Verlust der Lebensfreude?
Was erschöpft uns heute so? - Eine neue Sicht brauchen wir, um wieder zu gesunden
Predigttext: Jesaja 40, (25) 26-31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
25 Mit wem wollt ihr mich also vergleichen, dem ich gleich sei? spricht der Heilige.
26 Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden. Gedanken beim Lesen
(Eigene Übers. Christoph Kühne)
25 (Und) Mit wem wollt ihr mich vergleichen, dass ich ihm entspräche? // spricht der Heilige
26 Hebt in die Höhe eure Augen und seht: Wer hat diese (Sterne) geschaffen?
ER ist es, der die Zahl ihres Heeres herausgehen lässt // dass er sie alle mit Namen nennt
Wegen der Menge der (Zeugungs-) Kräfte und des Starken an Kraft wird nicht eins (der Sterne) vermisst:
27 Warum sprichst du dann, Jakob, und redest, Israel: //
Verborgen (ist) mein Weg vor IHVH, und vor meinem Gott geht mein Rechtsanspruch verloren?
28 Hast du es nicht gewusst? Weißt Du es nicht?
Ein ewiger Gott (ist) IHVH! Der auch die Ränder der Erde erschaffen hat
Nicht wird er müde noch erschöpft // unausforschlich (ist) sein „Verstand“
29 ER gibt dem Ermüdeten Kraft // und dem Kraftlosen wird er ER die Stärke mehren
30 Denn Jugendliche ermüden und erschöpfen // und junge Männer wanken und straucheln
31 Aber die auf IHVH hoffen, tauschen Kraft ein, treiben Flügel aus wie Adler // rennen und erschöpfen nicht, gehen und werden nicht müde
Anmerkungen zur Perikope
Ein berauschender Text! Voller ermutigender Bilder! Schon der Beginn: Was nutzt es, dauernd nach Problemen zu suchen und sie hin und her zu bewegen? „Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ „Wir machen unser Kreuz und Leid / nur größer durch die Traurigkeit.“ Nicht die Frosch- sondern die Adlerperspektive hilft uns, einen Sinn im Leben zu erkennen. Bilder gegen die Traurigkeit, die Depression, gegen Burnout!
Der Text ist gut erhalten. Ich nehme V 25 als Einleitung zum Text hinzu.
V 25 leitet die Perikope ein: Wer ist IHM gleich?
V 26 Erinnerung an die Schöpfung durch den Blick „in die Höhe“ zu den (zu ergänzenden) Sternen; vgl. Gn 15,5: Abrahams Blick zu den Sternen; Gott ist als IHVH Zebaoth auch der Schöpfer und Herr der Gestirne (gegen den babylonischen Sternzeichenglauben!): ER kennt sie alle namentlich; vgl. Joh 10, 27ff: Jesus kennt sie Seinen wie ein Hirte seine Schafe; den Namen kennen bedeutet eine besondere Beziehung; aber gilt gleiches für die Gestirne wie für den Menschen?
V 27 Ist Gott desinteressiert am Menschen oder „nur“ menschentaub? Deuterojesaja nimmt die Fragen der Juden im babylonischen Exil auf (2. Hälfte des 6. Jahrhunderts vChr): Rechtsanspruch vor Gott? Wohin soll ich gehen? Vgl. Joh 6, 68f Kann Jesaja seinen Zeitgenossen weiterhelfen?
V 28 Der Prophet wendet sich an den Einzelnen, weist ihn auf die (wieder) auf Gottes Schöpferkraft (der Ränder der Welt): Wie könnte der Schöpfer von Himmel und Erde ermüden?
V 29 Vielmehr gibt der „Mächtige an Kraft“ (26ba) dem Müden Stärke
V 30 betont die natürliche Erschöpfbarkeit des Menschen durch Arbeiten oder auch Laufen - bis zur Besinnungslosigkeit
V 31 Wie ein Dur-Akkord steht die Hoffnung auf IHVH am Anfang der Zeile: eine Wendung, ein Tausch erfolgt: Adler-Schwingen wachsen den Müden: sie rennen und gehen; vgl. Hb 12, 1: die Krise ist überwunden, die Gottesnähe wiederhergestellt (vgl. Mt 4, 17b: Das Reich Gottes ist nahe), das Leben sinnvoll; vgl. 2 Kor 12, 9: Meine Kraft ist in der Schwachheit mächtig)
Kernbegriffe
- Erschöpfung (auch von Jugendlichen und jungen Erwachsenen)
- Schwingen wachsen lassen
- Krise (überwinden)
- Lebenssinn und Lebensrecht
Lieder
”Ich möcht, dass einer mit mir geht“ (EG 209)
„Geh aus mein Herz“ (EG 503)
„Befiehl du deine Wege“ (EG 361)
„Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (EG 369)
Literatur
Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen IV
Was für ein rauschhafter Predigttext. Ein gewaltiges Bild gegen Depression und Burnout! Wer könnte das Bild von dem (jungen) Menschen je vergessen, der eben noch verzweifelt und erschöpft am Boden lag, keine Aussicht mehr auf Zukunft hatte und vielleicht sogar dem Suizid nahe war – und dem jetzt Flügel, ja Schwingen wachsen. Wie er sich erhebt, kraftvoll, lebendig?! Ein Phönix aus der Asche! Ein Traumbild. Unwirklich? Irreal? Pure Fantasie? Lässt sich das Hartz-IV-Menschen vermitteln? Menschen, die sich die Finger wundschreiben mit Bewerbungen und keine Angebote außer Praktika erhalten? Oder Managern in Führungspositionen, die nur noch Arbeit kennen, für auch das Wochenende eine Vorbereitung auf die Arbeitswoche ist? Erschöpfung, Burnout – Worte unserer Gesellschaft. Was erschöpft uns heute so? Zeitdruck, ungerechte Hierarchien, Gier nach Macht und Geld? Und durchzieht dies nicht alle Berufe und oft genug auch die privaten Bereiche wie Familie, Freundschaft, Hobbies? Burnout – ohne je richtig gebrannt zu haben für eine Sache, eine Aufgabe, einen richtigen Lebenssinn!
In die Seelsorge wie auch in die Psychotherapie kommen Menschen mit ihrer Erschöpfung. Oft genug sehen sie noch ganz „normal“ aus. Ihr Sprachstil ist (zuerst) noch gepflegt, bis er dann brüchig wird. Die Worte wollen den eigenen Zustand nicht mehr richtig formulieren. „Ich weiß eigentlich gar nicht, was mit mir los ist!“ Und dann folgen Berichte über unmotiviertes Weinen, eine Traurigkeit, die es bislang nicht gab. Eine Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, die nicht zu dem guten Gehalt und der hervorragenden Position in der Firma passen will. In der Psychotherapie sprechen wir dann von Anhedonie, von dem Verlust der Lebensfreude. Kleine Zeichen des Lebens verstehen wir dann nicht mehr. Die Sterne am Himmel, der angebrochene Frühling mit seinen Blumen, seinen vielen Grünfarben, seinem erwachenden Leben ist mir dann gleichgültig. „Alle Jahre wieder …“ Anhedonie – auch mir selbst gegenüber. Wie kann man singen „Ich freue mich und springe und singe: Gott sei Dank!“ Es ist, als ob ein Licht wenn nicht ausgeblasen so doch ziemlich klein und flackerig geworden ist. Anhedonie – Ende des Lebens.
An dieser Stelle spricht uns der Prophet Jesaja an. Mit einer ungewöhnlichen Aufforderung: Steh auf und sieh nach oben! Zum Himmel! Was siehst du? Vielleicht erinnern wir uns an Abraham, den sog. Vater des Glaubens (der er ja nicht immer war!) Niedergeschlagen, lebensmüde, erschöpft war er, der „Glaubensheld“, gebeugt vom eigenen Kummer. Was sagt Gott? Sieh gen Himmel! (Gn 15, 5) Löse Dich von Deinen eigenen Leid! „Wir machen unser Kreuz und Leid / nur größer durch die Traurigkeit“ hat einer gesungen, der um Depressionen wusste. Der Dichter und Musiker Georg Neumark. Und sein Rat: „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen!“ Und er spricht von der Zuversicht. Was für ein schönes Wort! Eine neue Sicht brauchen wir, um wieder zu gesunden! Darum: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil eure Erlösung nahe ist!“ So heißt es in der Endzeitrede Jesu (Luk 21, 28). Vielleicht verleiten uns Leid und Elend zu sehr, auf die eigene Größe – resp. Kleinheit – und Belastungsfähigkeit zu blicken. Der Blick nach oben mag uns helfen, unsere richtige Größe und Bedeutung neu einzustellen. Sub specie aeternitatis.
Also von oben her, von Gott her. Von unserem Schöpfer aus gesehen das eigene Schicksal annehmen lernen. Vielleicht liegt in der hohen Bewertung der eigenen Kraft – und dann auch Kraftlosigkeit – ein Vergleich mit der Kraft unseres Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erden. Vielleicht kann eine menschliche Maßlosigkeit deutlich werden, die nach Korrektur ruft. Nach Demut. Nach Menschlichkeit. Und dann kann es geschehen – wie bei der Begeisterung zu Pfingsten! -, dass Müdigkeit und Erschöpfung abfallen wie ein altes, unpassendes Kleid. Weil mir Flügel wachsen, Schwingen mich erheben, Zuversicht meine Tage prägt. Dass mein Leben neu wird. Lebenswert. Liebenswert der Andere, den ich neu sehe und willkommen heiße in meinem Leben. So bleibt ein Dank an Dich, Jesaja, für Dein rauschhaftes Bild vom Adler! Gott sei Dank, dass Du, Gott, mich geschaffen hast mit meiner Würde, meiner Größe, meinem Stolz! Ich sehe wieder Licht in meinem Leben! Hilf mir, die Müden und Erschöpften zu begleiten, aufzurichten! Dass auch ihnen Schwingen wachsen und sie Schritte ins Leben finden.
Einen berauschenden Text voller ermutigender Bilder sieht Pastor Kühne im Deuterojesaja-Text. Wie nur selten in Predigten nimmt der Pastor den Überschwang des Textes auf und trägt ihn weiter. Sehr empathisch interpretiert er den Text und verbreitet Enthusiasmus. Er vergißt aber Kummer , “Anhedonie ” und Depression nicht. Aber Gott wird dem Glaubenden gewiss wieder Flügel wachsen lassen, dass er sich aus Schwermut erhebt. Am Schluß dankt der Pastor Jesaja für sein rauschhaftes Bild vom Adler des alles überblickenden Glaubens an Gott. Dessen Schwingen werden einem jeden Mutlosen wieder neuem Lebenssschwung geben. Eine total antidepessiv berauschende Predigt nicht ohne schwermütige Tiefsinn-Kenntnis. – Exegeitisch ergänzen könnte man noch, dass die babylonischen Götter zum großen Teil Gestirn -Götter waren. Durch Astrologie bestimmten sie alle persönlichen und Staats-Geschicke. Was hatte Jahwe, der Gott der jüdischen Exulanten ihnen entgegen zu setzen ? Deuterojesaja verkündet im Text, dass der Schöpfer der Erde und der Gestirne hoh über den Gestirn-Göttern steht. Sie sind nur Geschöpfe ! Der Weltschöpfer denkt aber nach Dt-Jesaja immer wieder an die Müden und Onmächtigen !