Eine Landkarte wird für uns eingeblendet. Sie zeigt das Land, in dem Jesus gelebt und gewirkt hat. Zwei Namen sind markiert: Judäa und Galiläa. Judäa war das Zentrum des Landes. Dort lag die Hauptstadt mit dem Tempel. Galiläa war dagegen Provinz. Auf die Galiläer blickte man in Judäa ein wenig herab. Ich kann mir vorstellen, dass regelrechte Galiläerwitze kursiert haben, ähnlich denen, die bei uns als Ostfriesenwitze umgehen. „Da haben sie doch neulich in Kana ´ne Hochzeit veranstaltet, und dann können die Gastgeber nicht mal planen, wieviel Wein sie brauchen. Stell dir vor. Gerade soll`s so richtig losgehen, da sitzt die ganze Gesellschaft auf dem Trockenen, ha, ha, ha!“
„Es war da jemand in Kapernaum. Er arbeitete im königlichen Dienst.“ Eine neue Person wird uns vorgestellt. Sie hebt sich ab von dem Milieu, das man in Galiläa erwartet. Der Mann, den die Geschichte lapidar „einen Königlichen“ nennt wird Stoff vieler Unterhaltungen gewesen sein. Das ist heute ja nicht anders. Warum werden so viele Zeitschriften mit Bildern und Geschichten aus der Welt von königlichen Häusern oder prominenten Stars gekauft? Verkörpern sie nicht ein Leben, von dem man träumen möchte? Die Welt liegt ihnen zu Füßen. Erhaben sind sie über die Sorgen, die die kleinen Leute so drücken. Doch nun kommt es anders in der biblischen Geschichte. Der Sohn dieses Mannes ist schwer erkrankt. Man fürchtet bereits, er könne sterben. Mit einem Schlag befindet sich der, welcher uns eben noch als ein „Königlicher“ vorgestellt wurde, in einer Lage, wie sie jeden ereilen kann.
Wo die biblische Geschichte von der Erkrankung des Jungen erzählt, heißt es wörtlich: „Er war von Schwachheit befallen.“ So redet die Bibel häufig, wenn sie von Krankheiten spricht. Denn Krankheiten sind für sie bloß eine Gestalt, wie wir von ganz gewöhnlichen, typisch kreatürlichen Schwachheiten heimgesucht werden. Das eine Mal werden wir körperlich krank, so wie der Junge in der Geschichte. Ein anderes Mal wird die Seele krank. Unsere Antriebskräfte werden schwach. Alltägliche Verrichtungen können anstrengend werden. Manchmal ist man mit sich selbst nicht im Reinen und deswegen schwach. Man trauert einem Moment nach, in dem man anders hätte entscheiden müssen. Wir können auch an das bei uns gebräuchliche Wort ´sozialschwach` denken. Denn wenn jemand verarmt, kann das in der Bibel mit dem gleichen Wort bezeichnet werden, das im Predigttext für eine Erkrankung steht, will sagen: schwach werden.
Unter solchen Schwachheiten können wir sehr leiden. Dann mag es Momente geben, in denen wir uns wünschten, wir steckten in einer andren Haut. Sie können uns aber auch sehr lästig werden. Denn wo Schwachheiten sind, sind auch Schwachstellen. Die können einen übel behindern, im Leben zu erreichen, was man gerne erlangen möchte. In diesem Fall besteht eine Strategie der Wahl darin, andere und womöglich gar sich selber über sie hinweg zu täuschen. Im Fall des Jungen in der Geschichte ist letzteres nicht mehr möglich. Der Tod scheint bereits angeklopft zu haben. Da hilft keine Verstellung mehr.
Der verzweifelte Vater wendet sich an Jesus. Seine Bitte bescheidet dieser zunächst mit einer merkwürdigen Auskunft: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht.“ Wäre die Geschichte lediglich die Reportage von einer wunderbaren Heilung durch Jesus, zeigte uns diese Auskunft bestenfalls einen leicht gestressten Jesus, den der Königliche an jenem Tag auf dem falschen Fuß erwischt hat. Doch die Geschichte wird uns selber zu einem Zeichen, nämlich zu einem Hinweis darauf, von was für Königsträumen wir uns besser verabschieden, mit denen im Kopf wir uns gerne aus unseren kreatürlichen Schwachheiten und Schwachstellen heraus träumen oder über sie hinwegtäuschen.
Das Johannesevangelium erzählt einmal sehr anschaulich davon, wie Jesus von einer begeisterten Menschenmenge zum König ausgerufen werden soll. Er hatte sie mit wenigem Brot mitten in der Einöde gespeist. Da kommen die Leute, greifen regelrecht nach ihm und wollen ihn zum König küren. Jesus entzieht sich diesem Zugriff. Später sagt er den Leuten: Ihr wollt mich bloß als einen Versorger-König, weil ich euch zu essen gegeben habe. Jesus lehnt es ab, ein König zu werden, der die Menschen schlaraffenlandähnlich versorgt. Eine Welt, in der es so zuginge, wäre für ihn keine Welt, wie sie dem Königtum Gottes entspricht. Wahrhaftiges Leben, wie wir es bei Gott und vor Gott finden können, wäre in ihr unmöglich. Denn sie täuscht uns zwar über Schwachstellen hinweg, wie sie uns teils leiden machen, teils daran hindern, im Leben etwas zu erreichen. Doch in einer solchen Welt werden Menschen nur immer abhängiger gemacht. Schon die römischen Kaiser zur Lebenszeit Jesu wussten das und machten es sich als Herrschaftsprinzip zunutze. Man nannte es ´Brot und Spiele`.
Man gebe den Leuten genug Wohlstand, sorge dafür, dass sie sich gut unterhalten fühlen und möglichst ausgiebig vergnügen können – und sie werden willig mitmachen, was immer man von ihnen verlangt. Die, die dann ganz unten landen und Abhängigkeit am drastischsten zu spüren bekommen – das waren damals sicher die Sklaven – gehen eben unter. Darum muss man solchem Schicksal um jeden Preis entkommen. Der Blick dafür richtet sich typischerweise nach oben. Das Bestreben muss sein, dorthin aufzusteigen, wo man himmlische Höhen vermutet. Doch Gottes Königtum hat damit nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. Es bahnt sich seine Wege sogar in gegenläufigem Sinn. „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, werdet ihr nicht glauben.“
Was Glauben heißt, beginnt auf diesem Hintergrund neu zu erklingen. Glaube, so höre ich aus der Geschichte, lässt uns an einem Leben teilhaben, dem seine Schwachheiten und Schwachstellen nicht bloß lästige Hindernisse sind, etwas zu erreichen. Er lässt ein Leben hinter sich, in dem man sich immer mal wieder aus der eigenen Haut heraus- und in eine fremde hineinträumt oder sich und anderen bisweilen über Schwachstellen krampfhaft hinweg täuscht. Glauben findet vielmehr ein von Grund auf wahrhaftiges Leben bei dem, an den sich der königliche Angestellte mit seiner Bitte wendet. „Herr, komm herab, bevor mein Kind stirbt“. Ein kleines Wörtchen in dieser Bitte könnte man ganz laut ausrufen oder fett drucken: „Komm herab“. Innerhalb der Geschichte bedeutet das zunächst nur: Komm mit mir den Weg abwärts von Kana nach Kapernaum. Denn Kana lag höher als Kapernaum. Doch auch hier weist uns die Geschichte wie von selbst über ihren puren Handlungsfaden hinaus.
Jesus, an den sich der bedrängte Vater wendet, ist sogar vom Himmel herabgekommen, wie es das Evangelium kurz zuvor erwähnt hat. In menschlicher Vorstellungswelt gesprochen: von oben ist er herabgekommen und hat unsere Schwachheiten und Schwachstellen mit uns geteilt. Gott selber hat ein Menschenleben inmitten seiner Schwachheiten und Schwachstellen angenommen. Wie sollten wir uns dann noch daraus herausträumen wollen? Gott selber ist uns in dem, der vom Himmel herabgestiegen ist, ganz nahe und steht zu uns – auch dort, wo wir unter unseren Schwachheiten leiden.
Wie geht dann an, dass wir in manchen Momenten uns selber am liebsten fremd wären, weil uns unsere Schwachstellen behindern, zu erreichen und zu erlangen, was erstrebenswert erscheint? Er ist der Menschensohn, der zu uns hinabgestiegen ist bis in jene Verlorenheit, wo nur noch der Tod einen erwartet – wie eine letzte Instanz, bei der niemand mehr sich oder andere über irgendetwas hinwegtäuschen kann. Doch so weist er uns auf einen Weg zu wahrhaftigem Leben – einen Weg, der genau umgekehrt verläuft als die Wege, auf denen Menschen die Weichen zu stellen pflegen. Auf ihm können wir uns auf wahrhaftiger Basis unseren Schwachheiten stellen und mit ihnen manchmal auch auseinandersetzen, ja sie als Aufgabe begreifen. Er kann uns zu einem Lebensweg werden, dessen Heft nicht der Tod – jene letzte Schwachstelle aller Menschen – in die Hand genommen hat. Auf ihm findet sich ein wahrhaftiges Leben, von dem der Menschensohn einmal gesagt hat: „Es lebt so, als wäre es bereits dem Tod entkommen“.
“Jesus sagt zu dem bittenden Vater: Geh. Dein Sohn lebt. Der Mensch glaubte dem Wort, das ihm Jesus gesagt hatte. Er ging seinen Weg.“ Ein Wunder beginnt, sich seine Bahn zu brechen. Es übertrifft sogar noch jenes, an das die Geschichte am Anfang erinnerte: das Zeichen, bei dem Jesus Wasser zu Wein wandelte. Der Mensch aus Kapernaum, wie er am Ende nur noch genannt wird, glaubt auf das Wort hin, welches er aus dem Munde Jesu zu hören bekommt. Er begibt sich auf seinen Weg. Auf diesem Weg findet er, dass sein Sohn lebt, und der unzeitige Tod daraus verbannt worden ist.
Auf dem Weg solchen Glaubens können sich für uns unsere Schwachheiten und Schwachstellen verwandeln, über die sich und andere hinwegzutäuschen sonst manchmal ratsam sein kann. Es kann sogar ein Tag kommen, wo uns aus ihnen etwas erwächst, womit wir anderen in ihren Schwachheiten umso besser weiterhelfen können. Dann sind dort, wo vorher nur Schwachheiten waren, sogar Stärken geworden, Stärken, die anderen zu Gute kommen statt Schwächen, die wir vor ihnen besser verbergen mussten. Wäre das nicht wirklich eine wunderbare Wandlung, die man ohne weiteres dem Zeichen von Kana an die Seite stellen kann? Bei ihr geht es nicht weniger wunderbar zu als damals, als ein Küchenchef plötzlich Wein schmeckt, wo man doch nur Wasser eingefüllt hatte.