„Ich singdir mein Lied, in ihm klingt mein Leben. Die Töne, den Klang hast du mir gegeben von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde, du Quelle des Lebens. Dir sing ich mein Lied.“ Diese Zeilen eines Kirchenliedes von Fritz Baltruweit und Barbara Hustedt werden begleitet von einer schwunghaften Melodie aus Brasilien. Für mich ein „gute-Laune-Song“. Vieles bringt er in mir zum klingen: Gedanken, Gefühle und Bilder über das pulsierende Leben, über Frühling und Farben. Eine Leichtigkeit des Lebens wird besungen, dass es mir zum Tanzen zumute wird. Wer sich überschwenglich lebendig fühlt, fragt in diesem Moment nicht: „Warum lässt Gott Leid zu?“. Wer voller Kraft strotzt, kann für eine Weile alle Zweifel vergessen, sich des Lebens erfreuen, die Schöpfung genießen und dem Schöpfer des Lebens danken.
Der heutige Predigttext zeichnet zwei Wochen nach dem Erntedankfest einen deutlichen Kontrast. Der Prediger blickt mit seinen Sprachbildern auf das Vergehen im Alter und weist auf das Ende eines jeden Weges hin. Er beschreibt eine Zeit, in welcher der Winter des Lebens eingezogen ist und zum erliegen bringt, was einst blühte. Hören wir also, welche Erkenntnis er mit uns teilen möchte, wenn er schreibt:
(Lesung des Predigttextes)
Zu Beginn führte ich uns unbeschwerte Lebensfreude vor Augen, die besonders ein Segen der Jugend ist. Die düsteren Zeilen des Predigers stehen dem gegenüber und könnten zusammengefasst werden als „Fluch des Alters“. Die Bilder aus seiner Lebenswelt sind uns vielleicht nicht sofort verständlich. Im Grundtenor hören wir jedoch heraus, wie sie den Rückgang und Mangel an Kraft beschreiben; zuletzt sogar den Stillstand des Lebens. Bilder unserer Zeit, die von Beschwernissen des Alters zeugen, könnten diese sein:
Der geliebte Garten verwuchert, weil die Kraft zur Pflege fehlt – Am Geburtstag sind Glückwunschkarten rar geworden und der Kreis der Freunde klein – Das Klavier steht stumm an der Wand, weil die Finger nicht mehr drüber gleiten können – Der Gehstockt steht wie festgefroren in der Ecke, weil die Beine müde sind – Die Hundeleine an der Gardrobe verstaubt, weil der beste Freund vor Jahren auf seine letzte Reise ging. Gewiss reden wir hier nicht vom Alter der rüstigen Rentner, sondern im Sinne des Predigers vom hochbetagten Lebensabend. Wer ein solch hohes Alter erreicht, erfährt was Schrumpfen heißt, bis das Bett zur ganzen Welt geworden ist.
Das Aushalten körperlicher Einschränkungen ist das eine. Ein anderes ist es, beim Loslassen dessen, was uns ausgemacht hat, die eigene Identität bewahren zu können: – Wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr meinen Garten bepflanze und dort Feste feier? – Wer bin ich noch, wenn so viele, die mich kannten, nicht mehr sind? – Wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr am Klavier Lieder spielen oder im Chor mitsingen kann?
Vieles schwindet, doch was hat Bestand? Wer so fragt, versteht den Schwermut des Predigers. Denn sie nehmen zu, die Tage, von denen du sagst: „sie gefallen mir nicht.“ Der Prediger gibt uns jedoch gleich zu Beginn auch einen Hoffnungsschimmer. Dieser droht, von seinen folgenden Bildern überschattet zu werden, daher hebe ich ihn in jetzt nochmal hervor. „Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen.“ Ein Rat, der vielleicht in der Jugend und durch die Segnungen der Jugend schwierig zu befolgen ist. „Im Alter kommt der Psalter“, das bedeutet, Gott kann erstmal warten. Altersvorsorge in der Jugend bedeutet primär finanzielle Vorsorge. Doch der Prediger erkennt und warnt zu Recht:
Eine Gottesbeziehung, die bis zum Ende trägt, wird nicht erst im hohen Alter in einer verzweifelten Nacht geboren. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, so dichtete es Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Herbsttag.“ Im übertragenen Sinn könnte das unser Prediger meinen: „Wer im hohen Alter kein Glaubenshaus hat, baut sich keines mehr.“
Der Reformationstag rückt näher. Mit Blick auf dieses Fest möchte ich betonen, dass Gott selbstverständlich niemanden zurückweist. Jede und jeder ist ihm selbst im höchsten Lebensalter noch willkommen. Die Reformatoren wussten aber auch, dass Glaube nicht ausschließlich vom Himmel fällt und haben einen Dreischritt beschrieben, mit dem sich ein Glaubenshaus erbauen lässt:
Erster Schritt: Notitia – Um Glauben zu können, muss ein Mensch erstmal Notiz von Gott nehmen und in Kontakt mit Glaubensinhalten kommen. Glaube ist nicht nur Gefühl und Wünschen, sondern auch ein Lernen. Ein Aneignen von Wissen.
Zweiter Schritt: Assensus – Ich kann durch Nachdenken und Forschen zu dem Punkt gelangen, konkreten Glaubensaussagen bewusst zuzustimmen und für mich anzunehmen. Zum Beispiel habe ich gelernt und stimme zu, dass Gott mich durch Jesus Christus annimmt, mich liebt und mich ein Leben lang begleiten wird.
Dritter Schritt: Fiducia – Bei diesem dritten Schritt setze ich mein ganzes Vertrauen auf das, was ich von dem Gehörten glaube. Dieses Vertrauen zu wagen kann ich aus eigner Kraft. Dass es sich als Tragfähig erweist, dazu brauche ich jedoch Beistand des Heiligen Geistes. Er mir hilft, Gottes Wort zu vertrauen. Er macht mir Gottes Liebe gewiss, selbst in Momenten, in denen ich sie nicht fühle oder verstehen kann.
Mit dem Prediger werbe ich dafür, Zeit und Aufmerksamkeit in Gott zu investieren, um sich von Jugend an ein Glaubenshaus zu bauen. Welch Segen ist es daher, dass Pastorinnen und Pastoren, Gemeindepädagogen und Diakone, Erzieherinnen und Erzieher, unzählige Kinder und junge Menschen in Brührung bringen mit dem Urvertrauen in Gott. Mit jeder Geschichte von der Liebe Gottes, mit jedem Gebet und jedem Kerzenlicht bekommen sie die Gelegenheit zu entdecken, dass da einer ist, der sie begleitet vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.
Und wenn die Jungend dann verblasst und du einst sagen wirst über deine Tage – „sie gefallen mir nicht.“ – kannst du Gott an deiner Seite wissen, der in deinem Glaubenshaus wohnt. Selbst wenn sich mangels Kraft zur Aktivität deine Identität aufzulösen droht, wird Gott sie bewahren und hinüberretten zum ewigen Leben. Vielleicht fühlst du sie nicht – diese Liebe Gottes -, aber du wirst darum wissen. Oder du weißt nicht mehr viel Theologisches davon zu sagen, aber kannst sie spüren.
Ich wünsche jedem Menschen eine Gottesbeziehung von Kindesbeinen an, bevor der Winter kommt. Und ich bin dankbar, dass Kirche ein Ort ist, um diese Beziehung zu gründen und zu bewahren, auf dass ein Chor an Gläubigen dereinst in ihren Betten mit Herz und Verstand über unseren Schöpfer singen kann:
„Ja, ich will euch tragen bis zum Alter hin. Und ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin – Ihr sollt nicht grauen, ohne dass ich’s weiß, müsst dem Vater trauen, Kinder sein als Greis – Ist mein Wort gegeben, will ich es auch tun, will euch milde heben: Ihr dürft stille ruhn – Lasst nun euer Fragen, Hilfe ist genug. Ja, ich will euch tragen, wie ich immer trug.“ (Jochen Klepper)