Tausend Blumen blühen

In der Liebe und im Glauben müssen Denken und Gefühl, Herz und Verstand zusammenkommen

Predigttext: Hohelied 2,8-13
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 04.12.2022
Kirchenjahr: 2. Sonntag im Advent
Autor/in: PD Pfarrer Dr. theol. Wolfgang Vögele

Predigttext: Hoheslied 2,8-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

 

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Eigentlich blüht das zu frühlingshaft, um winterlich wahr zu sein. Wir werden stumme Zeugen eines beginnenden erotischen Abenteuers. Kein Erzähler beobachtet als Voyeur durchs Schlüsselloch, wie die beiden Liebenden sich an- und ausgezogen verwickeln. Die jungen Leute sind selig mit sich selbst beschäftigt. Ihre Namen bleiben uns vorenthalten; sie heißen ‚mein Freund‘ oder ‚meine Freundin‘. Sie nehmen sich das gut Recht, selbst von eigener Liebe zu sprechen. Die Zuhörer bleiben außen vor ihrer Intimität.

I. Die junge Frau flötet zuerst ihren Liebhaber herbei, sie ruft ihm erwartungsvoll zu, bis er freundlich und fröhlich aus der Ferne antwortet. Und der junge Mann trägt die Natur im Gepäck; er bringt den Frühling mit, Turteltauben, Feigenbäume und Weinreben, deren Trauben erst im Herbst geerntet werden. Man könnte weitere Frühlingspflanzen hinzufügen: die Schneeglöckchen, die durch die Schneedecke brechen, später weiß und rosa blühenden Knospen der Magnolien, die schrillgelben Osterglocken und Wochen davor die violetten, weißen und gelben Krokusse, am schönsten in riesigen Feldern wie Wasserlachen um die Stämme alter Bäume herum. Frühling ist auch zu hören: singende Amseln, zwitschernde Stare, die mit anderen Zugvögeln aus dem Süden zurückkehren, blökende Mutterschafe, die ihre Lämmer austragen. Frühling ist Liebe, und Liebe ist Frühling. Alles ist neu, aufregend. Alles wächst. Alles blüht. Alles gedeiht. Der Wind wird milder, es taut allenthalben. Der junge Freund und seine Freundin haben keine Mühe, sich in den rasenden Frühlingstaumel einzureihen.

Ob sie verheiratet sind, mit Trauschein zusammenleben –  keiner weiß es und keinen interessiert es. Die beiden Erzähler verraten es nicht. Schönheit triumphiert über Erklärung. Hinter die Liebe rückt alles weitere in die zweite Reihe. Alle Zuhörer spüren, daß ihre Liebe schon bald aus der wortreichen Phase des Kennenlernens in erhitzte Umarmungen und Küssen übergehen wird. Sehr schön, im adventsbekränzten Dezember an den blühenden Frühling und an erste große Liebe erinnert zu werden. Lauer Frühling weht sanft in den eiskalten Dezember hinein, die Liebe der jungen Leute hängt am geschmückten Adventskranz wie zwei besonders schöne purpurrote Schleifen.

II. Der Frühlings- und Liebeszauber wird aber sofort zerstört, wenn diese kurze Szene, in der sich gar kein Anhaltspunkt für Glaube, Liebe und Gott findet, vorschnell mit Moral, Theologie oder – noch schlimmer – klerikaler Lehre aufgeladen und zweckentfremdet wird. Dennoch bleibt eine sozusagen meteorologische Unschärfe zwischen den Frühlingsgefühlen der Liebesszene und den Schneekristallen der Adventszeit. Dem gilt es nachzugehen. Von der zärtlichen Liebe führen viele Wege zum Advent, auch vorsichtige und behutsame. Man muss nicht immer den rücksichtslosen Weg gehen.

Man kann mit dem Presslufthammer der Tradition eine Unterführung von Umarmung, Berührung und Liebeszauber zu Gott, Gemeinde und Gottesdienst durchbrechen. Schön ist das nicht: Maschinen und brachiale Gewalt sind der Liebe nicht angemessen. Außerdem ist dieser Weg schon viel zu oft beschritten worden. Zu viele Kirchenleute haben sich gedrückt vor der Zumutung, mit der nötigen Sanftmut über Liebe und Zärtlichkeit zu schreiben. Sträflicherweise haben sie die Liebe nur als Federkernmatratze für dogmatische Rechthaberei genutzt.

Dabei haben sie folgendes vergessen: Liebe hat ihr Eigenrecht, dazu Selbständigkeit und Würde. Sie verschwindet, wo Dritte sie als Mittel zum Zweck missbrauchen. Liebe benötigt keine Erklärungen, Begründungen und Interpretationen. Die Schönheit dieser kurzen Erzählung aus dem Hohelied blüht in einer kurz angebundenen Gesprächsszene: Begrüßung, Umarmung, Frühling, Einverständnis. Mehr braucht es nicht, damit sich das Rad der Zuneigung in Gang setzt. Jeder weiß, was gemeint ist, drastische Beschreibungen sind nicht nötig. Und der Rest, das Schönere, Größere, Wunderbarere muss gar nicht erst erzählt werden, denn die Details finden wie von selbst den Weg in die Vorstellungskraft der Leserinnen und Zuhörer.

Liebe ist an sich selbst schön. Umarmungen und Küsse müssen nicht erklärt, definiert, begründet und zerredet werden. Liebe leuchtet aus sich selbst. Und das gilt selbst dann, wenn die Liebe, wie es den Anschein hat, in den Glauben eingebettet ist. Glaube übersteigt Rechthaberei. In ihm wohnt eine bestimmte Kreativität; in seinem Abglanz und seiner Ausstrahlung zeigt sich die Lebenswelt in neuem Licht. Und wenn man es aktueller will: In seiner Ausstrahlung zeigt sich auch die so genannte „One Love“ Kapitänsbinde für Fußballnationalmannschaften, vor der der Welt-Fußballverband solche Angst hatte, dass er sie bei schweren sportlichen Strafen verbieten musste. Im Hohelied lieben, küssen und umarmen sich Freundin und Freund, eine junge Frau und einer junger Mann. Es spräche im übrigen biblisch und theologisch nichts dagegen, wenn sich eine Frau und Frau küssen und umarmen würden. Es wäre Grund zu Freude. Und genauso würde man sich freuen, wenn ein junger Mann küssend und liebesselig zu einem anderen jungen Mann finden würde.

Das gilt zu jeder Zeit: Wenn die Orangenbäume, die Magnolien, die Schneeglöckchen blühen, wenn im Sommer bei Trockenheit oder die wenigen Gräser in der Hitze vertrocknen oder wenn im Herbst die welken Blätter von den Bäumen fallen. Und das gilt im Winter, wenn bei einer Fußballweltmeisterschaft das Gastgeberland schwule, lesbische und queere Menschen offen oder heimlich diskriminiert. Liebe ist an sich selbst schön und gut – wie eine blühende Rose in der Oase, von Morgentau benetzt.

III. Aber  wir wollten einen Weg bahnen vom Liebesfrühling zum Adventslicht, vom Happy End des Sommers zur Geburt des Christkinds. Den brachialen Weg durch die Unterführung wollten wir nicht nehmen. Der etwas längere Umweg führt über die Blicke der Augen. Wer verliebt ist, will den anderen, die andere anschauen, ihn oder sie unter keinen Umständen aus den Augen verlieren. Wer sich verliebt, will auf Gegenliebe stoßen. Er will Gnade in den Augen des anderen finden. Die Verbindung der Liebe stellt sich besonders am Anfang, aber auch später über die Blicke her, die sich die Liebenden gegenseitig zuwerfen.

Die Passage aus dem Hohelied lebt von Blicken, und gleichzeitig markiert sie den Übergang von Blicken zu Berührungen und dann von Berührungen zu Umarmungen. Das Paar kommt sich näher und behält sich künftig im zärtlichen Auge. Liebe beginnt mit Augenblicken und verbindet ein Paar zu einer dauerhaften Beziehung.

Das gilt ähnlich für den Glauben. Wer glaubt, der sucht allerdings nicht eine Beziehung zu einem anderen Menschen, sondern zu Gott. Von diesem sagt die Bibel, er sei unsichtbar (vgl. Joh 1,18; 1Joh 4,12), auch wenn er gelegentlich in den biblischen Erzählungen die Gestalt eines Dornbuschs, eines Feuers, eines Windhauchs oder eines Engels annimmt. Trotzdem entzieht sich Gott den Blicken der Menschen. Das genau ändert sich an Weihnachten. Gott wird Mensch. Der unsichtbare Gott wird sichtbar. Er wird zum kleinen, schutzlosen Baby, das angeschaut und bestaunt werden kann. Maria sieht es demütig nach der Geburt. Josef sieht es grummelnd, weil er sich doch übergangen fühlt. Die Hirten sehen es anbetend nach einem Hinweis des Engels. In diesem kleinen Baby wird der allmächtige, unsichtbare Gott zu einem Menschen, der geliebt werden kann.

Bei einer Krimi-Autorin fand ich einmal den Satz: „Es haben die am meisten Macht, uns zu verwunden, die wir lieben. Wir legen schlafend unser Leben in ihre Arme“. Die Krimi-Autorin denkt an Väter, Söhne, Ehefrauen und Partner, die beim Mordfall stets als erste in Verdacht geraten. Die nächsten Verwandten werden verdächtigt, gerade weil übergroße Liebe stets die Gefahr beschwört, überfordert und enttäuscht zu werden – und in der Folge zu schrecklichen Straftaten führt. Ich bin überzeugt, dass die Krimi-Autorin nicht an die Krippe gedacht hat. In dieser provisorischen Wiege schläft ein kleines Kind, wahrscheinlich nicht einmal warm genug angezogen. Gott hat seinen Sohn in die Arme der Menschen gebettet. Er hat das getan, weil er die Menschen liebt.

Schon über diesem kleinen, hilflosen Menschen schwebt das Kreuz von Karfreitag. In alten Bildern von Weihnachten ist dieses Kreuz stets mindestens in einem Symbol gegenwärtig. Liebe ist etwas Großes, sowohl die Liebe zwischen Menschen als auch die Liebe Gottes zu den Menschen. Aber diese Liebe ist darin auch zweideutig, dass sie enttäuscht werden kann. Beziehungsstatus: sehr kompliziert.

IV. Die Weihnachtsgeschichte und das Hohelied verlassen sich ganz auf den Zauber des Anfangs: auf seliges Lächeln und verliebte Blicke, zärtliche Umarmungen und gehauchte Küsse. Im Hohelied schauen sich Freundin und Freund an: Sie spüren den Frühling und entbrennen in berauschender Liebe. Genauso schiebt sich im Advent Weihnachten als Fest der sehenden Liebe in den Blick. Hirtenjungen und Schäfermädchen, die Weisen aus dem Morgenland, der behäbige Ochse und der sture Esel sehen das kleine Baby. Und zugleich sehen und ahnen sie in diesem schreienden kleinen Wesen den allmächtigen und barmherzigen Gott.

Das Hohelied und die Weihnachtsgeschichte, erotische und glaubende Liebe, junger Mann und junge Frau, Maria, Joseph und das Kind – in allen Fällen stellen Augen-Blicke Beziehungen und Vertrauen her. Blicke gelten der Geliebten und dem Geliebten. Sie richten sich auf Gott. Liebe wird sichtbar. Gott wird sichtbar. Glaube findet seine Zentralperspektive in einem schutzbedürftigen Menschen, um den sich Vater und Mutter kümmern. Zwei Liebende sagen von sich, sie hätten sich auf den ersten Blick verliebt. Vater und Mutter lieben ihr Kind im Moment der Geburt, wenn es, noch mit der schlabbrigen Nabelschnur, das erste Mal zu sehen ist.

Zur Liebe, der erotischen wie der glaubenden, gehören Augen-Blicke, die unverrückbar, nämlich im Herzen, eine Beziehung herstellen. Solche Beziehungen können nicht geplant oder berechnet werden. Sie sind angewiesen auf die Hilfe des Heiligen Geistes. In der Liebe und im Glauben müssen Denken und Gefühl, Herz und Verstand zusammenkommen. Ist die Liebe auf diese Weise einmal entstanden, wird sie gefährdet, wenn sie durch Mauern, Leitplanken oder zu viele Verkehrsschilder eingegrenzt und kanalisiert wird. Erotische Liebe verdorrt, wenn sie zur Zwangsgemeinschaft eingezäunt wird, genauso wie glaubende Liebe verdorrt, wenn sie nur als Antrieb zur moralischen Befolgung von Regeln und Gesetzen missbraucht wird.

Liebe ist die Fähigkeit, ohne Regeln zu leben und sich dennoch zwischen Partnern aufeinander verlassen zu können. Und das gilt auch für den Glauben. In dem kleinen Baby verwandelt sich der allmächtige Gott in ein winziges, gefährdetes Wesen, das ohne die Hilfe der Eltern nicht überlebensfähig wäre.

Egal ob erotische oder glaubende Liebe – wir brauchen dringend beides in einer Welt sinnloser Kriege, unvernünftiger Politik und ökologischer Zerstörung. Die vielen Stichworte dazu sind zu oft aufgezählt worden. Sie kennen sie alle aus Nachrichten und Zeitung. Die Kraft der Gottes- und Menschenliebe überwindet, nicht wie ein Panzer, der das Hindernis überrollt, sondern wie die Blüte des Weihnachtssterns, der mit seiner leuchtend roten Farbe Betrachter erfreut. Gottes- und Menschenliebe sind sanfte, also schwache, nicht-aggressive Kräfte. Dafür wirken sie um so nachhaltiger – wie die Prise Zimt im Lebkuchen.

Solche nachhaltigen Prozesse des Liebes- und Glaubenswachstums finden sich beschrieben in einem alten Spruch, der über dem Tor eines griechischen Klosters notiert ist: „Wo der Glaube, da Liebe. Wo die Liebe, da Frieden. Wo der Frieden, da Segen. Wo der Segen, da Gott. Und wo Gott ist, da kein Zwang.“ So stiftet Gott den Frühling des Glaubens – mitten im kalten Winter.

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Ein Kommentar zu “Tausend Blumen blühen

  1. Christoph Kühne

    Die ersten Sätze der Predigt machen neugierig: Ein erotisches Abenteuer und der 2. Advent? Es ist Frühling, und die beiden Liebenden aus dem Hohenlied (der Predigttext!) „haben keine Mühe, sich in den rasenden Frühlingstaumel einzureihen“ … Doch wo ist der Weg zum Advent? Der Prediger sieht in dem Hohenlied und dem adventlich-weihnachtlichen Geschehen den „Zauber des Anfangs“. Weihnachten ist das „Fest der sehenden Liebe“. In dem Baby Jesus sehen und ahnen die Menschen den „allmächtigen und barmherzigen Gott“. Es ist in dieser Predigt viel vom Sehen die Rede, von „Augen-Blicken“. „Blicke gelten der Geliebten und dem Geliebten“. Die Liebe Gottes wird an Weihnachten sichtbar. Das wird uns am 2. Advent zugerufen. Die beeindruckende Predigt schließt mit einem Spruch über dem Tor eines griechischen Klosters: „Wo der Glaube, da Liebe. Wo die Liebe, da Frieden. Wo der Frieden, da Segen. Wo der Segen, da Gott. Und wo Gott ist, da kein Zwang“.

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