzen auf uns selbst fixiert, alles dreht sich um uns selbst, wir drehen uns um uns selbst. So tanzen Egozentriker. Dreh-und Angelpunkte sind allein die eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Wer so tanzt, hat sowohl den Nächsten als auch Gott aus den Augen verloren und durch sich selbst ersetzt. So als sähen wir in einem Spiegel unser Spielbild und riefen ihm zu: „Sieh‘ mich an! Stark und mächtig bin ich! So wie ein Gott!“ Schon Martin Luther kannte das. Er spricht vom „Menschen, der in sich selbst verkrümmt“ ist. Ein verkrampfte Haltung, ein einsamer Tanz um die eigene Mitte, selbstverschlungenes Kreisen um sich selbst. Wer so tanzt, kann keinen anderen sehen; der sieht nicht links und rechts, der sieht nur sich.
Wen würde es wundern, wenn Gott uns aus den Augen verlieren und uns keines Blickes mehr würdigen würde? Doch das geschieht nicht! Wir haben einen Fürsprecher, einen Vermittler, einen, der uns die Augen und Gott das Herz öffnet. Jesus Christus. Wie Mose erinnert Jesus Gott an seine Liebe und lenkt seinen Blick auf unsere Not. Denn die ist groß! Der „Tanz ums goldene Selbst“ ist kein reiner Freudentaumel. Der Schein trügt. Da ist kein Du, das mich hält, das meine Schritte zu Quellen neuer Kraft führt, zu grünen Auen und frischem Wasser. Der „Tanz ums goldene Selbst“ bleibt ein einsamer Tanz, bei dem der Tänzer auf der Stelle tritt bis er die Kraft verliert. Wie ein Kreisel, der sich immer schleppender dreht und zu Boden geht, weil niemand ihm neuen Schwung gibt und in Bewegung setzt. Am Ende bleibt ein gebrochenes Ich, das Kraft allein aus seiner Schwäche schöpfen muss. Was für ein trauriger, was für ein tragischer Tanz! Doch so muss es nicht sein. Wir haben einen, der uns das Tanzen lehrt. Jesus Christus. Er rührt uns an, reißt uns aus dem Kreisen um uns selbst, lenkt unsere Blicke himmelwärts und zeigt uns Gottes Angesicht. Wir können neu beginnen. „Das Gehen ein Tanz, das Wort ein Gesang (M. Houellebecq).“
V
Doris hat Erfolg. Sie ist Thomas nachgerannt auf den Parkplatz, hat ihn gebeten, bekniet, hat appelliert und argumentiert. „Komm wieder! Anja meint es nicht so. Sie hat halt ihre Vorstellungen. Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist und finde das auch nicht gut. Aber: Willst du alles über Bord werfen wegen eines dummen Tanzes? Denk doch an dein Versprechen! Denk daran, was ihr gemeinsam erlebt, durchlitten, erhofft habt! Sollten die Kritiker eurer Liebe am Ende Recht behalten?“ Doris ist eine gute Fürsprecherin. Erst winkt Thomas ab, ist verletzt, hat Angst sein Gesicht zu verlieren. Wie sieht das denn aus, wenn ich da jetzt wieder reingehe?
Doch am Ende hat Doris Erfolg. Ihre Worte, ihre Bitten erreichen Thomas, besänftigen ihn. Im Grunde sagt sie nicht Neues, sondern spricht nur aus, was Thomas die ganze Zeit bewegt und was er tief im Herzen weiß. Er liebt Anja. Deswegen wirft Thomas seinen Entschluss, Schluss zu machen, über Bord und bleibt sich gerade dabei treu. Weil er seiner Liebe treu bleibt. Er kommt zu Anja zurück. Am Ende dieses Festes bleibt ein anrührendes Bild. Anja und Thomas tanzen. Ganz langsam, ganz vorsichtig, so als müssten sie es wieder miteinander lernen, so als hätten sie Angst Fehler zu machen, so als ahnten sie, es kann wieder geschehen. Aber jeder sieht: Es passt kein Blatt zwischen die beiden. So eng ist ihr Bund.