Weinberge an den sonnigen Hängen, vor den Dörfern Olivenhaine und Getreidefelder. Gut für die Menschen, wenn alles gedeiht. Denn davon müssen sie leben, 750 Jahre vor Christus. Gut, wenn das Vieh gesund ist, dann gibt es Milch und Käse und zu Festtagen vielleicht sogar Fleisch. Manche Leute haben nicht nur einen Weinberg, sondern viele. Sie selbst machen keinen Finger mehr krumm. Sie lassen arbeiten. Sie lieben Feste. Es gibt immer einen Grund zu feiern, Gott will geehrt werden, also feiern wir ihm ein Fest. Diener holen Schafe aus den Ställen der Bauern. Bezahlen? Wieso? Sie sagen: „Aber das gibst du doch gern, das ist doch für das Heiligtum.“ Und der Bauer sagt nichts. Womöglich kommt morgen sonst ein Rechtsgelehrter und sagt: „Dein verstorbener Bruder hat den guten Acker am Bach noch dem Schreiber des Königs verkauft, kurz bevor er gestorben ist. Hier sieh!“ Und dann halten sie ihm ein Schriftstück unter die Nase und weil er nicht lesen kann, ist er den Acker los. Also gibt er lieber die Schafe. Er wird mit seiner Familie Brot essen und Gemüse. Die Priester werden das Fett der Schafe und ein paar kleine Teile Fleisch auf dem Altar verbrennen. Harfen werden gespielt und Lieder gesungen. Wenn der Gottesdienst zu Ende ist, werden die wichtigen Leute zusammen sitzen, die besten Bratenstücke von den Schafen verspeisen und Wein trinken.
Amos kommt in die Stadt. Er stellt sich vor das Gotteshaus und brüllt: „So spricht Gott: Ich hasse eure Feste. Eure Gottesdienste stinken mir. Widerlich ist euer Harfengezupfe! Hört bloß auf mit dem Geplärr eurer Lieder. Sorgt lieber dafür, dass jeder zu seinem Recht kommt, das jeder leben kann! Recht und Gerechtigkeit sollen fließen wie ein Fluss, der nie austrocknet“.
Amos ist selbst ein Bauer. Und er ist Prophet. Ein Mann in engem Kontakt mit Gott. Er sieht: Die Reichen leben auf Kosten der Armen. Die Richter sind bestechlich. Amos sieht, dass es nicht so weiter gehen kann. Und er erhebt Einspruch im Namen Gottes. Gott lässt sich keinen Bratensaft in die Augen spritzen. Gott lässt sich nicht mit gottesdienstlichem Harfengesäusel einschläfern. Recht und Gerechtigkeit soll strömen wie die Elbe bei Hochwasser und alles Übel hinweg reißen.
Versuchen wir unsere Umgebung mit Gottes Augen wahrzunehmen, so wie ein Prophet, eine Prophetin: was sehen wir? Was geht wohl heute in Gottes Augen gar nicht? Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Bei uns wird niemand ohne richterlichen Beschluss und ohne öffentliches Verfahren eingesperrt, enteignet oder verurteilt. Sicher kann man Einiges kritisieren, Verfahren sind zu kompliziert, dauern zu lange, geben den Tätern ein Bühne und so weiter. Aber unser Rechtsystem ist in intakt. Ich würde behaupten, dass korrupte Richter und Staatsanwälte, geschmierte Polizisten eine Ausnahme sind. Wenn wir das Recht weltweit betrachten, sieht das ganz anders aus.
Sorgt dafür, dass jeder zu seinem Recht kommt! Recht und Gerechtigkeit sollen das Land erfüllen wie ein Strom, der nie austrocknet. Recht im Sinne von Rechtssystem, im Sinne von funktionierender Justiz, ist das Eine. Davon unterscheidet Amos die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist für mich ein sozialer Begriff. Was ist gerecht? In Kapstadt, Südafrika, herrscht zurzeit Wassermangel. Das Trinkwasser wird rationiert. Wer in den schicken Wohnvierteln ein eigenes Schwimmbecken hat, befüllt es weiter und bewässert den Rasen rundum. Das Strafgeld wird klaglos bezahlt. In den Townships der schwarzen Bevölkerung werden schon teilweise die öffentlichen Wasserhähne abgedreht. Kein Wasser für die Armen. Ist das gerecht?
Die Organisation Oxfam hat errechnet, dass die reichsten 42 Menschen so viel besitzen, wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. Die Zahlen von Oxfam werden angezweifelt, denn es wird vieles geschätzt. Aber ob nun 62 oder 32 Menschen so viel besitzen wie sonst über drei Milliarden Menschen, finde ich nicht entscheidend. Reichtum an sich ist auch nichts Verwerfliches. Die plakative Zahl von Oxfam soll aber sehr wohl in die Welt schreien: Wenige haben sehr viel. Viele, sehr viele Menschen leben kümmerlich oder hungern. Ist das gerecht? In Gottes Augen? Ist es gerecht, wenn die Schulsekretärin mit halber Stelle ihre Steuern zahlt, weil die Lohnsteuer gleich ans Finanzamt abgeführt wird, aber der Fußballstar seine Millionen auf verschwiegenen Wegen in sogenannte Steueroasen bringt?
Ich könnte noch viele Fragen stellen, die mit „ ist das gerecht?“ enden. Ich möchte Sie verschonen. Sie ahnen meine Antworten. Eine Lösung kann ich nicht bieten. Ich finde es kompliziert, wie Politik und Wirtschaft weltweit funktionieren. Manchmal möchte ich mich wie Amos gebärden und schreien: Das geht so nicht mehr weiter. „Sorgt dafür, dass jeder zu seinem Recht kommt! Recht und Gerechtigkeit sollen das Land erfüllen wie ein Strom, der nie austrocknet.“
Was ist Gerechtigkeit? Was ist für Gott Gerechtigkeit? Der Prophet Amos prangert Korruption an, Bestechung, Verschwendungssucht reicher Frauen, er nennt sie „fette Kühe“. Er greift an, dass die Reichen auf Kosten der Armen leben. Die Zahlen von Oxfam lassen ahnen, dass sich daran nicht viel geändert hat. Sich um die Armen kümmern, Abhängige nicht ausbeuten, die Schwachen schützen, Witwen und Waisen versorgen, nicht nur Amos spricht von diesen Dingen. Die Forderung nach dieser Gerechtigkeit zieht sich durchs die ganze Bibel. Durch den ersten Teil, den jüdischen Teil, ebenso wie durch den zweiten Teil, durch die Geschichten von Jesus Christus und seiner Nachfolger. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit gibt es dreitausend Jahre. Die Macht des Geldes war auch immer schon groß. Und sie wird immer groß sein.
Aber kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken. Amos hat vermutlich auch nicht mit einer sofortigen Änderung der Verhältnisse gerechnet, aber er lässt sich trotzdem nicht zum Schweigen bringen. Amos legt einfach erst mal den Finger in die Wunde. Gott die Ehre geben wollen, Gott feiern und die Würde seiner Mitmenschen übergehen – das geht nicht zusammen. Gott ist gerecht und unbestechlich. Es macht keinen Sinn, seinen Glauben nur auf Gott zu beziehen und den Mitmenschen auszuklammern. Oder sagen wir: Das Leben soll eine Einheit sein: Sonntag und Alltag gehören zusammen. Gott Lieder singen und die Gemeinschaft der Menschen im Blick haben, das ist beides Gottesdienst.
Nach einer Gemeindeveranstaltung nahm mich eine Frau beiseite. „Ich komme nicht in den Gottesdienst. Aber halten Sie mich nicht für ungläubig. Den Gottesdienst hat mir meine Schwiegermutter ausgetrieben. Die ging jeden Sonntag. Und wenn sie nach Hause kam, dann hat sie Streit vom Zaun gebrochen. Es war nicht recht, wenn ich schon Essen gekocht hatte, es war nicht recht, wenn ich kein Essen gekocht hatte, es war nicht recht, wie ich gekocht hatte. Jeden Sonntag Streit, wenn sie aus dem Gottesdienst kam. Ich kann nicht in den Gottesdienst kommen“. Genau darauf weist Amos hin: Wer glaubt sollte darauf achten, dass er oder sie nicht zwei Gesichter hat: ein schönes für Gott, ein hartes für die Menschen. Gott loben und gerecht handeln gehören zusammen.
Gerechtigkeit ist nicht eine Sache, die nur den einzelnen Menschen angeht. Gerechtigkeit ist eine Aufgabe der Gemeinschaft. Gerechtigkeit heißt: das Zusammenleben so zu organisieren, dass keiner zu kurz kommt. Das jeder seine Möglichkeiten entfalten kann und seine Würde wahren. Amos redet drastisch: „Ich hasse eure Feste und kann eure Gottesdienst nicht ausstehen. Hört auf mit dem Geplärr eurer Lieder! Euer Orgelgeklimper ist mir lästig!“ – Wenn das Recht und die Gerechtigkeit fehlen, ist es Unsinn, diesen Missstand mit Religion zu verkleistern.
Die christlichen Kirchen versuchen die Gerechtigkeit in den Gemeinden und im Ganzen der Kirche zu leben. Wir sind Menschen: Es gelingt nicht so wie es soll. Das ist aber kein Grund, sich nicht einzumischen, wenn etwas in unserem Land schief läuft. Wie Amos soll der Glaubende und die Kirche aufstehen und laut schreien, wenn Menschen unfair behandelt werden. Glaube ohne Einmischen in Politik und Gesellschaft ist nicht möglich. Wo es um Gott geht, geht es auch immer um seine Menschen.
Es geht Amos nicht darum, die Gottesdienste abzuschaffen. Wir brauchen die Gottesdienste. Gottesdienst bedeutet: Wir dienen Gott. Wir besinnen uns darauf, dass wir nicht uns gehören, sondern Gott. Und Gott dient uns mit seiner Botschaft der Liebe und der Gerechtigkeit. Der Apostel Paulus schreibt: Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an. Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken erneuert wird. Dann könnt ihr euch ein sicheres Urteil bilden, welches Verhalten dem Willen Gottes entspricht, und wisst in jedem einzelnen Fall, was gut und gottgefällig und vollkommen ist. (Röm 12, 2)