Unsichtbarer Halt
Für Manches müssen uns erst die Augen erst geöffnet werden
Predigttext: 2. Korinther 4,16-18 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
17 Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,
18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
Lieder
"Ich steh in meines Herren Hand" (EG 374), "So nimm denn meine Hände" (376), "Vertraut den neuen Wegen" (395), "Bei dir, Jesu, will ich bleiben" (406)
Manfred zählt nach. Fünfundzwanzig Jahre ist es nun her, dass er als junger Mann den Zivildienst geleistet hat. Damals musste er noch eine Gewissensprüfung ablegen, um den Wehrdienst zu verweigern. Viele Stunden hatte er sich darauf vorbereitet. Auf keinen Fall wollte er den Dienst an der Waffe leisten. Erst beim zweiten Mal kam die Verweigerung durch. Doch aussuchen durfte er sich seine Zivildienst-Stelle nicht. Wenn schon kein Wehrdienst, dann soll der junge Mann doch im Altenheim dienen! Der Schock war groß. Doch es gab kein Vertun, wenige Tage später trat Manfred seinen Dienst an. Im Altenheim mit offener und geschlossener Abteilung wurde ihm für die nächsten eineinhalb Jahre ein Zimmer zugewiesen.
Manfred lernte dort Frau Janssen kennen. Mit dieser Bewohnerin hat sich Manfred auf Anhieb gut verstanden. Lag es daran, dass die kleine , zierliche Frau ihn an seine Großmutter erinnerte? Ihre ruhige, freundliche Art fiel ihm jedenfalls sofort auf. Sie machte so einen zufriedenen Eindruck. Eine bescheidene Frau, die in sich ruhte. Manfred war gern bei ihr. Und Frau Janssen war froh, dass der junge Mann Zeit hatte, mit ihr zu reden; es gab schließlich nur wenige im Heim, die plattdeutsch sprachen so wie sie. Allerdings sprach sie selbst nicht nur, sie hörte Manfred ebenso gern zu. Menschen wie er waren ihr Ohr zur Außenwelt. Sie fragte ihn nach seiner Freundin, ließ Manfred begeistert von seinem Ford Fiesta erzählen, den er sich selbst fertig gemacht hatte und ab und zu mochte sie es, wenn er ihr etwas vorlas. Frau Janssen bekam keinen Besuch. Als er bei seinen Kollegen nachfragte, ob sie denn keine Angehörigen mehr habe, erzählten sie dem Zivi die Geschichte von Frau Janssen.
Manfred erfuhr, dass Frau Janssen mehrere Monate im Krankenhaus gelegen hatte, auf der Intensivstation. Ihr Mann war bereits verstorben. Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde sie wieder gesund werden. Wie gern hätte sie wieder in ihr kleines Häuschen zurück gewollt, in ihren Garten, zurück in ihr Leben, wenigstens auf eine Tasse Tee mit ihrer Nachbarin Elfriede, mit der sie immer die Zeitung tauschte. Während Frau Janssen noch um ihr Leben kämpfte, trafen ihre Kinder eine Entscheidung. „Mit Mama wird es nichts mehr“, lautete ihr Urteil. Also entschieden sie: Das gesamte Hab und Gut ihrer Mutter kann weg. Das Haus mit Garten wurde verkauft, sie entsorgten den gesamten Hausstand. Alles wurde verteilt oder weggeworfen – bis das Haus leer war.
Doch das Unerwartete geschah. Die Totgeweihte überstand ihre Erkrankung. Frau Janssen wurde wieder gesund. Sie war nicht mehr so kräftig wie früher, den Garten hätte sie nicht mehr machen können, aber für den normalen Alltag in ihrem Haus und einem kleinen Schwätzchen mit der Nachbarin fühlte sie sich wieder gut gerüstet. „Ich will wieder nach Hause!“ verkündete sie also im Krankenhaus. Doch davon war nichts mehr übrig. Die Kinder hatten das Erbe bereits verteilt, ohne das Ende ihrer Mutter abzuwarten. Es wohnten nun andere Leute in dem Haus, das ihr nicht mehr gehörte.
(Lesung des Predigttextes)
Als ihr Freund Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben war, als Menschen ihren Meister getötet hatten, da waren die Jünger Jesu am Boden zerstört. Was war da noch übrig von ihrem alten Leben? War nicht alles kaputt, woran sie geglaubt, wofür sie jahrelang gearbeitet hatten? Zutiefst enttäuscht und niedergeschlagen machten sich die Jünger auf den Weg. Während sie in ihrer Trauer versunken waren, trat jemand zu ihnen und ging einen Stück des Weges mit ihnen. Sie waren derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht merkten, wer es war, der sich zu ihnen gesellt hatte.
Der Fremde erkundigte sich danach, wie es ihnen ging, was sie so stark aufwühlte und sie erzählten ihm von Jesus, der doch ihr Messias war und der nun gekreuzigt worden sei. Doch sein Grab sei leer. Einige Frauen hätten einen Engel gesehen, der ihnen gesagt habe, dass Jesus lebe. Als der Fremde weitergehen will, baten ihn die Jünger: „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.“ Erst als sie mit ihm am Tisch sitzen und er das Brot bricht, dankt und es ihnen austeilt, so wie er es früher oft getan hat, da erkennen sie ihn. Dieser Fremde ist ihr Freund, ist ihr Meister Jesus von Nazareth! Er lebt! Menschen haben ihn getötet, doch Gott hat ihn auferweckt! Er ist Sieger über allen Schmerz, alle Enttäuschung, alle Verlassenheit, sogar über den Tod.
Jesus hatte ihnen alles geschenkt: seine Nähe, seine Liebe, sein Leben. „In der Welt habt ihr Angst“, in der Welt ist Leid, ist Tod, ist Schmerz, doch „siehe, ich habe die Welt überwunden“. Die Jünger begreifen in diesem Moment: Gott hat uns nicht im Stich gelassen. Ihre Traurigkeit hat ein Ende. Jesus hat selbst alles ein für allemal durchlitten, damit wir sicher sein können: Wenn auch nichts mehr steht, er bleibt bei uns bis zum Ende. Und dann holt er uns zu sich in seine ewige Wohnung. „Wer in mir bleibt und ich in ihm“, sagt Jesus, „der bringt viel Frucht“. „Darum werden wir nicht müde, sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“
Darum, weil Jesus auferstanden ist und auch wir auferstehen werden, darum geben wir nicht auf, schreibt Paulus an seine Gemeinde. Schon jetzt spüren wir in uns diese unsichtbare Kraft, die uns jeden Tag aufstehen und wieder neu anfangen lässt, egal was gestern war. Die uns Hoffnung gibt auch gegen den Augenschein. Das Sichtbare verfällt, es vergeht. Doch wir schauen auf das Unsichtbare, denn wir wissen, dass uns für manches die Augen erst geöffnet werden müssen. Manchmal übersehen wir das Wesentliche. Wie die Jünger den Freund, der schon längst mit ihnen geht, nicht erkannt haben. Doch nachdem er das Brot mit ihnen geteilt hatte, konnten sie seine Nähe wieder spüren und sie waren sich sicher, dass er von nun an immer bei ihnen sein würde.
„Darum werden wir nicht müde, sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert“ Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Was für ein leiser Jubel, ein stiller, ein unsichtbarer Sieg über den Tod, über das, was vergeht, was wir nicht aufhalten können. Ein alter Mensch wie Frau Janssen weiß das. Frau Janssen hat nicht mehr viel in ihrem Zimmer, nur das bisschen Kleidung, das sie im Krankenhaus dabei hatte und ein altes Radio. Aber was brauchte sie schon? Besuch bekam sie kaum, doch Manfred war da und die anderen vom Pflegepersonal. Sie war damit zufrieden.
Ein Jahr lang durfte Manfred Frau Janssen im Altenheim begleiten. Ihn hat das ungemein bereichert. In dieser Zeit redete sie mit dem jungen Mann auch über den Tod. Es hat sie nicht gestört, dass Manfred so viele Jahre jünger war als sie. Manfred erinnert sich daran, dass diese alte Frau keine Angst zu haben schien. Keinerlei Unruhe befiel sie bei dem Gedanken an das Ende. Es war auch keine Bitterkeit über ihr Leben zu spüren, keine Enttäuschung. Sie glaubte fest an ein Leben nach dem Tod, die alte Frau. Gleichzeitig begrüßte sie jeden Tag wie einen freundlichen Gast.
Frau Janssen war davon überzeugt, dort, bei Gott, einmal gut und fest aufgehoben zu sein. hat Jesus einmal gesagt. Manfred erinnert sich noch heute an eine besondere Atmosphäre an dem Tag, als Frau Janssen verstarb. Eine Ruhe spürte er, eine Liebe, die sagt: Komm nach Hause! In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Frau Janssen vertraute darauf, dort bald einziehen zu können. Ein unverlierbares Zuhause. Viele Jahre ist das nun her, doch Manfred hat die Zeit im Altenheim nie vergessen. Die Stelle hatte er sich beileibe nicht ausgesucht, aber im Rückblick hätte er es nicht anders haben wollen. Er ist dankbar für diese Erfahrungen. Und dafür, dass er einen Menschen wie Frau Janssen kennenlernen durfte.
Weil der Predigttext recht abstrakt ist, hilft die anschauliche Erzählung vom Zivi und der alten frommen Frau Janssen weiter. Nach der Lesung erzählt dann die Pastorin zuerst, dass die Jünger nach der Kreuzigung am Boden zerstört waren. Was war ihnen geblieben? Da begegnete ihnen Jesus zuerst als Fremder. Beim Abendmahl mit Brot erkennen sie ihn Er lebt und sie spüren seine unsichtbare Kraft. Paulus sagt im Predigttext dazu, dass der innere Mensch täglich erneuert wird, auch wenn der äußere Mensch verfällt. Durch Jesus gibt es einen unsichtbaren Sieg über den Tod auch im Alter. Rhetorisch geschickt kommt Pastorin Frerichs am Schluss wieder auf ihre Eingangsgeschichte zurück. Beim Altwerden will sie in Gottes Haus einziehen. Der Zivildienstleistende hat viel von ihr gelernt.- Diese Predigt über einen schwierigen Text ist durch die Geschichte sehr verständlich und einleuchtend und tröstlich. Warmherzig ermutigt verläßt der Hörer gewiß den Gottesdienst