"Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott" - Wende auf dem Weg des christlichen Glaubens
Die gemeinsame Geschichte zwischen Europa und dem Christentum fängt im Gefängnis an. Sie ist nicht ohne theologischen Grund eine Befreiungsgeschichte
Predigttext | Apostelgeschichte 16,23-34 |
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Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 19.05.2019 |
Kirchenjahr: | Kantate (4. Sonntag nach Ostern) |
Autor: | Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Apostelgeschichte 16,23-34 (Übersetzung nach Martin Luther)
Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.
Ein Erdbeben um Mitternacht? Noch dazu in einem Gefängnis? Das klingt nach Hollywood und Gefängnisfilm: Unschuldige werden ungerecht bestraft. In der Haft befreien sie sich unter schwierigsten Bedingungen. Im Film folgt die Rache an Verrätern und Denunzianten. Die Erzählung aus der Apostelgeschichte atmet diesen Geist von Schauerromanen, Thrillern und Hollywoodfilmen. Spannendes Kino! War der Apostel Paulus ein früher Vorgänger des Grafen von Monte Christo, dem es gelang, aus dem Chateau d’If, der Gefängnisinsel vor Marseille zu fliehen und dann diejenigen zu bestrafen, die ihn unschuldig ins Gefängnis zu bringen? Vielleicht nicht ganz. Die Erzählung aus der Apostelgeschichte fängt als Abenteuer an und hört als Glaubensgeschichte auf. Darum lohnt es sich, aufmerksam auf die Details zu achten, zuerst auf Zeit und Ort.
Zeit: Mitternacht.
Im Hollywoodfilm würden Schatten vorherrschen, dazu das schummrige Licht einer Funzel und der Strahl einer Taschenlampe, dazu bedrohlich dunkle Musik. „Oh Mensch, gib Acht, was spricht die tiefe Mitternacht?“ konnte man einmal einen Dichterphilosophen singen hören. Um Mitternacht wechselt der Tag, das ist die Stunde der tiefsten Dunkelheit, die Stunde des Mysteriösen und Unheimlichen. Geisterstunde! Das ist deshalb wichtig, weil Paulus und seine Begleiter aus einem besonderen Grund geschlagen und inhaftiert wurden. Die städtische Justiz ließ sich von fremden Interessen bestimmen. Eine Frau soll Paulus in der Stadt gefolgt sein. Sie soll ihm dauernd hinterhergerufen haben. Und Paulus war so erbost, daß er den Dämon, den er in der Frau vermutete, einfach mit einem exorzierenden Spruch austrieb. Daran störten sich diejenigen, die mit den Prophezeiungen dieser Frau Geld verdienen wollten. Sie verklagten die kleine Gruppe von Christen, mit der Folge, daß Paulus und seine Begleiter verprügelt und ins Gefängnis geworfen wurden (Apg 16,16-22).
Ort: Im Gefängnis.
In der Stadt Philippi. In Griechenland. In Europa. Die Ortsbestimmung wird in ihrer Bedeutung erst verständlich, wenn man die Vorgeschichte mit einbezieht. Das damalige Europa rund ums Mittelmeer war vom römischen Imperium geprägt. In der Gegenwart findet jeder Kundige es selbstverständlich, daß ganz Europa auf vielfältige Weise durch das Christentum geprägt ist. Im ersten Jahrhundert hatte sich ein europäisches Wertebewußtsein noch nicht entwickelt, und die ersten Christen waren eine zu vernachlässigende religiöse Minderheit. Um so erstaunlicher ist es, daß sich Paulus vornahm, den ganzen Mittelmeer-Raum zu missionieren, die römischen Provinzen in Syrien und in Kleinasien, der heutigen Türkei, dann Griechenland und Italien mit der imperialen Hauptstadt Rom.
Schließlich wollte er weiterziehen bis nach Spanien, an den westlichen Rand der damals bekannten Welt. Ich wundere mich, wie groß der Glaubensenthusiasmus des Paulus gewesen sein muß, daß man so einen Plan fassen kann. Denn wenn er klug war und die herrschenden politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse mit diesem Plan konfrontierte, dann muß er gewußt haben, daß dieser Plan kaum zu verwirklichen war. Um so erstaunlicher, daß Paulus trotzdem loszog. Er ging nicht langsam und bedacht vor, er wartete nicht, bis sich die neuen Gemeinden etabliert und vergrößert hatten. Stattdessen sorgte er dafür, daß jeweils eine kleine Gruppe von Menschen sich zum Glauben bekehrte. Dann zog er weiter und überließ die neuen Christen sich selbst. Und zu jedermanns Erstaunen wuchsen diese Gemeinden.
Der Kerkermeister im Gefängnis von Philippi gehörte zu den ersten europäischen Christen. Die allererste europäische Christin, die wir mit Namen kennen, war die reiche Purpurhändlerin Lydia (Apg 16,11-15). Dazu kam dann auch ihr „Haus“, eine vermutlich größere Anzahl von Familienmitgliedern, Verwandten und Mitarbeitern, die in der Apostelgeschichte alle namenlos bleiben. Der nächste Christ wird der Kerkermeister der Predigtgeschichte sein. Er bleibt ebenfalls namenlos.
Eine Woche vor der politisch so wichtigen Europawahl verdient diese Tatsache besondere Aufmerksamkeit: Dieser Kerkermeister war ein Vorgänger aller folgenden europäischen Christen. Ohne ihn hätte es die enge Verbindung zwischen Glauben und Europa nicht gegeben. Benedikt von Nursia, Karl der Große, Franz von Assisi, Thomas von Aquin, Theresa von Avila, Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, Dietrich Bonhoeffer und alle Christinnen und Christen dieser Gemeinde, dieses Kirchenbezirks und dieser Landeskirche wären nicht getauft worden, wenn Lydia, der Kerkermeister und ihre jeweiligen Familien und Mitarbeiter nicht damals in Philippi ihren Glauben bekannt hätten. Ohne diesen Kerkermeister hätte es auch den Jakobsweg nicht gegeben, der die Christen Europas auf vielen Pilgerwegen bis an die Westküste Spaniens, nach Santiago de Compostela führt.
Schön, daß die Nachfolger des Kerkermeisters keine Gefängnisse, sondern Klöster und Kathedralen, Schulen und Internate gebaut haben; gut, daß sie immer wieder über den Glauben nachgedacht und die Theologie aus den Gefängnissen der klerikalen Bürokratie befreit haben. So wird die vermeintlich kleine und harmlose Hollywood-Geschichte um Mitternacht zu einem der entscheidenden Wende- und Durchgangspunkte auf dem Weg des christlichen Glaubens von Jerusalem und Galiläa bis zu den norwegischen Stabkirchen, den gotischen Kathedralen Englands und Frankreichs, bis zum Kölner Dom, dem Hamburger Michel und der Basiliuskathedrale in Moskau.
Es ist heute noch wichtig, daß diejenigen, die gemeinsam an den Gott Jesu Christi glauben, auch in ökumenischer Verbundenheit dazu beitragen, daß dieses Europa politisch zusammenwächst, auf der Grundlage von Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, von Menschenrechten und Religionsfreiheit, von Demokratie und Grundwerten, die alle nicht ohne die mannigfachen Beiträge des Christentums zu denken sind.
Die gemeinsame Geschichte zwischen Europa und dem Christentum fängt im Gefängnis an. Sie ist nicht ohne theologischen Grund eine Befreiungsgeschichte. Das Erdbeben befreit Paulus und seine Mitarbeiter, die vorher zu Unrecht gefoltert und auch zu Unrecht inhaftiert worden sind. Das Unrecht wird sich noch zeigen, wenn die Paulus-Gruppe nach ihrer Befreiung auf ihren Bürgerrechten als Römer besteht.
Die Gefängniserzählung des Paulus erinnert in diesem Thema der Befreiung an die einzige Oper, die der Komponist Ludwig van Beethoven geschrieben hat: In der Oper „Fidelio“ hält der Kerkermeister Rocco den Freiheitskämpfer Florestan gefangen. Seine Frau Leonore verkleidet sich als Mann und schleicht sich unter dem Namen Fidelio ins Gefängnis ein, um ihren Mann zu befreien. Nach einigen Wendungen und Hindernissen gelingt das auch. Leonore und Florestan vereinen sich wieder. Beethoven macht aus dieser Befreiungsgeschichte ein Manifest für Aufklärung und Vernunft, gegen totalitäre und absolute Macht, für Demokratie und Gleichheit. Vor allem anderen kann man das aus der Musik heraushören.
Diese Musik hören wir im Hintergrund mit, wenn wir die Befreiungserzählung aus der Apostelgeschichte hören: Folter, Verhaftung, Kerker, Mitternacht, Europa, Glauben. Der Glaube an Jesus Christus wird vor allem dann plausibel, wenn er als eine allgemeine und umfassende Befreiung verstanden wird. Zwischen der Befreiung zum Glauben und der Befreiung aus dem Gefängnis besteht eine innere Beziehung. Aber an dieser Stelle nimmt die biblische Geschichte eine andere Wendung als die Oper des an der Französischen Revolution interessierten musikalischen Aufklärers Beethoven.
Das Erdbeben befreit die Gefangenen. Paulus scheint das völlig normal zu finden. Nur der Kerkermeister macht sich große Sorgen. Und er ist um so erstaunter, als er entdeckt, daß die Gefangenen nicht sofort geflohen sind, sondern den ängstlichen Gefängnisbeamten in der Zelle erwarten. Es ist nicht so, daß der Gefängnisbeamte schon aus Dusel über den nicht erfolgten Ausbruchsversuch zum Glauben übertritt. Er fragt erst einmal: Was muß ich tun, daß ich gerettet werde? Gemeinsam mit den früheren Gefangenen verläßt der Beamte das Gebäude. Und draußen, außerhalb der vergitterten Räume mit den Folterinstrumenten reden alle über den Glauben. Lukas gibt das Gespräch nur sehr konzentriert und abgekürzt wieder.
Zuhörerinnen und Leser erinnern sich an weitere Glaubensgeschichten aus der Apostelgeschichte, etwa an die Geschichte des äthiopischen Ministers (Apg 8,26-39), der auf der Rückkehr von Jerusalem nach Äthiopien, in einem Wagen sitzend, in den Schriften des Jesaja liest. Da „beamt“ der Heilige Geist einen Apostel zu ihm. Philippus soll erklären, was der Minister liest. Die beiden reden über den Glauben. Und sofort danach läßt sich dieser Minister taufen. Der dafür nötige kleine Teich ist schnell gefunden.
Der Gefängnisbeamte ist ähnlich schnell überzeugt. Und wie bei Lydia, der reichen Purpurhändlerin, tritt nicht nur er selbst zum Christentum über. Sein ganzes „Haus“, Familie, Sklaven und Angestellte eingeschlossen, macht mit. Das geht alles so schnell, kann man meinen. Aber bevor es zur großen Massentaufe kommt, passiert doch noch einiges, das schnell überlesen wird. Zuerst reden Paulus, Silas und der Justizvollzugsbeamte über den Glauben. Der Rest der Familie kommt auch hinzu. „Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.“ Ich gestehe, ich wüßte gern, welche Worte des Herrn Paulus diesen Menschen mitgegeben hat. Es muß ja mehr und anderes gewesen sein als nur ein Taufspruch und eine Taufpredigt. Ein zweiter Moment, der die Taufe verzögert: Der Kerkermeister wäscht den befreiten Gefangenen den Rücken. Er sorgt dafür, daß die Wunden aus der Folter sich nicht entzünden und recht bald abheilen.
Vor ein paar Jahren legte der damalige Präsident der EU-Kommission Jacques Delors ein Programm auf, das trug den Titel: „Europa eine Seele geben!“ Das Programm lebte von der Einsicht, daß Europa nicht nur aus Euro und Binnenmarkt, gemeinsamem Grenzschutz und unendlich viel Bürokratie besteht. Kirchen, Religionsgemeinschaften, Universitäten und Akademien konnten Gelder beantragen, um herauszufinden wie eine gemeinsame europäische Kultur entstanden ist und wie sie sich weiter vertiefen läßt. Das war eine gute Idee des Kommissionspräsidenten, aber letztlich läßt sich mit Geld nicht erreichen, was nur Menschen im Gespräch und im gemeinsamen Handeln schaffen können. Die ersten europäischen Christen wie der Kerkermeister aus Thyatira, seine Mitarbeiter und seine Familie haben es vorgemacht. Sie waren unwissentlich die ersten, die die europäische Kultur an das Christentum geknüpft haben.
Dieses aber besteht nicht aus frommer Theorie oder Dogmatik. Es besteht aus unmittelbarer praktischer Hilfe: Gefangene befreien, Wunden verbinden. Es besteht aus Gespräch: gemeinsam über den Glauben sprechen und Gottes Wort hören. Es besteht aus gemeinsamem Gottesdienst: In der Taufe bekräftigt Gott die Gleichheit aller Menschen, weil sie alle von Gott geliebt sind, gleich ob Apostel oder Kerkermeister, gleich ob römischer Bürger oder Angehöriger eines von den Römern eroberten Volkes. Und man hört daraus zwischen den Zeilen, daß Europa das Christentum nicht für sich gepachtet hat. Der Glaube läßt sich von niemandem gefangen nehmen. Glauben ist eine Einladung an alle Menschen, in dieser Gemeinde, in Europa und selbstverständlich auch in der ganzen Weite der globalisierten Welt, die im Christentum nicht ohne Grunde Ökumene genannt wird: unsere gemeinsame, von Gott geliebte Welt.