Vom Saulus zum Paulus

Neu ins Leben geschickt

Predigttext: 1.Timotheus 1,12-17
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 12.06.2016
Kirchenjahr: 3. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: 1.Timotheus 1,12-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

zurück zum Textanfang

Biografie mit Schatten

So eine Biographie! Bei einer Steinigung ist er anwesend, sagt nichts, soll sogar Wohlgefallen daran gehabt haben – heißt es. Lynchjustiz. Dann ist er in Häuser eingedrungen, an Verschleppungen beteiligt – und ein Denunziant ist er auch. Höhepunkt schließlich sogar der schriftliche Auftrag des Hohenpriesters in Jerusalem, in Damaskus nach den rechten Dingen zu schauen – sprich: zu wüten. Soll, darf ich ihn einen Terroristen nennen? Übrigens: Wissen Sie, von wem ich überhaupt rede?

Ja, ich rede von Paulus. Hochgelehrt, beste Familie, Rhetoriker vom Feinsten. Körperlich ein wenig kurz geraten, mit einer Stimme, die nicht recht zu ihm passte. Vielleicht musste er etwas kompensieren. Vielleicht brauchte er das ganz große Ding. Vielleicht suchte er die Schlagzeilen. Eigentlich eine schreckliche Geschichte. Denn er soll die Anhänger Jesu ausfindig machen – und dann kurzen Prozess mit ihnen machen. Höherer Auftrag, aber längst verinnerlicht. Unrechtsbewusstsein? Davon ist nichts zu finden. Unbelehrbar, fanatisch und hasserfüllt ist er. Ein williges – und sehr intelligentes – Werkzeug in der Hand von Leuten, die ihre Vorstellungen von der Welt einfach durchsetzen – im Namen des Glaubens, im Namen der Wahrheit. Man muss ihm nicht einfach etwas sagen – er weiß das längst alles. Was geht, was nicht geht, was wahr ist, was ausgemerzt werden muss. In einer Welt, nur schwarz und weiß.

Lukas erzählt diese Geschichte in seiner Apostelgeschichte. Zu beschönigen ist da auch nichts. Aber die Wendung kommt von oben. Nicht weit von Damaskus stellt sich ihm Jesus in den Weg. Er spricht den Wüterich mit seinem hebräischen Namen an: Saul, Saul! Warum verfolgst du mich? Ein überaus helles Licht leuchtet auf. Saul heißt: der Erbetene. Ein schöner Namen. Wer ihn wohl erbeten hat? Einst eine Mutter – jetzt womöglich Gott selbst, der seine eigene Geschichte mit diesem Typen beginnt? Nicht zufällig: Saul, Saul! Ein Ausruf. So bei seinem Namen genannt, wird er nicht weiter machen können. Saul hat zurück gefragt: Wer bist du, Herr? Als ob er da schon wüsste, wer ihn anhält, aufhält – festhält. Die Antwort ist deutlich: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Ein kurzes Zwiegespräch, „nicht weit vor der Stadt“ – aber Saul, Saulus, wird umgedreht, bekehrt, in ein neues Leben geschickt. So wie bisher geht es nicht weiter. Dafür tut sich sogar der Himmel auf. Und die Pferde stürzen.

Nicht weit vor der Stadt – wird aus Saulus Paulus. So sagt man zumindest. Immer noch. Wenn ein Mensch erst einmal in ein Sprichwort gerät, stehen wenige Worte zur Verfügung, um eine große Geschichte zu erzählen. Und sie immer wieder mit anderen, mit neuen Namen zu erzählen. Wie gut – dass aus einem Saulus immer noch ein Paulus werden darf! Ob jemals angedacht worden wäre, dem Wüterich den Prozess zu machen, ist nicht bekannt. Vielleicht muss ich mit meinem Gerechtigkeitssinn auch vor der Stadt bleiben. Ich sehe einen Menschen fallen.
Fallen!
Liegen!
Und dann aufstehen! Auferstehen!

In der Geschichte, die Lukas erzählt, heißt es: Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht (Apg 9,8f.). Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird sich mit viel Freude der drei Tage erinnern: Es ist die Zeit zwischen Tod und Auferstehung. Darum kann unser Held nicht sehen, nicht essen, nicht trinken. Er muss die Leere aushalten. Er muss sich aushalten. Er muss am Ende sein. Aber: am dritten Tag steht er auf. Wie Jesus, der Herr. Ein kluger, schöner und verheißungsvoller Zug in der Geschichte: Saulus wird in die Geschichte Jesu hineingenommen, seine Geschichte wird ihm anverwandelt – und anvertraut. Es ist schwer, die passenden, gar die richtigen Worte zu finden für das, was hier geschieht. Gott krempelt etwas um. Er macht seinem Namen alle Ehre: Er ist der, der erbittet. Er hat Saulus erbeten. Er hat Saulus bekommen. Oder genommen? Jetzt taucht er mit dem Namen Paulus in einer neuen Geschichte auf. Hochgelehrt, Rhetoriker vom Feinsten – und klein von Gestalt. Mit einer Stimme, die nicht mehr für sich selbst spricht. Aber einen Ton anschlägt, der bis heute nachklingt. In unseren Herzen, Liedern und Biographien. Tuen Sie sich etwas Gutes: Lesen Sie seine Briefe!

Biografie im Lobpreis

Ich lese aus einem Brief vor, auszugsweise. Es ist natürlich ein Brief an … aber dann auch ganz öffentlich. Dass der Brief seine eigene Geschichte hat, muss uns jetzt nicht bewegen. Aber es ist eine besondere Passage. Fast schon ein Gedicht! So will ich es auch vorlesen – aus dem 1. Timotheusbrief (1,12-17):

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus,
der mich stark gemacht
und für treu erachtet hat
und in das Amt eingesetzt,

mich, der ich früher ein Lästerer
und ein Verfolger
und ein Frevler war;

aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren,
denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn
samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.

Das ist gewisslich wahr und
ein Wort, des Glaubens wert,
dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist,
die Sünder selig zu machen,
unter denen ich der erste bin.

Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren,
dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise,
zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.

Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren,
der allein Gott ist,
sei Ehre und Preis in Ewigkeit!
Amen.

Tatsächlich: mit dem Amen könnte ich fast auch schlussmachen. Ein Hymnus ist es. Ein Lobpreis. Ein großer Dank. Aber weil wir – wir! – noch nicht fertig sind, machen wir weiter. Wir werden angesteckt. Von Worten, die uns zunächst fremd sind, aber dann unser eigenes Leben beschreiben – und schön machen.

Paulus, der hier seinem Mitarbeiter (und Kollegen) schreibt, legt über sein Leben Rechenschaft ab. Aber bevor er andeutet, was er alles verbrochen hat (früher ein Lästerer, ein Verfolger, ein Frevler), dankt er „unserem“ Herrn, Christus Jesus, dass er ihn stark gemacht hat, für treu erachtet und in das Amt eingesetzt. Es sind jeweils drei Worte, die Beziehungen verändern:
Der Lästerer wird stark gemacht …
Der Verfolger wird für treu erachtet …
Der Frevler wird in das Amt eingesetzt …
Immerhin: in das Amt, das die Versöhnung predigt. Feiner noch: in das Amt eines Apostels. Obwohl Paulus Jesus nicht gehört, nicht erlebt hat – sein Erlebnis vor Damaskus macht ihn den Jüngern Jesu gleich und gibt seinem Wort Autorität und – wie wir modern sagen – Authentizität. Jesus ist Saulus sozusagen privat erschienen.
Schließlich haben alle Jünger Jesu ihre eigene Geschichte, mit Untreue, Verlogenheit und Angst. In dieser Gesellschaft hat Saulus – Entschuldigung – Paulus gerade noch gefehlt. Aber diese Geschichte muss erzählt werden. Ungeschönt! Ohne Verklärung! Ohne Rechtfertigung! Es ist der Herr, der stark macht, für treu erachtet und in das Amt einsetzt. Examensnoten, Führungszeugnisse und Referenzen gehören nicht in das Repertoire des Herrn. Eher seine Liebe für die kleinen und verbogenen Geschichten, die Menschen ungeschminkt erzählen können. Er schenkt Barmherzigkeit, er nimmt Sünder in seinen Dienst. Das setzt jeder Lebensgeschichte die Krone auf. Schließlich ist Christus mehr Titel als Name: Jesus ist der Gesalbte. Der Messias. An seinem Wort hängt alles.

Biografie für andere

Was Paulus schreibt, schreibt er im Rückblick. Er übersieht seinen Lebens-Lauf. Dabei ist das Wort „übersieht“ wörtlich zu nehmen: er überschaut vieles, aber manches übersieht er auch. Er kann es nicht sehen. Ich kann auch vieles nicht sehen. Ich bin betriebsblind. Wohl länger als drei Tage. Aber im Gebet kann ich davon reden. Wie Paulus. Zweimal bekennt Paulus: Mir ist Barmherzigkeit widerfahren. Zweimal. Nachdrücklich. Einmal mit dem Unterton, unwissend gewesen zu sein – es fällt sogar das Wort Unglauben, dann aber mit dem Oberton: dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise. Aber wenn „Erster“ in der Regel eine Auszeichnung ist, dann hier mit einem weiten Blick: zum Vorbild denen, die an Jesus glauben sollten zum ewigen Leben. Hier spürt man den seelsorglichen Blick eines Menschen, der aus seiner reichen (und zwiespältigen) Erfahrung einerseits, aus erfahrener Barmherzigkeit andererseits helfen will, selig zu werden.

Ein altes Wort ist das: selig. Alles Mögliche gerät uns in den Kopf. Gefühle, die uns selbst einmal erwischt haben – oder die uns unverhofft zufielen. Stimmungen, die wie Schmetterlinge im Bauch sind – oder die Wolken weit unter sich lassen. Das kommt dem schon sehr nahe, was selig meint! Selig heißt, so glücklich zu sein, Gott unverhüllt zu sehen. Im Frieden zu sein: mit ihm, mit sich, mit den anderen. Selig heißt: keine Angst mehr zu haben. Vor dem vernichtenden Urteil, das ich mir selbst sprechen muss. Vor dem bösen Blick, der mich treffen wird. Selig heißt, barmherzig sein zu können. Obwohl es nur wenige Worte sind, die Paulus dem Papier anvertraut: sie geben uns Zuflucht und Zukunft.

Wir sind tatsächlich in einer gänzlich anderen Situation als Paulus. Solche extremen Erfahrungen wie er haben wir mit uns wohl noch nicht gemacht. Wir sind eher über gewalttätige Exzesse entsetzt. Im Namen Gottes, im Namen der Wahrheit werden heute immer noch Menschen verfolgt, mit dem Tode bedroht, auch umgebracht. Selbst Kinder müssen daran glauben – ein entlarvendes Wort. Heute wird uns das im Gottesdienst als dunkle Folie eines Menschenlebens präsentiert – von Paulus selbst. Aber er, der Barmherzigkeit erfahren hat, will Menschen auf den Weg der Liebe bringen. Darum spricht er von der Barmherzigkeit, die Zukunft eröffnet. So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Auch nicht in der veredelten Form, die heute wieder salonfähig wird: „ …das wird man ja doch noch sagen dürfen”. Was dann kommt, ist in der Regel aggressiv, voller Vorurteile – und / oder angstbesetzt. Es gibt eine Gewalt, die mit Worten Leben zerstört – und die Hölle öffnet. Keiner will es – und es geschieht doch. Oder wird in Kauf genommen. Für uns gibt es nur eine Möglichkeit: wir dürfen von der Barmherzigkeit erzählen, die uns widerfahren ist. Die uns widerfährt. So unterschiedlich Lebenswege und Lebensentwürfe sind:
Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren,
dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise,
zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.

Gefühlt bin ich: Erster. Ein schönes Bild. Es ruhen Hoffnungen auf mir!

Biografie Jesu

In seinem Brief an Timotheus verweist Paulus seinen Mitarbeiter – und uns – an Jesus. Es ist, als ob sich ein Horizont auftut. Es ist, als ob sich der Himmel auftut:

Das ist gewisslich wahr und
ein Wort, des Glaubens wert,
dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist,
die Sünder selig zu machen,
unter denen ich der erste bin.

Wahr, glaubwürdig, des Glaubens wert: Jesus ist in die Welt gekommen, Sünder selig zu machen. Über das Leben Jesu, über sein Wirken, seine Worte ließe sich vieles sagen. Über Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Selbst die sogenannte festlose Zeit – die Trinitatiszeit – ist voll davon. Unsere Worte und Gedanken reichen nicht aus. Paulus hat den Mut, nur einen einzigen Gedanken zu äußern und damit alles zu sagen: „die Sünder selig zu machen“.
Wir haben mit dem Wort „Sünde“ unsere Schwierigkeiten. Dabei sind wir ständig damit konfrontiert, mit Fehlern umzugehen, eigenen und fremden. Aber Sünde ist mehr als ein Fehler, als viele Fehler. Sünde steht für eine Welt, die auseinanderfällt. Für ein Leben, das bricht. Für eine Zukunft, die sich entzieht. Sünde ist mit Tod und Teufel verwandt. Martin Luther hat die drei immer in einem Atemzug genannt. Nicht als Gespenster – als Mächte, die wühlen, den Boden unter den Füßen wegziehen, einem Höllenschlund gleich Menschen fressen.

Warum Jesus in die Welt gekommen ist? Um uns freizusprechen, freizugeben. Sein Leben setzt er für uns ein. Jetzt kann ein anderer Wind wehen! Eine andere Welt wird sichtbar! Wir treten aus dem Bann des Bösen heraus. Aufrecht – und gehalten. Gelegentlich brauchen wir kurze Formeln, um das Geheimnis Gottes auszusprechen. Ein Satz genügt.
Wir haben mit dem Wort „Sünde“ unsere Schwierigkeiten. Wenn wir erst einmal eine Ahnung davon haben, was uns gefangen nimmt, den Atem raubt, die Gedanken kreisen lässt, dann können wir entdecken, geliebt und angenommen zu sein. Barmherzig. Übrigens: Wir werden ab jetzt fragen müssen, wie wir mit Menschen umgehen, die einer Versuchung erliegen, sich schuldig machen oder ihre Seele verkaufen. Zur Sünde gehört, immer weiter in die Irre zu laufen. Immer weiter zu flüchten. Immer tiefer zu fallen. Wer barmherzig ist, schaut erst einmal auf seinen eigenen Weg. Um nicht in die Falle zu gehen. Jesus ist in die Welt gekommen, Sünder selig zu machen. Dann können Menschen Ruhe und Frieden finden. Und die Liebe, die stärker ist als der Tod.

Vorsichtshalber: Dem Unrecht, dem Missbrauch, der Schuld ist nicht klein beizugeben. Das berühmte Mäntelchen der Vergebung ist nicht über alles zu decken. Und nichts ist unter den Teppich zu kehren. Aber Paulus ist ein gutes Beispiel dafür, sich neu ins Leben schicken zu lassen – und doch die dunklen Seiten seines Lebens nicht zu verstecken oder gar zu rechtfertigen. Heute müssen wir von neuen Anfängen reden. Um Jesu willen. Er schenkte Menschen das Glück, wieder in den Himmel zu kommen. Ein kindliches Bild, ich weiß. Ein besseres weiß ich gerade nicht. Barmherzigkeit ist übrigens, hebräisch, der Mutterschoß, aus dem wir alle kommen, von dieser Geborgenheit leben wir Tag für Tag. Wir stoßen hier auf die mütterliche Seite Gottes. Auf einen Mutterschoß, der vor aller Welt ist – und vor den Sorgen, der Schuld und der Angst. Ein Lobpreis beschließt alles:

Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren,
der allein Gott ist,
sei Ehre und Preis in Ewigkeit!
Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.