Es ist ein paar Jahre her; in NRW fanden die Kommunalwahlen statt, auch in Minden; an einem der Samstage vorher ging ich in die Fußgängerzone unserer Stadt; dort traf ich auf eine Kandidatin für den Posten des Bürgermeisters. Wir kamen ins Gespräch. Ziemlich bald sagte sie: „Wir in unserer Partei sind ja auch für die christlichen Werte.“ Einen Moment lang zögerte ich: „Soll ich sagen, was ich denke, oder soll ich meinen Mund halten?“ Aber dann antwortete ich: „Frau …, wenn Sie von christlichen Werten sprechen, werden Sie wahrscheinlich noch mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auf Ihrer Seite haben. Wenn Sie von den Geboten Gottes sprechen, die wir zu hören und gegenüber denen wir gehorsam zu sein haben, sind es erheblich weniger. Und wenn Sie aussprechen: Gott hat seine Gebote gegeben; er wacht darüber, wie wir Menschen sie hören, zu Herzen nehmen und uns nach ihnen richten; und er wird uns an dem Tag, den er allein festlegt, zur Rechenschaft ziehen! werden es noch viel weniger sein.“ Etwas zögerlich sagte die Kandidatin: „Sie haben wahrscheinlich recht.“
Der Apostel Paulus rang Paulus damit, dass es in der Christengemeinde in Rom damals Schwache und Starke gab, und die stellten sich gegenseitig in ihrem Lebensstil vor Gott in Frage. Die einen hielten sorgfältig die Feiertage, die sie als Menschen jüdischer Herkunft kannten; die anderen gingen damit lockerer um. Die einen hatten noch die Speisevorschriften des jüdischen Volkes im Kopf und beachteten sie; die anderen fühlten sich diesen alten Geboten gegenüber völlig frei.
Da richtet Paulus den Blick aller in der römischen Gemeinde, die er bald besuchen wollte, entschlossen auf den Richterstuhl Gottes. Jeder und jede Einzelne wird sich in Bezug auf seine Lebensführung jetzt und dann beim Jüngsten Gericht vor Gott verantworten müssen. Jeder soll und darf in seinem Gewissen und gegenüber dem, was er von der Botschaft der Bibel aufgenommen und verstanden hat, handeln. Gott hat dann das letzte Wort gegenüber dem, was wir geglaubt, getan und gesprochen haben. Und dann zitiert Paulus feierlich eine Rede Gottes aus dem zweiten Teil des Jesaja-Buches: „So wahr ich lebe, sagt der Herr: Vor mir wird jedes Knie sich beugen und jeder Mund wird Gott die Ehre geben.“
Wir werden uns einmal alle vor dem Richterstuhl Gottes verantworten müssen. So sollen diejenigen, die sich innerlich stark fühlen, und diejenigen, die sich innerlich mit Fragen und Zweifeln quälen, gegenseitig achten. Für uns Menschen in der Bundesrepublik und für uns Christen in diesem Land geht es zurzeit nicht um das Halten von Feiertagen oder um das Achten von Speisevorschriften. Aber es geht sehr wohl um die Fragen, die aufgebrochen sind, nachdem in den letzten zwölf Monaten aus Asien und aus Afrika weit mehr als eine Millionen Flüchtlinge in unser Land geströmt sind. Was bedeutet es da, verantwortlich zu handeln? Wer redet und wer schreibt da das Richtige? Welche Herzenseinstellung ist da gefordert? Ich versuche einmal zu sagen: Wir alle heute Morgen hier im Gottesdienst sind Bürger dieses Landes und haben den Personalausweis der Bundesrepublik Deutschland im Portemonnaie. Wenn jemand unter uns nicht die Staatsbürgerschaft dieses Landes besitzt, ist er uns dennoch willkommen. Wir sind zugleich Mitglieder unserer Kirchengemeinde. Wenn jemand unter uns ist, der noch nicht getauft ist, der auf seinem Weg zu Gott also noch ein Suchender ist, freuen wir uns, dass er da ist und möchten ihm zur Seite stehen.
Nun ist es ein deutlicher Unterschied, ob ich als Bundesbürger in der Flüchtlingsfrage nach einem verantwortlichen Handeln suche. Oder ob ich als Christ und wir als Kirchengemeinde hier unserer Verantwortung als Kirche gerecht werden wollen. Ich möchte hier gar nicht von oben herab meine Gedanken vortragen. Wir können uns gerne nach dem Gottesdienst bei einer Tasse Kaffee oder in einem Hauskreis, zu dem Sie mich einladen, über diese Unterscheidung unterhalten. Sie können meine Punkte, die ich jetzt vortrage, ergänzen und andere Schwerpunkte setzen. Aber die Unterscheidung ist wichtig. Das Eine: Unser Land und wir als Bundesbürger in ihm sind für das verantwortlich, was jetzt mit den Flüchtlingen geschieht. Wir sind dankbar für das enorme Engagement so vieler; aber wir haben zugleich noch lange Zeit viel zu tun und um die rechte Herzenseinstellung zu ringen. Ich stelle einige Punkte zusammen:
Wir sind ein Sozialstaat. Alle, die die Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge bezeichnet, haben ein Recht darauf, dass man mit ihnen menschenwürdig umgeht.
Wir sind ein Rechtsstaat. Auch wenn im letzten Herbst Hunderttausende ohne Kontrolle über unsere Grenzen kamen, muss es bald wieder geregelte Maßstäbe für die Ein- und Ausreise an unseren Grenzen oder zumindest an den Grenzen Europas geben. In unserem Grundgesetz steht der Artikel 16a, Satz 1: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Aus unserer Erfahrung im Dritten Reich haben wir hier eine besondere Verantwortung. Auch wenn dieser Satz durch den Satz 2 eingeschränkt wurde – das Asylrecht gilt. Unser Land ist eins von 28 Ländern in der Europäischen Union und kann letztlich nur mit den 27 anderen Ländern zusammen handeln. Allen rechts- und linksradikalen Gedanken und Parolen wollen wir widerstehen, natürlich wollen wir uns auch allen islamistischen Gefahren gegenüber wappnen.
Wie jedes andere Land hat auch unser Land und unser Volk auf seine Sicherheit und auf seine Identität zu achten. Dann das andere:
Wir sind Kirche Jesu Christi. „Die Kirche steht gegründet allein auf Jesus Christ“, haben wir gerade gesungen. Wir sind nicht nur gegenüber dem Grundgesetz oder der öffentlichen Meinung verantwortlich; wir sind nicht nur gegenüber den Vorfahren und den Nachkommen verantwortlich. Wir können uns gegenseitig verständigen, aber wir sind vor allem unserem Gewissen gegenüber verantwortlich, und wir haben eines Tages Rechenschaft abzulegen vor dem Richterstuhl Gottes. Da gilt: Wo Gott uns deutlich macht: Hier sind Menschen, die sind hungrig oder durstig, die sind unter uns fremd oder unbekleidet, die liegen krank danieder oder sind gefangen weggesperrt, da haben wir zuzupacken und uns diesen Menschen zuzuwenden.
Wer seine Bibel kennt, weiß um die Nähe unseres Predigttextes Textes zu der Rede Jesu von dem Weltgericht über die Völker (Matthäus 25). Unter den Flüchtlingen sind viele Christen, die um ihres Glaubens willen bedrängt, in Gefahr gebracht und vertrieben worden sind. Unter denjenigen, die jetzt um Aufnahme bitten, sind viele, die sind uns fremd. Aber mit diesen Christen verbindet uns Wesentliches. An anderer Stelle (Galater 6,10) schreibt Paulus: “Solange wir also noch Gelegenheit dazu haben, wollen wir allen Menschen Gutes tun, ganz besonders denen, die durch den Glauben zur Familie Gottes gehören.“ Wo sie die Gemeinschaft mit uns Christen suchen, wo sie von uns etwas erwarten, da wollen wir für sie besonders offen sein.
Zurzeit erhöht sich die Zahl der Muslime in unserem Land von 4 auf 5 Millionen, und sie wird weiter steigen. Es wird immer öfter und immer intensiver zu Gesprächen mit Muslimen kommen, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und in der eigenen Familie. Da wollen wir bereit sein und uns fit machen. Wo gibt es Ähnlichkeiten im Glauben der Juden, Christen und Muslime – und wo können wir die Unterschiede nicht übergehen, ja, müssen sie klar benennen. Wie will man das anders machen, als dass wir den Koran aufschlagen und studieren und noch einmal neu, intensiver als vorher, die Bibel lesen?! Wenn heute unter uns Gedanken wieder aufkommen, die an die Zeit des Nationalsozialismus in unserem Land erinnern, da wollen wir entschieden „Nein“ sagen. Hitler war eine antichristliche Gestalt. Auch hier können wir uns gerne zusammensetzen, die wichtigen Texte zu diesem biblischen Begriff des „Antichristen“ gemeinsam lesen und dann miteinander noch einmal tiefer zu einer Einschätzung dieser Zeit vor 70, 80 Jahren kommen.
Als Kirche Jesu Christi wollen und sollen wir für alle beten, die in den Dörfern und Städten, in den Bundesländern, in der Bundesrepublik insgesamt und in der Europäischen Union Verantwortung übernommen haben. Früher rief man auf zum Gebet für die Obrigkeit. Ganz im Stillen, in der Familie, in Gemeindekreisen und in unseren Gottesdiensten. Wir wollen dies tun als informierte und gesprächsbereite Bürger und als Christen, die an die Kraft des Gebetes glauben. In unserem Predigtwort, mitten in den Konflikten der römischen Gemeinde, lenkt Paulus den Blick hin zu Gott-Vater und zu Gott-dem Sohn, der zu seiner Rechten sitzt, und vor dem wir eines Tages unser Leben und unseren Glauben, unsere Taten und unser Lieben zu verantworten haben. Zum biblischen Glauben gehört es, dass Gott nicht nur in einzelnen frommen Menschen und nicht nur in den christlichen Gemeinden wirkt. Er sitzt im Regiment und lenkt die Geschicke der Völker. Er hat die Welt unter seine Verheißungen gestellt, und er wird zu seinem Wort stehen und seine Verheißungen wahr machen. Er hält die Welt auch in ihren Krisen und Katastrophen in seiner Hand. Er greift in dieser Welt richtend ein und führt durch seine Gerichte hindurch. Bis alles vollendet sein wird. „So wahr ich lebe, sagt der Herr: Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jeder Mund wird Gott die Ehre geben.“ Dieser Satz aus dem Jesaja-Buch, den Paulus zitiert, gilt.