Predigt

Verschlossene Geschichten

Das Lamm aber bricht die Siegel des Lebensbuches

PredigttextJesaja 52,13 – 53,12
Kirche / Ort:Aachen
Datum:21.03.2008
Kirchenjahr:Karfreitag
Autor:Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Jesaja 52,13 – 53,12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

52,13 Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. 14 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, 15 so wird er viele Heiden besprengen , dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken. 53,1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern , als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Der Tod Jesu wurde schon sehr früh von Jes. 53 her verstanden (vgl. Apg. 8). Das vierte Ebed-Jahwe-Lied bezieht sich auf die anderen drei Lieder, die bei Deuterojesaja aufbewahrt sind. In Jes. 42,1-4 erhält der Knecht Jahwes den Auftrag, Israel wieder aufzurichten und das Recht unter die Völker zu bringen, das dritte Lied endet mit der offenen Frage, ob der Knecht gescheitert sei. Da setzt das vierte Lied mit einem Gottesorakel ein, dass dem Knecht nicht nur Erfolg, sondern dreifach (im Sinne einer Klimax) die Erhöhung ansagt. Formal stellt die Gottesrede in Jes. 52,13-15 und 53,11b-12) den Deutungsrahmen dar. Der Mittelteil ist aus der Perspektive einer Gruppe (es heißt „wir“ oder „die vielen“) formuliert, die für Israel steht (Jes. 53,1-11a). Auffällig sind die Akzente und Akzentverschiebungen in der Mitte. Während Jes. 53,2f und 4b noch das Elend des Knechtes in der Logik des alten Tun-Ergehen-Zusammenhangs („geplagt und von Gott geschlagen“) schildern, bahnt sich ein neues Verständnis an: V. 6a „wir alle gingen in die Irre“. Kausativ formuliert: V. 5a Nicht wegen eigener Schuld, sondern „durchbohrt wegen unserer Missetat, zerschlagen wegen unserer Sünde“. Jetzt wird im Mittelteil klar, dass der Knecht Gottes die Folgen fremden Tuns übernommen hat. V. 6b schließt dann weiter auf, V. 10a fasst zusammen: Dass der Knecht Gottes leidet, geht auf Jahwe selbst zurück. Er lässt seinen Knecht an die Stelle anderer treten. Nach 10b 11a – Subjektwechsel – setzt der Knecht selbst sein Leben als Schuldtilgung ein. Er übernimmt fremdes Geschick, um „die anderen von den bösen Folgen ihres Tuns zu lösen, konkret, um Israel nach der Katastrophe von 587 v. Chr. zu JHWH ‚zurückzubringen’“ (Janowski, S. 41). Das erste Lied, Israel sowie die Völker zu retten, wird im vierten vollendet. Jahwes Knecht gibt denen, die nicht einmal eine Schuldverpflichtung übernehmen, eine Zukunft und tritt stellvertretend, unschuldig, für sie ein. Trotz aktueller, aber keineswegs neuer Bestreitungen (vgl. Klaus-Peter Jörns) gibt es keinen tragfähigeren Deutungsrahmen für den Weg und das Geschick Jesu als das vierte Ebed-Jahwe-Lied. Jörns, über viele Jahre Professor für Praktische Theologie in Berlin und Herausgeber der Göttinger Predigtmeditationen, setzt ganz auf die unbedingte Liebe Gottes, die kein Opfer braucht, auch kein Opfer macht und (nur?) in der Auferstehung Jesu sichtbar wird. Jörns meint: „Das Christentum muß sich selbstkritisch fragen, ob die bisherige Botschaft von der in Jesu Christi Hinrichtung von Gott selbst erbrachten Sühneleistung nicht die Leiden in der Welt kräftig gefördert hat“ (Abschiede, S. 334).

Literatur

Hans-Jürgen Hermisson, Das vierte Gottesknechtlied im deuterojesajanischen Kontext, in: Janowski/Stuhlmacher, Der leidende Gottesknecht. Jes. 53 und seine Wirkungsgeschichte (FAT 14), Tübingen 1996, S. 1-26; Bernd Janowski, Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung, in: Janowski/Stuhlmacher, Der leidende Gottesknecht. Jes. 53 und seine Wirkungsgeschichte (FAT 14), Tübingen 1996, S. 27-48; Klaus -Peter Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004, 286-341; Klaus -Peter Jörns, Lebensgaben Gottes feiern. Abschied vom Sühneopfermahl: eine neue Liturgie, Gütersloh 2007.

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