Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, zwei Wochen vor dem Totensonntag steht dieser Sonntag im Zeichen des endenden Kirchenjahres. Der Apostel Paulus redet in diesem Briefabschnitt an die Thessalonicher über das Kommen der Endzeit. Das passt thematisch ins Kirchenjahr und in diese Jahreszeit: November, dunkle Tage, lange Nächte, Sterben der Natur, Erinnerung an die Verstorbenen. Dazu kommt das für Deutsche geschichtsträchtige Datum: 9. November. Wir gedenken der Pogrom-Nacht 1938, als die Synagogen brannten, aber auch des Mauerfalls 1989. In den Blick kommen in diesen Novembertagen menschliche Schuld in der verfinsterten Nacht des Pogroms; die Sehnsucht nach einem Leben in Frieden und Freiheit; die Hoffnung, dass unsere Toten nicht verloren sind.
Paulus hat seinen ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich, dem heutigen Thessaloniki in Griechenland, ungefähr um 50 n. Chr. geschrieben. Die Gemeinde ist noch jung, erst vor wenigen Monaten hat Paulus sie gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Silas und Timotheus gegründet. Sie setzt sich vorwiegend aus Lohnarbeitern, Handwerkern und Kaufleuten zusammen. Für gottesdienstliche Zusammenkünfte stellen einige ihre privaten Häuser zur Verfügung. Die drei Missionare verdienen sich ihren Lebensunterhalt selber als Handwerker, zusätzlich werden sie von der Gemeinde unterstützt. Überstürzt hatten die drei die Stadt Thessalonich verlassen müssen. Jetzt ist Paulus in Korinth, von dort schreibt er seinen Brief. Er hat die Kunde erhalten, dass die junge Gemeinde treu am Evangelium festhält und ist darüber erfreut.
Paulus nimmt einen Gedanken auf, der die Gemeindeglieder beschäftigt. Sie machen sich Sorgen darüber, ob die inzwischen Verstorbenen bei der Wiederkunft Christi benachteiligt sind. Sie bedrückt es, dass die Verheißung der Auferstehung ihnen nicht gelten könnte. Paulus hatte ihnen doch gesagt, dass Christus in absehbarer Zeit noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen würde und dass sie dann alle vereint mit dem auferstandenen Christus das Leben haben würden. Nun aber waren einige inzwischen gestorben, die Wiederkunft Christi hingegen ließ auf sich warten. Paulus tröstet sie. Auch diejenigen, die vor der Wiederkunft Christi gestorben sind, werden mit ihm vereint sein. Sie dürfen gewiss sein: Der Tag der Wiederkunft kommt. Er lässt sich nur nicht berechnen. Er wird unvorhergesehen eintreten. Paulus spricht vom „Tag des Herrn“, damit meint er das gesamte apokalyptische Endgeschehen, verbunden mit dem endzeitlichen Gericht. Paulus ist jüdischer Gelehrter, er nimmt ersttestamentliche Traditionen auf, bezieht den „Tag des Herrn“ auf Christi Wiederkunft. „Weint, denn der Tag des Herrn ist nahe, er kommt wie eine Verwüstung“ ( Jes 13,6). „Siehe, der Tag, er kommt. Er bricht an. Unrecht blüht, und Vermessenheit grünt“ (Ez 7,10).
Von Zeiten und Stunden ist es nicht nötig, euch zu schreiben, denn ihr wisst selbst, dass der Tag des Herrn kommt so wie ein Dieb in der Nacht. Mit dem Bild „Dieb“ spielt er auf die Unvorhersehbarkeit an, nicht auf das Motiv des Raubs und des Schadens, den ein Dieb verursacht. Paulus entwickelt den Gedanken der Wiederkunft Christi in den Gegensatzpaaren Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Er spricht von den Kindern der Nacht und des Lichts, von den Kindern der Nacht und der Finsternis, vom Wachen und Schlafen.
Paulus unterscheidet zwei Arten von christlicher Existenz: Die Existenz am Tage, wozu das Licht und das Wachsein und die Existenz in der Nacht, wozu die Finsternis und das Schlafen gehören. Im Ersten und im Zweiten Testament gibt es unterschiedliche Aussagen über die Bewusstseinszustände Wachen und Schlafen. „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ (Ps 127b). Im Schlaf, ohne menschliches Zutun, erfährt der Fromme Gottes Güte. Gott versetzt Adam in einen Tiefschlaf, einer Narkose gleich. Oder: „Gott hat über euch einen tiefen Schlaf ausgegossen und eure Augen zugetan“, klagt der Prophet Jesaja (Jesaja 29,10), als das Volk sich weigert, nach den Geboten Gottes zu leben. Jesaja benutzt das Bild des Schlafs in Verbindung mit den geschlossen Augen für Verblendung.
Gott offenbart sich Menschen im Schlaf. Jakob zeigt er sich im Traum auf der Himmelsleiter, Josef deutet die Träume des Pharaos und seiner Bediensteten. Für den Kirchenvater Tertullian hat der Schlaf therapeutische Funktion: Der Körper findet Erholung, Qualen werden gestillt und Kräfte wiederhergestellt. Der Kirchenvater Ambrosius sieht im Schlaf ebenfalls die Regeneration. Schlaf entlastet den müden Körper und die traurige Seele (vgl. Hymnus H, PL 16,1473: Deus creator omnium). Diese Deutungen decken sich mit den Aussagen moderner Humanwissenschaften, die die lebenserhaltende Bedeutung des Schlafes für den Körper und das Gehirn in den Vordergrund stellen. Im Schlaf wird das Tagesgeschehen verarbeitet.
Was bedeutet der Schlaf für den christlichen Glauben? Während der Mensch schläft, wacht Gott. Sich dem Schlaf überlassen, geschieht in dem Vertrauen, dass wir am nächsten Morgen wieder aufwachen und dass Gott nicht schläft, dass er uns behütet, bewacht und bewahrt. „Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“ (Ps 121.4). Wir können ohne Angst und ganz in Frieden (Ps 4,9) und Sicherheit (Hiob 11,18) schlafen. Für den Reformator Johannes Calvin ist der Schlaf ein Zeuge der Unsterblichkeit. Zeuge der Unsterblichkeit, weil der Schlaf in der Seele Gedanken weckt, die Zukünftiges schauen und erhoffen (vgl. Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion I , 15,2, übersetzt von Otto Weber). Der Schlaf wird hoch eingeschätzt, dennoch ergeht der Ruf nach Wachsein.
Biblische weisheitliche Texte fordern auf, die Augen zu öffnen (Spr 20,13). Im Garten Gethsemani werden die Jünger wegen ihres Schafes von Jesus getadelt: „Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?!“ ( Mt 26,40). Das Gleichnis von den 10 Jungen Frauen, den fünf klugen und den fünf törichten, wird ausdrücklich zum Schluss gewarnt: „Wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde“ (Mt 25,13). Die Heilszeit ist angebrochen, Christus hat den Tod überwunden. Im Epheserbrief bezieht Paulus das Erwachen und Wachen auf die Auferstehung der Toten: „Wach auf, der du schläfst, und steh von den Toten auf, so wird dich Christus erleuchten“ (Eph 5,14). Christinnen und Christen sollen nicht schlafen wie die andern, sie sollen wachen und nüchtern sein.
Paulus spricht hier ganz konkret von nüchtern im Gegensatz zu betrunken. Römische Soldaten, die in Thessalonich stationiert sind, haben die Aufgabe, die Stadt zu kontrollieren und zu bewachen. Sie fühlen sich sicher und befürchten keine ernstzunehmende Gefahr. Die römische Staatsmacht hat keine ebenbürtigen Feinde. In der Nacht, wenn sie Wache halten, sind sie oftmals betrunken. Christinnen und Christen sollen wachsam und nüchtern sein, sie gehören zur Sphäre des Tages und des Lichts, zur Sphäre Gottes und des kommendes Tages. Sie sind schon die Gerechten, sie leben nach dem Wort Gottes, lassen das Evangelium leuchten. Sie brauchen das Endgericht nicht zu fürchten, ihr Heil wird offenbar, das Endgericht bringt es an den Tag.
Die christliche Gemeinde in Thessalonich ist gut gerüstet gegen den Kampf in der Nacht. Sie sind gepanzert mit dem Glauben und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Heil. Mir widerstrebt die kriegerische Sprache des Paulus. Wir würden heutzutage nicht mehr vom Panzer der Liebe und des Glaubens und vom Helm der Hoffnung reden. Paulus hat die römischen Soldaten vor Augen, benutzt Panzer und Helm als Bild für die starke Kraft der Trias Glaube, Liebe, Hoffnung. Mir fallen andere Bilder für Stärke und Kraft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung ein. Das Wasser, das den harten Stein formt, das wachsende Gras, das es durch die kleinste Ritze im Pflaster schafft, eine liebliche Musik, die Traurigkeit in Freude verwandelt. Paulus mahnt, vom Schlaf aufzuwachen und aufzustehen. Wachsam zu sein, bedeutet hier, sich dem Tagesbewusstsein auszusetzen, als Kinder des Tages zu leben, die Hoffnung auf Zukunft zu behalten, einander zu trösten und aufzubauen.
Wach zu sein, vom Schlaf aufzustehen, heißt: sich nicht der Trägheit hinzugeben, sich nicht einschläfern und einlullen zu lassen. Paulus warnt vor denen, die beschwichtigen und beruhigen wollen, indem sie sagen „Es ist Friede, es ist keine Gefahr“, wo doch Gefahr besteht. Verderben kann uns, unseren Nachbarn und fernen Nächsten überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau. Wir leben nicht mehr in der Naherwartung des kommenden Gerichts, wir haben uns eingerichtet. Wir wollen uns nicht stören lassen von den zerstörerischen Machenschaften, die in Deutschland um sich greifen und die es weltweit gibt. Das deutsche Asylrecht ist menschenverachtend und eine Schande. Der Rechtsextremismus zieht schon wieder bedenkliche Kreise. In Syrien werden Menschen beschossen, in Nigeria verschleppen islamische Extremisten christliche junge Mädchen, zwingen sie zum Islam überzutreten, verheiraten sie gegen ihren Willen.
In der Gegenwart gibt es bedrohliche Anzeichen und Entwicklungen, die schwere Folgen für die Zukunft haben: Zerstörung von Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen, die von vielen am liebsten ausgeblendet werden. Es lebt sich angenehmer, die Augen zu verschließen und zu schlafen. „Lasst uns nicht schlafen, sondern wachsam sein.“ In den Konzentrationslagern wurden Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Sie verhungerten, wurden vergast oder starben an den Folgen von tödlichen Arbeitsbedingungen und Misshandlungen. Diese Gräueltaten kamen nicht aus heiterem Himmel; dass so etwas geschehen konnte, hatte eine Vorgeschichte. Judenfeindlichkeit gab es schon vor 1933 auf der ganzen Welt, in Deutschland, vor Ort. In den 30-iger Jahren kam der Judenhass immer unverhohlener zum Ausdruck. Die Vorläufer von seelischer und körperlicher Vernichtung sind abwertende gehässige Reden, Entwürdigung der Persönlichkeit, Einschränkung der persönlichen Rechte, Berufsverbote, Entwendung und Enteignung von Eigentum, Stigmatisierung und vieles mehr. Die endgültige Vernichtung von Völkern und Volksgruppen bedarf der Vorbereitung, sonst ist sie nicht durchführbar.
Wir müssen wachsam sein, die Augen und Ohren offen halten, den Mund nicht verschließen, wo sich heute Anzeichen von menschenverachtendem Gedankengut entdecken lassen. Wir dürfen nicht träge sein und träumen, wenn Menschen bedroht, verfolgt oder in den Tod getrieben werden. Es ist unsere solidarische Pflicht, andere wertzuschätzen und nicht auf sie herabzublicken. Es gehört zur christlichen Liebe, Menschen, die in die Enge getrieben werden, zu beschützen, Mobbing nicht zuzulassen, Flüchtlinge aufzunehmen und willkommen zu heißen. Jede und jeder ist persönlich gefragt und mitverantwortlich für das, was bei uns geschieht. Damit wir nicht wieder sagen: „Das haben wir nicht gewusst“. Menschen wurden im Nationalsozialismus erst ihrer Würde, dann ihrer Freiheit und schließlich ihres Lebens beraubt. In dieser Reihenfolge geschieht Vernichtung.
Juden und Christen hoffen gemeinsam auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der Gott der Jüdinnen und der Juden ist der Gott Jesu Christi und auch unser Gott, der keinen Gefallen am gewaltsamen unnatürlichen Tod hat. Er ist ein Gott des Lebens und der Liebe. Er stiftet Frieden und lässt Barmherzigkeit walten. Wir wollen nicht schlafen und so tun, als ob uns Unrecht nichts anginge. Wir wollen keine Kinder der Nacht und der Finsternis sein. Wir sind Kinder des Tages und des Lichts, umkleidet mit Glauben, Liebe, Hoffnung. Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern zum Heil. Diejenigen, die gestorben sind, die schlafen, werden ebenso am gedeckten Tisch im Reich Gottes sitzen, wie wir, die wir leben und wachen. Gott hat uns im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung stark gemacht. Wir leben aus seiner Vergebung, am Ende wird alles offenbar werden.