In Budapest gibt es am Fuße des Gellertberges eine Felsenkirche, ein in den Bergfels hinein gehauener Raum, in dem u. a. ein Knochen vom Skelett des Paulus als Reliquie aufbewahrt wird. Das ist nicht der einzige Ort, an dem sich Paulus-Reliquien befinden. An vielen Orten wird des Paulus auf diese Weise gedacht. Ob er das selbst gut findet, wenn er vom Himmel herabschaut, ist die Frage. Denn niemals ging es ihm um die Verehrung seiner Person, sondern immer einzig und allein um die Ehre Jesu Christi, die er durch seine Tätigkeit als Apostel hoch hielt und in seinen Gemeinden wachsen ließ.
Paulus und die Pseudoapostel
Trotzdem sei es uns gestattet, auch ihm, dem Apostel, Ehre zu erweisen; denn er hatte es nicht leicht, als er in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts nach Christus seine Gemeinden im griechisch-sprachigen Mittelmeerraum gründete. Der Gegenwind kam zwar auch von der römischen Staatsmacht, aber mehr noch von solchen Leuten, die sich auch für Apostel hielten und Paulus die Fähigkeit und Berechtigung absprachen, Apostel Jesu Christi zu sein. Neid greift um sich, die Konkurrenz schläft nicht. Paulus ist gezwungen, eine Selbsteinschätzung abzugeben: „Ich schätze mich selber nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich euch: Ich strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, um dereinst den Siegespreis zu erlangen, das Einssein mit Gott, ewige Seligkeit“.
Offenbar gab es andere, die sagten: „Wir haben schon die Seligkeit in Christus ergriffen, und wir können euch erklären, wie man das macht“. Und weiter: „Wir sind die Besseren. Wir haben die wahre Erleuchtung. Christus ist in uns. Wir besitzen Erkenntnis und Weisheit.-Schaut euch doch den Paulus an: keine Gestalt, schreiben kann er, aber reden kann er nicht. All die fremden Völker will er ohne Beschneidung zu Christen machen, wo doch gerade das Jude-Sein Voraussetzung ist, Christ zu werden“. Da blies Paulus der Gegenwind heftig ins Gesicht.
Das Gerede vom Wert der Person
Neid und Konkurrenz fragen: Wer hat mehr zu bieten, wir oder Paulus? Letztlich geht es nicht um die Sache, sondern um die Person; genauer gesagt: um den Wert der Person. Da gibt es solche, die den Wert ihrer Person nach ihrer Herkunft bemessen. Wer aus einer gehobenen Schicht stammt, wähnt sich vielleicht gebildeter als andere. Dabei ist Herzensbildung eine Sache, die sich durch alle Schichten zieht oder auch fehlt.
Da gibt es solche, die den Wert ihrer Person nach ihrer beruflichen Leistung und Stellung bemessen oder bemessen lassen. Ich weiß von einem, der durch fingierte Bewerbungsschreiben „einfach nur mal seinen Marktwert messen lassen“ wollte. Da mag es schließlich auch solche geben, die den Wert ihrer Person nach ihrer kulturellen Identität einschätzen: Der IQ der Menschen in ihrem Erdteil sei durchschnittlich höher als der IQ der Menschen woanders.
Das war nicht nur damals so, wo die Konkurrenten des Paulus – er nennt sie auch Lügenapostel – auf ihren höheren Wert als torakonforme Juden verwiesen, als Leute mit einem jüdischen Stammbaum, als Gebildete und als solche, die sich gesellschaftlich durch Verbreitung ihres Christusbildes einbrachten, das ist heute auch noch so. Hängt der Wert eines Menschen an seinem Ansehen, an seiner Leistung, an seinem IQ?
Einzig wahrer Wertmaßstab: Christus
Paulus sagt ihnen ins Gesicht, auf all das könne auch er verweisen: „Auch ich bin am 8. Tag beschnitten, auch ich bin wahrhafter Israelit aus dem Stamm Benjamin, auch ich bin engagierter Gebildeter … Aber das bedeutet mir nichts. Herkunft, Bildung, gesellschaftliches Engagement sind für mich kein Wertmaßstab mehr. Früher war es das mal. Aber seitdem ich Christus kenne, gibt es für mich nur noch einen Wert, und das ist Christus.“
Das ist nicht nur Bekenntnis, das ist auch Verkündigung. Worin liegt, so fragt er sich und seine Gemeinde, unser Wert als Christen begründet? Alle reden von „unseren Werten“. Wo in allem Reden von Werten stehen wir? Überall gibt es VIP-Logen. Woraus leiten wirunsere Wichtigkeit ab? Selbst bei der Deutschen Bahn gibt es Lounges auf Bahnhöfen, zu denen du nur Zutritt hast, wenn du es wert bist; d. h. wenn du mindestens eine Fernverkehrskarte 1. Klasse besitzst.
Persönlicher Wert und Geldwert gehen eine unheilige Allianz ein. VIP-Logen und Bahnlounges kannte Paulus noch nicht, aber die Frage, wer oder was meinen Wert bestimmt, war ihm nicht fremd. Seine Antwort ist ebenso einfach wie verschlüsselt: Christus! Christus ist unser Wert. Christus, in uns hineingesenkt, ist unser Wert. Dazu haben wir nichts beigetragen, das hat Gott gemacht, aus Liebe, Güte und Gnade. Auch umgekehrt: Wir in Christus, das ist unser Wert. Wir sind in Christus seit unserer Taufe. Wir sind von Christus geprägt durch unsere Taufe und werden immer wieder neu durch ihn geprägt durch den Glauben an ihn. Wir geben ihm Raum in unseren Herzen.
Christus ist unser Wert. So wie wir von Mitmenschen geprägt werden, die wir lieben und die uns etwas bedeuten, so werden wir auch von Christus immer wieder neu geprägt. Man merkt es uns Christen an. Man merkt es dem Miteinander in unserer Gemeinde an. Man merkt es hoffentlich auch der Kirche an, erfahrungsgemäß den Einrichtungen, die von ihr getragen werden: Kindergärten, Krankenhäusern, Seniorenheimen. Christus ist unser Wert, ein Wert, den wir uns nicht durch eigene oder unserer Vorfahren Leistung erworben haben, sondern ein Wert, den Gott uns geschenkt hat. Alle so genannten beachtlichen Werte, religiöse, nationale und kulturelle Vorzüge werden dadurch zu nichts.
Auf gutem Wege bleiben: Gleichgestaltung
Damit könnten wir es bewenden lassen: ‚Wir haben Christus, mehr brauchen wir nicht; die das noch nicht erkannt haben, sind arm dran‘. Aber genau das wäre die Selbstgefälligkeit, die Paulus seinen Gegnern vorwirft. Das täte uns selbst nicht gut, und dem Bild von uns in der Gesellschaft schon gar nicht.
Paulus hat hier vorgebaut. Wenn wir ihm folgen, können wir auf gutem Wege bleiben. Paulus gibt sich nicht mit der Prägung durch Christus zufrieden. Nein, er möchte mit Christus, wie er sagt, „gleichgestaltet“ werden. Ihn, Christus, möchte er erkennen, die Gemeinschaft seiner Leiden und die Kraft seiner Auferstehung. Dies alles zu erkennen, immer tiefer zu erkennen, das nennt er „mit Christus gleichgestaltet werden“, von Christus so geprägt werden, dass er aus der Gnade Christi heraus lebt, stirbt und aufersteht wie Christus.
Es fällt mir schwer, in die Tiefe einer solchen Erkenntnis vorzudringen. Ich nehme mir die Ethik von Dietrich Bonhoeffer zur Hand, der sechs Seiten über Gleichgestaltung geschrieben hat und der mich ein Stück weit zur Erkenntnis führt:
- Gleichgestaltung mit dem Menschgewordenen
Zur Gleichgestaltung, sagt Dietrich Bonhoeffer, kommst du nicht durch sittliches Bemühen, sondern du wirst von Christus hineingezogen. Dann führt mich Bonhoeffer weiter: Wenn du dich hineinziehen lässt durch den Glauben, dann wirst du gleichgestaltet mit Christus, dem menschgewordenen Gott. So ist dein Menschsein, wie auch immer es im Alltag verläuft, geheiligt. Du darfst Mensch sein. Niemand verlange von dir, dass du immer alles richtig machst. Dein Menschsein, so wie es ist, ist geheiligt, weil Gott Mensch geworden ist.
- Gleichgestaltung mit dem Leidenden
Dann der zweite Punkt der Gleichgestaltung: Wenn du dich in Christus hineinziehen lässt, wirst du gleichgestaltet mit seinem Leiden. Für mich heißt das: Gott ist herabgestiegen auch ins Leiden. Er hat auch den leidenden Menschen geheiligt. Auch er ist und bleibt Gottes wertvolles Geschöpf, Gottes Kind. Unser verzweifeltes Rufen im Leiden, aber auch alles Leiden in Gottes Hand legen, machen uns Christus gleich.
- Gleichgestaltung mit dem Auferstandenen
Schließlich der dritte und letzte Punkt der Gleichgestaltung. Wenn du dich in Christus hineinziehen lässt, wirst du mit dem Auferstandenen gleichgestaltet. Nach Leiden und Tod entsteht etwas Neues. Das ist die tiefste Erkenntnis Christi, die ein Menschen erlangen kann.
Das Neue hat bei Paulus zwei Richtungen. Die eine Richtung weist in dieses unser Leben hinein: Mit dem auferstandenen Christus im Herzen bist du ein neuer Mensch vor Gott. Er erlaubt dir, ein neues, freies, unbeschwertes Leben anzufangen, immer, zu jeder Zeit. Es ist nie zu spät.
Die andere Richtung weist über dieses Leben hinaus. Das neue Leben, das wir hier jederzeit anfangen und führen dürfen, ist noch nicht Alles. Es gibt noch eine Vollendung im Jenseits. Dafür bürgt Jesus Christus durch sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung. Paulus sehnt sich danach, ihm „gleichgestaltet“ zu werden. Darum sein Wunsch, der auch der unsere sein möge: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung“.