Unverhoffter Brief
Ent-Täuschung und Zu-Mut-ung
Predigttext: Jeremia 29,1. 4-7.10-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte…
4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, daß ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl…
10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.
Zur Predigt
Der Predigttext ist, schon weil er im Alten / Ersten Testament steht, eine hermeneutische Herausforderung. Wichtig ist mir für das Verständnis von Jeremia 29,7 die Einbeziehung von Matthäus 5,44. Homiletisch versuche ich, mich von der Gattung „Brief“ und ihrer Dynamik leiten zu lassen. Für mich hilfreiche exegetische Hinweise fand ich in den Kommentaren zum Jeremiabuch von Wilhelm Rudolph (HAT 12, 3. Aufl., Tübingen 1968) und von Artur Weiser (ATD 20/21, 7.Aufl., Göttingen 1977).
Lieder
"Gott liebt diese Welt" (EG 409)
"Laudate, omnes gentes" (EG 181.6)
"Gott gab uns Atem" (EG 432)
"Herr, du bist Gott, in deine Hand" (EG 377,4, aus dem Wochenlied: "Zieh an die Macht, du Arm des Herrn"
"Bewahre uns, Gott" (EG 171) bzw. "Verleih uns Frieden" (EG 421)
Ein Brief ist etwas Besonderes, ein Mensch hat sich dafür Zeit genommen, einem anderen Menschen etwas zu schreiben, z. B. einen Geburtstagsgruß, einen Genesungswunsch, einen Bericht von einer Urlaubsreise oder eine Kondolenzkarte.
I. Bestimmt haben wir alle schon einmal einen Brief bzw. ein Fax oder eine Mail bekommen, die uns mit einem Ruck in eine Realität versetzten, die uns unannehmbar erschien. Ich denke jetzt nicht an eine Rechnung oder Mahnung, auch nicht an Reklamebriefe. Vielleicht war es eine Kündigung, die die Sicherheit im bisherigen Berufsleben schwer erschütterte, die Absage nach einer Bewerbung auf eine Arbeitsstelle, die Aufkündigung einer Freundschaft, einer Liebe. Da steht es, schwarz auf weiß. Es ist, wie wenn einem auf einmal der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die Gedanken werden aufgewühlt, und das Grübeln beginnt: ‚Das kann doch nicht sein, man war doch mit meiner Arbeit immer zufrieden. / Ich kann es nicht verstehen, ich hatte im Vorstellungsgespräch ein gutes Gefühl, auch durch mein gutes Schulabschlusszeugnis./ Ich kann es nicht glauben, dass es mit unserer Beziehung auf einmal aus sein soll und unsere gemeinsame Zukunft null und nichtig’.
II. Der Brief, den der Prophet Jeremia schrieb, löste bei den Adressaten auch so etwas wie einen Ruck aus und große Verunsicherung darüber, wie es nun weiter gehen soll. Mit seinem Brief suchte Jeremia eine Verbindung zwischen weit voneinander entfernten Menschen. Sie wurden durch Krieg(e) auseinander gerissen, Menschen aus einem Volk, mit einem gemeinsamen Glauben; die einen lebten in ihrem vertrauten Land Juda, die anderen im Exil, im fremden Land Babylon, dem heutigen Irak. Die Deportierten glaubten, dass sie bald wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren können. Einfach unvorstellbar, sich auf einen längeren Aufenthalt einrichten zu müssen. Unter ihnen gab es Propheten, die sie vollmundig im Namen Gottes in solchem Glauben bestärkten. Dann dieser Brief aus Jerusalem, der schwarz auf weiß eine ganz andere Botschaft enthielt: „So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter gebären; mehret euch dort, daß ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl“. An eine baldige Rückkehr aus der Fremde ist nach diesem Brief nicht zu denken. Die Deportierten müssen sich auf eine längere Zeit fern von ihrer Heimat einstellen. Wir können ein wenig nachempfinden, wie es den Briefempfängern zumute war. Sollten wir etwa nicht mehr heimkehren dürfen? Kann dies Gottes Wille sein? Der Prophet stieß auf Ablehnung seiner Botschaft. Was schreibt denn dieser Jeremia da! Er raubt uns das letzte Fünkchen Hoffnung. So einer will Prophet sein? Hätten wir den Brief doch nie geöffnet und gelesen.
III. Jeremia stellte den Juden in Babylon sehr nüchtern die Realität vor Augen. ‚Baut euch im fremden Land eure Existenz auf. Heiratet und lasst eure Kinder heiraten. Bringt euch ganz in das babylonische Leben ein. Gebt euer Bestes für Babylon und betet für Stadt und Land, dann geht es euch auch gut.’ In diesem Aufruf, „der Stadt bzw. des Landes Bestes zu suchen und für sie zu beten“, wie Martin Luther übersetzte, gebraucht der Prophet dreimal das hebräische Wort „Schalom“. Dieses Wort hat viele Inhalte, meist wird es mit dem Wort „Frieden“ wiedergegeben; aber es bedeutet außerdem Wohlergehen, Unversehrtheit und Heil im umfassenden Sinn. Das hebräische Wort ist in Israel auch Gruß: „Schalom“. Wer hätte es damals gewagt, daran zu denken, dass Jeremia damit auch eine Heimkehr andeutete, dass wieder etwas zusammenkommt, was auseinandergerissen war. Ungefähr siebzig Jahre hat die babylonische Herrschaft schließlich gedauert, bis für die Deportierten die Zeit der Befreiung und Heimkehr kam; viele von ihnen erlebten sie nicht mehr. Bis dahin stand die Frage nach der Wahrheit der Briefbotschaft Jeremias im Raum, denn es gab auch andere Propheten, die das Gegenteil verkündigten. Nicht alle lehnten aber Jeremias Botschaft ab, nicht alle verschlossen sich seinem Brief. Sie nahmen ihn sich zu Herzen und suchten miteinander das Gespräch darüber. Wichtig war ihnen dabei das Gespräch mit Gott. Sie vertrauten der Zusage Gottes und suchten Gott „von ganzem Herzen“. Sie schenkten dem unbequemen Brief Jeremias Gehör. Sie machten die Erfahrung: Traurigkeit und Verzweiflung bleiben ihnen auch im Glauben nicht erspart. Es braucht Zeit, um das Unvorstellbare anzunehmen. Es war gerade der Glaube, der ihnen half, nüchtern und im Vertrauen auf Gott die Situation so zu sehen, wie sie ist, ohne sie schön zu reden. Sie übten sich in Geduld und hielten daran fest, dass Gott sie nicht fallen lässt. Sie lernten, sogar für ihre Feinde zu beten, die sie aus ihrer Heimat heraus gerissen hatten.
„Liebt eure Feinde, bittet für die, die euch verfolgen“, rief fünf Jahrhunderte später einer der Ihren aus, Jesus von Nazareth (Matthäus 5,44). Der Stadt bzw. des Feindeslandes Bestes zu suchen und für die Menschen dort zu beten, war bestimmt mehr als nur ein egoistisches Zweckdenken, dass es ihnen gut gehe, wenn es ihren Feinden gut geht. Es war die Wesensart ihres Gottes, der sie solches Tun lehrte. “Wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich von euch finden lassen.” Im Gebet suchten sie Gott, schütteten ihr Herz vor Gott aus. Sie konnten zu Gott mit ihren Fragen kommen, mit allem, was sie umtrieb. Sie kamen mit Bitten, vergaßen aber auch nicht das Danken, wenn sie wieder etwas Fuß auf ihren zuweilen sehr verschlungenen Lebenswegen fassten. Gott mutete ihnen zu, ihr Leben zu bestehen, auch wenn sie Vieles jetzt nicht oder vielleicht in diesem Leben nie verstehen konnten.
IV. Es gibt Briefe, Mitteilungen, die wir persönlich, als Gemeinde, Gesellschaft und Volk in bestimmten Lebenssituationen brauchen. Botschaften, die uns auf einen guten Weg umleiten. Ich erinnere im Hinblick auf den bevorstehenden Reformationsgedenktag an die kirchenkritische Schrift Martin Luthers: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ (1520). Der Reformator beklagt darin, dass die römische Kirche den „Laien das Abendmahl in beiderlei Gestalt“ verwehre. „Das Sakrament gehört nicht zu den Priestern, sondern allen“, betonte er, und es gebe „keine würdige Vorbereitung (auf das Abendmahl) als allein den Glauben“, „Gottes Wort“ habe „eine größere Vollmacht, als unser Verstand es fassen kann“. Oder denken wir an die 95 Thesen. Der Reformator regte damit eine öffentliche Diskussion an, indem er die Kirche zur Besinnung auf ihre Wurzeln aufrief. Darin heißt es (62. These): „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“. Diskussionsstoff, Gedanken und Einsichten, die uns das Bild einer Kirche vor Augen malen, in der das Hören auf das Wort Gottes im Mittelpunkt steht. Wir sind aufgerufen, miteinander um dessen Verständnis zu ringen, was es für uns hier und heute, in dieser und jener Situation, bedeutet, wie es uns Orientierung gibt, aufrichtet, tröstet.
Mit den jüdischen Gemeinden damals in Babylon, die sich auf Jeremias Brief einließen, glauben wir an einen Gott, der nationale und religiöse Grenzen überschreit, Mauern durchbricht und Menschen zusammen führt. Dieser Gott ist dort, wo Menschen auf sein Wort hören, ihn anrufen, suchen, bitten, füreinander beten, auch für die Menschen, die gegen uns stehen und uns Feind sind. Es ist der Gott, dem auch Jesus von Nazareth vertraute. Zu solchem Vertrauen möchten uns heute die so trostvollen Worte aus dem über zweieinhalb Tausend Jahre alten Brief Jeremias ermutigen: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet“. “Dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet”, übersetzte Martin Luther. Im hebräischen Urtext heißt es wörtlich übersetzt: “dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung”. Mit diesem Zuspruch können wir, wie wir gesungen haben (EG 432), hier in Waldwimmersbach / Lobenfeld und überall auf der Welt “neu ins Leben gehen”.