Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist jubelt vor Freude über Gott. Dieses Lied singt Maria, die Mutter Jesu. Sie und ihre Verwandte Elisabeth erwarten ein Kind. Und – so alt Maria´s Worte auch sind – ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen über die Schwangerschaft und Geburt Ihres Kindes ähnlich hätten singen können. „Meine Seele lobt Gott…“ Viele von Ihnen sind mit einem dankbaren Herzen in die Kirche gekommen; viele Väter und Mütter, Großeltern und Urgroßeltern könnten womöglich einstimmen und mit Maria singen: Mein Geist jubelt vor Freude… , denn er hat Großes an mir getan. Wer war die Frau, von der uns dieses Lied überliefert ist? Ich habe mir die zwei Figuren mitgenommen, die wir in der Mariengemeinde von ihr haben. Dies ist die Maria, die zu unserer Weihnachtskrippe gehört. Ihre Farben sind rot und blau, so wie wir sie von vielen Darstellungen kennen. Sie kniet andächtig nieder. Ihr Kopf ist geneigt. Die Hände ruhen auf den Beinen. So stelle ich mir die Maria vor, die dem Engel antwortet: Mir geschehe wie du gesagt hast. Maria stimmt der Schwangerschaft zu. Sie ist ein Mensch, der „Ja“ zu etwas Anderem, Neuen sagt. Im Unterschied zu den vielen Menschen, die angestrengt ihre Ziele verfolgen; die sich ungerne unterbrechen lassen. Im Unterschied zu uns und unserer Gesellschaft, die uns dazu anhält aktiv und zielstrebig zu sein. Voran zu gehen. Das Leben in die Hand zu nehmen. Klug zu planen.
Maria ist ein Mensch, der in wacher Passivität hören und annehmen kann, was das Leben gibt. Die andere Maria gehört zu den Krippenfiguren unserer Kindertagesstätte. Eltern und Kinder haben sie vor drei Jahren „gebaut“. Auch sie im klassisch blauroten Gewand. Sie steht groß und kraftvoll da; froh und erhobenen Hauptes. Ihr Mund ist leicht geöffnet. So stelle ich mir die Maria vor, die sagt: Gott hat Großes an mir getan. Sein Name ist heilig. Mit starkem Arm beweist er seine Macht. Er zerstreut die in alle Winde, die stolz und hochmütig sind. So und so ist Maria. Die sensible Frau, die Engel sprechen hören kann; die Maria, die sich in ihren Lebensplänen unterbrechen lässt; die Frau, die dem Göttlichen in sich Raum gibt. Und die kraftvolle Frau, die über den eigenen Horizont hinaus schaut und ihrer politischen Vision Worte gibt. Politik darf in der Kirche nicht sein – sagen Manche. Aber Maria besingt ihre Vorstellungen von einer politischen Wende. Ihr Lied ist fast ein revolutionäres Lied: Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und hebt Niedrigen hebt er auf. Er füllt die Hungrigen mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Kein Blutvergießen, aber ein Ausgleich der Verhältnisse. Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.
So und so ist Maria. Ich staune über die Weite ihres Denkens: ihre persönliche, intime Welt verbindet sich mit der Vision von Friede und Gerechtigkeit. Menschen wie Maria braucht die Welt. Als solche Menschen braucht uns Gott. Sie hat das Lied nicht erfunden. Wir müssen weit in der Bibel zurückblättern bis in das Alte Testament – da finden wir ähnliche Lieder – eines z.B. von Hanna. Die Frauen der Bibel singen manchmal so. Besonders in der Schwangerschaft spüren sie, wie neues Leben wächst. Sie sind sensibel für das Neue. Sie spüren die Veränderung in sich; und ihre die Hoffnung auf das Kind verbindet sich mit der Hoffnung auf eine neue Welt. Wir können auch in den Liederbüchern unserer Zeit blättern, da finden wir sie wieder – die Lieder der Hoffnung. Im Ev. Gesangbuch lese ich: „We shall overcome…, black and white together…, we shall live in peace“; oder „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen…“ Oder „Gib Frieden, Herr, gib Frieden…“ Die Hoffnung bleibt aktuell – auch bei uns. Denn auch bei uns sind Besitz und Einfluss ungleich verteilt. Auch bei uns gibt es Menschen, die vollbeschäftigt sind und doch wissen, dass sie von ihrer Rente nicht werden leben können. Noch deutlicher ist die Ungleichheit zwischen den Staaten der Welt.
Dietrich Bonhoeffer, der Evangelische Theologe und Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus schreibt: „Angesichts dieses Adventsliedes gibt es für uns einiges zu bereinigen. Wir müssen uns klar werden, wie wir über hoch und niedrig im menschlichen Leben denken wollen. Wir sind alle keine Gewaltigen… Große Gewaltige gibt es immer nur wenige, aber umso mehr kleine Gewaltige, die… ihre Gewalt spielen lassen und nur einen Gedanken haben: immer höher hinaus!“ Frieden und Gerechtigkeit. Seit über 2000 Jahren sehnen sich Menschen danach. Aber wann und wie und mit wem soll diese Veränderung beginnen? Bei Maria beginnt sie damit, dass Gott sie ansieht. Und sie spürte es. Meine Seele preist den Herrn…, denn er hat mich gnädig angesehen, mich eine unbedeutende Frau…. Maria hat ein Gespür für den Blick Gottes. Sie lebt im Gegenüber zu Gott. Sie bemerkt Gottes Präsenz in der Welt; sie hört sein Wort und sie willigt ein. Sie sagt „Ja“ zur persönlichen Veränderung und Ja zu der Welt, wie Gott sie will.
So wenig und so viel ist nötig, damit Frieden und Gerechtigkeit Wirklichkeit werden: von Gott angesehen werden, (im Gegenüber zu Gott leben), sein Wort hören und Ja sagen.
Maria liess es zu, dass das Kind in ihr wuchs und sich entwickelte; sie begleitete ihren Sohn – oft mit Fragen und Kopfschütteln. Sie blieb ihm treu, ohne seinen außergewöhnlichen Weg zu verstehen. Und sie stand am Ende seines Lebens trauernd am Kreuz. Nach seinem Tod und der Auferstehung zählte sie zu den Mitgliedern der Jerusalemer Gemeinde, zu den „Christianoi“; zu denen die Jesu Worte zur eigenen Orientierung machten; und zu denen, die aus der Kraft seines Lebens leben. Wir taufen heute Loana und Leo in einer Marienkirche. Wir heißen sie willkommen in einer Gemeinde, die Marias Namen trägt. Ich kann mit kein schöneres Omen für den Anfang im christlichen Glauben als Maria, die dem Göttlichen Raum in sich gibt als Urahnin des Glaubens zu haben und in eine Gemeinde getauft zu werden, die sich dem Frieden und der Gerechtigkeit verpflichtet weiß. Und wo immer wir, die Erwachsenen, getauft sind, wir sind von Gott angesehen und ermutigt, wie Maria auf seinen Wege zu gehen.