Ungeteilter Gottes-Dienst
Das Wichtigste im Leben
Predigttext: 1. Korinther 7,29-31(32-35), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984
29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht;
30 und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht;
31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.
(32 Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid. Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle;
33 wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens.
34 Und die Frau, die keinen Mann hat, und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, dass sie heilig seien am Leib und auch am Geist; aber die verheiratete Frau sorgt sich um die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefalle.
35 Das sage ich zu eurem eigenen Nutzen; nicht um euch einen Strick um den Hals zu werfen, sondern damit es recht zugehe und ihr stets und ungehindert dem Herrn dienen könnt.)
Exegetische (I.) und homiletische (II.) Bemerkungen
I. Die vv 29-31 beschreiben die Haltung, die ein Christ (3,23: „Ihr aber seid Christi“) nach Paulus der Welt gegenüber einnehmen soll: in allem Genuss und Gebrauch nicht Verstrickung (vgl. 6,12), sondern die Distanz eines, der so lebt, als hätte er dies alles nicht (seit Bultmann die Haltung des hōs mä /„als ob nicht“ genannt: Theologie des NT, S.153; Exegetica, S.220). Die vorgeschlagene Haltung der „Entweltlichung“ (Exegetica, S.367) hat ihren Grund in Jesus Christus (3,11), genauer: in der Befreiung durch Jesus Christus von den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt. Darum ist v 23 ein Scharniervers zwischen den beiden Teilen der „Standespredigt“. Er beschließt 7,17-22, und er eröffnet 7,24-40. „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht Sklaven der Menschen“, so verkündigt Paulus das Evangelium der Freiheit. Im Lichte dieses Evangeliums steht die gebotene („… sollen …“) bzw. vorgeschlagene („Ich aber möchte …“) Haltung. Sie hat in Jesus Christus nicht nur ihren Grund, sondern auch ihr Ziel („… damit es recht zugehe und ihr stets und ungehindert dem Herrn dienen könnt“).
Das Evangelium der Freiheit ist das zentrale Thema des Paulus. Es ist hier eschatologisch begründet: „Die Zeit ist kurz.“ Die Freiheit von der vergehenden Welt gibt Freiheit zum Dienst am Herrn. Die christologische Begründung findet sich in Gal 5,1ff: Die Freiheit vom Gesetz schenkt Freiheit zur Liebe, und in Röm 7,7-25 greift Paulus auf das urgeschichtliche Thema von Bestimmung und Bestimmtheit zurück, freilich christologisch eingebunden.
II. Was für diesen Sonntag als Predigttext und Evangelientext vorgeschlagen ist, setzt insgesamt einen falschen Akzent. Der (offizielle) Predigttext ist zu kurz. Er fordert für sich genommen zur Weltflucht auf, weil die Welt sowieso bald untergeht. Wem soll das vermittelt werden? Zusammen mit Mk 10,2-9 gewinnt man den Eindruck, es gehe darum, was besser sei: Ehe oder Ehelosigkeit. Wem soll ich das predigen? Da kommt die Epistellesung 1.Thess 4,1-8 dem Predigttext inhaltlich schon näher, auch Gen 8,18-22 setzt einen guten Akzent. Als Evangelienlesung schlage ich Lk 12,22-31 vor. Den Predigttext selbst verlängere ich bis v 35, damit der Hintergrund für die „Als-ob-nicht“-Haltung deutlich wird (Naherwartung, Dienst am Herrn statt Verstricktsein in die Sorgen der Welt). Die Naherwartung transponiere ich in unseren Denkhorizont mit der Frage: Was ist das Wichtigste in meinem Leben? Das ist legitim; denn das Wichtigste wird dann hervortreten, wenn „die Zeit kurz“ ist. Ich lese existentiell grundlegende Gedanken aus dem Text heraus, die richtungweisend für eine noch gründlichere Exegese sind und die ich auf jeden Fall auch homiletisch fruchtbar machen möchte. Ich zitiere – quasi als Kontexte – zwei philosophische „Brocken“:
„Wenn Haben die Basis meines Identitätsgefühls ist, weil ‚ich bin, was ich habe‘, dann muß der Wunsch zu haben zum Verlangen führen, viel, mehr, am meisten zu haben. Mit anderen Worten, Habgier ist die natürliche Folge der Habenorientierung. Es kann die Habgier des Geizigen, die Habgier des Profitjägers, die Habgier des Schürzenjägers oder mannstoller Frauen sein. Was auch immer seine Gier entfacht, er wird nie genug haben, er wird niemals ‚zu-frieden‘ sein“ (Erich Fromm, Haben oder Sein, München 1979).
„Dieses Seiende hat den ‚Ursprung‘ seines Seins in der Sorge … Das Seiende wird von diesem Ursprung nicht entlassen, sondern festgehalten, weil von ihm durchherrscht, solange dieses Seiende ‚in der Welt ist‘. Das ‚In-der-Welt-sein‘ hat die seinsmäßige Prägung der ‚Sorge‘ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 111967, § 42, S.198 in Auslegung der „Sorge“-Fabel des Hyginus).
Redet Paulus hier dem Zölibat das Wort: Dem Herrn dienen ist besser als verheiratet sein? Aber so hätten wir die Botschaft des Paulus wohl verkürzt, verzerrt und missverstanden. Paulus geht es um mehr. Er entwickelt das Evangelium von Jesus Christus, der aller Welt Sünde trägt, weiter. Er entwickelt es zum Evangelium der Freiheit! „Ich möchte“, so sagt er, „dass ihr ohne Sorge seid.“ Wer ohne jede Sorge sein kann, hat der einen Schatz gefunden? Wer ohne jede Sorge sein kann, hat der die Perle aller Perlen entdeckt? Jesus hat die kleine Bildgeschichte von der kostbaren Perle (Mt 13,45f) erzählt, um seinen Zuhörern zu zeigen, was das Wichtigste, Schönste und Größte im Leben ist: wenn man das Himmelreich vor sich sieht; wenn man weiß: es wird regiert – von ganz oben her; wenn man Gott erkennt. Ist das der Schlüssel zur Freiheit: ohne Sorge zu sein? Wer allzu sorglos ist, gilt als blauäugig, naiv.
Ein bisschen Sorge muss schon sein, sagen wir. Aber auch schon ein bisschen Sorge bindet dich an die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt, würde Paulus erwidern. Wohl wahr! Wir sorgen uns um unser Geld und räumen ihm dadurch Macht über uns ein. Wir sorgen uns um den Sohn/die Tochter, der/die bis zum frühen Morgen nicht nach Hause kommt, und räumen der Angst Macht über uns ein. Wir sorgen uns um unsere Umwelt und schauen gebannt und hilflos auf die destruktiven Kräfte ohne Vertrauen auf Gottes Zusage: „Solange die Erde steht …“ Sollte die Sorge schon fast zu unserer Identität gehören, so dass wir meinen, ohne sie gar nicht sein zu dürfen? Dann verfehlt ihr eure Bestimmung, würde Paulus sagen. Ihr seid zur Freiheit bestimmt. Zur Freiheit hat euch Christus befreit, also werdet nicht Sklaven der Menschen, lasst euch nicht fesseln von den Dingen der Welt. Er fügt hinzu: „Sondern dient dem Herrn in aller Ehre stets und ungehindert”.
Das also ist für Paulus Sinn und Ziel des Lebens: „Dient dem Herrn in aller Ehre stets und ungehindert“. Das möchte er uns mit auf den Weg geben: Habt in allem, was ihr tut, stets den Sinn und das Ziel des Lebens vor Augen: den Herrn! Habt in den Bindungen, in denen ihr nun einmal steht, stets den Sinn und das Ziel des Lebens vor Augen: den Herrn! Es ist, als wolle uns Paulus in und neben den vielen kostbaren Perlen, die wir haben, die kostbarste zeigen: den Herrn. Die kostbarste, weil sie uns aller Sorgen entheben kann: „All eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch!“ Sorgen gibt es genug. Das weiß auch Paulus. Sorgen machen wir uns genug, weil wir an diese Welt gebunden, in diese Welt hineingebunden sind. Sorgen machen wir uns genug, weil wir mit allen Dingen, die diese Welt hervorbringt, in irgendeiner Weise zu tun haben. Paulus zählt einige auf:
– den Ehestand: „Es sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine.“ Luther hat einmal gegen die Überschätzung der Ehe gesagt, sie sei ein „weltlich Ding“. Beide sagen keineswegs, dass du keine Frau oder keinen Mann haben sollst. Im Gegenteil: Du darfst verheiratet sein. Das gehört zu deinem Lebensweg. Aber du sollst in die Ehe nicht paradiesische Erwartungen hineinlegen. Alles in der Welt, auch die Ehe, weist über sich hinaus auf den, der alles geschaffen hat, der alles trägt und der alles vollendet;
– den Augenblick: „Es sollen die, die weinen, sein, als weinten sie nicht; und die, die sich freuen, als freuten sie sich nicht”. Weinen ist mit Abschiednehmen verbunden. Wir kennen das aus unserer eigenen Kindheit, und ich sehe das auch an meinen (Enkel-)kindern. Wenn es ein schöner Nachmittag war mit Oma und Opa, mit Cousins und Cousinen und die Stunde des Abschieds kommt, gibt es Tränen. Warum? Weil die Kleinen festhalten möchten, was gerade ist. Uns Großen geht es manchmal ebenso, nur dass wir unsere Traurigkeit, den Augenblick nicht festhalten zu können, anders verarbeiten. Der Augenblick aber ist eine Illusion der Welt; es gibt ihn nicht. Darum ist es auch verfehlt, sich an ihn binden oder ihn festhalten zu wollen. Er ist eingebunden in die Zeit, die sich – bald – in Christus vollenden wird. Darum weine ruhig, oder freue dich auch, aber versinke weder in der Traurigkeit noch in der Freude;
– das Streben nach materiellem Besitz: „Es sollen die, die kaufen, sein, als könnten sie es nicht behalten”. Auch hier geht es Paulus um das Loslassen-Können. Aber nicht das Loslassen-Können an sich ist für ihn eine Tugend – so wie manchmal leichtfertig der fast gesetzmäßig klingende Ratschlag ausgesprochen wird: „Du musst einfach loslassen können“, sondern um die nötige Distanz zum materiellen Besitz. „Nichts ist für die Ewigkeit“, sagt der Volksmund, und er hat recht. „Das letzte Hemd hat keine Taschen“, sagt der Volksmund, und er hat recht. Eine Geschäftsfrau sagte in einem Spielfilm: „Ich sehe meine Aktien wie Schiffchen dahinfahren auf der DAX-Kurve: Ich gehe nicht unter noch blühe ich auf mit ihnen.“ Sie ist nicht auf Gedeih und Verderb mit dem Haben-Wollen verbunden, sondern ihre Seele ruht in einer anderen Sphäre. Dort findet sie zum inneren Frieden;
– die Mehrung der leiblichen Güter zum „Wohlstand“: „Es sollen die, die die Güter der Welt gebrauchen, sein, als brauchten sie sie nicht”. Wer auf die guten Dinge in der Welt nicht verzichten kann, der macht den Wohlstand zum Lebensziel. Das kann es nach Paulus nicht sein. Nicht, dass wir den Wohlstand verteufeln müssten; das würde auch Paulus nicht tun. Aber seine Absicht ist es, uns davor zu bewahren, von Christus abgelenkt zu werden durch Überschätzung der weltlichen Dinge. Er will nicht, dass wachsender Wohlstand uns vom Gottes-Dienst, vom Christus-Dienst entfernt. Ganz so unrecht hat er damit nicht.
Es bleibt dabei, das sind alles Perlen in unserem Leben: dass Männer Frauen haben dürfen und dass Frauen Männer haben dürfen; dass wir uns am Augenblick erfreuen können und sein Vergehen beweinen; dass wir uns etwas leisten können und uns die Güter der Welt zu Gebote stehen. Paulus bestreitet das nicht. Aber er sagt: Das alles ist nicht das Wichtigste im Leben. Das Wichtigste im Leben ist, dass du in allem und über alles hinaus Christus Raum gibst. Gib Christus Raum in deinem Leben. Das ist die wertvollste Perle, die alle anderen an Wert überragt. Darin liegt Sinn und Ziel deines Lebens. Das Wichtigste im Leben tritt dann besonders hervor, wenn Alles zusammenbricht. Im Film „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler singt die große Familie auf dem ostpreußischen Gutshof am Erntedankfest, aber schon angesichts der Katastrophe, „Großer Gott, wir loben dich“. Was die Bordkapelle auf der untergehenden Titanic gespielt haben soll, ist bekannt, (mein Großvater hat auf die Flucht als wichtigsten Gegenstand sein Gesangbuch mitgenommen). Sie alle haben Christus Raum gegeben in ihrem Leben. Am Ende blieb ihnen nur er. Mögen wir bewahrt werden vor solchen Situationen, damit wir uns weiter unseres Lebens freuen können und dabei nicht zuletzt Christus Raum geben.
Der aus dem Brief herausgeschnittene Predigttext ist zu kurz. Er fordert einseitig zur Weltflucht auf. Mit den Versen 32 bis 35 aber kann man das Evangelium der Freiheit nach Paulus gegen das Verfallensein an die Welt predigen. Nach diesen Vorüberlegungen predigt Pastor Dr. Scholz mitreissend darüber, dass wir durch Christus freier von Sorge sein können. Ein bißchen Sorge muss sein. Aber in Wahrheit sorgen wir uns um Vieles und das Geld so sehr, dass wir dieser Sorge verfallen. Viele verfallen auch einer Illusion von paradiesischen Eheglück und sind tief enttäuscht. Paulus predigt die rechte Nähe und Distanz in der Ehe. Viele verfallen dem Augenblick mit Lachen und Weinen. “Aber der Augenblick ist eine Illusion der Welt.” Wie sollen uns weder in Freude noch in Leid auflösen. Fast alle Reichen werden süchtig nach immer mehr Reichtum und verfallen der Habgier. Wohlstand ist nichts Schlechtes, aber kann uns vom Gottes-Dienst und Christus-Dienst abhalten. Am Ende bleibt uns allen doch nur, dass wir zu Gott gehören. Sehr überzeugend und lebendig zieht diese Predigt in unserer deutschen Wohlstands-Gesellschaft die Hörenden hinein in den Blick audf das Wesentliche und Höchste: die Christus-Nachfolge.