Einmal im Jahr war ich immer ein bisschen neidisch auf meine katholischen Mitschülerinnen. Am Aschermittwoch. Da hatten die nämlich die ersten beiden Stunden frei. Und wir Evangelischen mussten ganz brav um 8 Uhr zum Unterrichtsbeginn da sein. Wenn die Katholikinnen dann aber nach der großen Pause in die Schule kamen, das Aschenkreuz auf der Stirn und irgendwie so ein bisschen mit gedämpfter Stimmung, da war ich dann auch schon wieder froh, evangelisch zu sein. Sonst wusste ich nicht viel über die Fastenzeit. Für uns Evangelische gab es dafür keine bestimmten Zeiten, keine bestimmten Vorschriften und Anweisungen. Freitags gab’s auch mal Fleisch. Und das Leiden Jesu war erst sechs Wochen später wirklich Thema: an Karfreitag. Nur ab und zu lugte Dr. Martin Luther etwas drohend um die Ecken unseres alten Pfarrhauses und erinnerte uns daran, dass eigentlich das ganze Leben eines Christen Buße sei.(1) Sonderlich beeindruckt hat mich dieser Gedanke nie. Ich fühlte mich frei, als Protestant. Und – Hand auf’s Herz, liebe Gemeinde, Ihnen geht es vielleicht ähnlich – erst viel später ist mir bewusst geworden, dass auch in unseren evangelischen Gottesdiensten in der Passionszeit kein „Halleluja“ und kein „Ehre sei Gott in der Höhe“ gesungen wird.
Fastenzeit? Ohne mich. Ich bin evangelisch. Lange Zeit habe ich so gelebt und gefühlt. Bis die Welle der neuen und alten Fastenideen plötzlich über uns hereinbrach, und auch die evangelische Kirche das Fasten wieder entdeckte. „Sieben Wochen ohne“ – diese Fastenidee kennt heute fast jede/r. 1983 hat sie sich aus einer Stammtischidee des Hamburger Pressepastors Hinrich Westphal entwickelt. Und inzwischen nehmen jedes Jahr viele Millionen Menschen an dieser Aktion teil. Nicht nur in der Passionszeit unter dem Namen „Sieben Wochen ohne“, sondern auch in der Adventszeit, mit dem Kalender „Der andere Advent“. Ohne Alkohol. Ohne Fleisch. Ohne Schokolade. Ohne Fernsehen. Ohne Auto. Ohne Ausreden. – Jedes Jahr kommt eine neue Idee dazu. In diesem Jahr werden wir aufgefordert, auf Geflügelte Worte und Sprichwörter zu verzichten. „Sieben Wochen ohne Geschwätz“. Im Ernst. Gehen Sie mal auf die Seite „Sieben-Wochen ohne“, da können Sie abstimmen, welche der dort versammelten „Geflügelten Worte“ Sie selbst für Geschwätz halten (2). Gewiss, die Idee an sich ist nicht schlecht.
Die geistliche Praxis, auf liebgewonnene Gewohnheiten zu verzichten wie üppig zu essen, zu rauchen, Alkohol zu trinken oder fernzusehen, ist gut. Die Texte aus dem Anderen Advent oder den Fastenkalendern sind nachdenkenswert, tun gut oder geben fruchtbare Gedankenanstöße. Die Idee des neuen Fastens, soll ja auch nicht eine Rückkehr zu überlieferten Speiseregeln sein, sondern sie soll eigene Gewohnheiten aufbrechen, um dem Heiligen Geist Raum zu geben. Nachdenkenswert ist das alles ganz sicher. Aber muss daraus auch gleich wieder ein Gesetz gemacht werden? Kalender gedruckt? Andachten geschrieben? Plakate veröffentlicht? Die gesamte evangelische Christenheit mit dem Corporate Design des “Sieben-Wochen-ohne“ überzogen werden? Daran Geld verdient werden?
Wenn ich die Menge an Fastenkalendern, Fastenlesebüchern, Materialpaketen in den christlichen Buchhandlungen sehe, wenn ich über die Fülle an Fastenbegleitbüchern von Anselm Grün über Margot Käßmann bis hin zur neu ausgegrabenen Hildegard von Bingen stolpere, und wenn ich dann auch noch auf der Internetseite der evangelischen Fastenaktion einen Shop finde, der mich einlädt, einen „Fastenbegleit-Engel“ zu erwerben oder eine „Wortlichtkerze“ oder – noch besser – eine „zauberhafte, dreidimensionale Miniatur-Osterlandschaft mit vielen liebenswerten Details“, dann reißt mir der Geduldfaden. Ich kann mich – wie Jesaja – nicht zurückhalten und muss aus voller Kehle und mit tiefer Überzeugung sagen: „Ist das ein Fasten, wie es der Herr liebt, / ein Tag, an dem man sich der Buße unterzieht: wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, / wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten / und einen Tag, der dem Herrn gefällt?“
Wofür denn diese ganze Fasterei? Wenn das Fasten nur mir selbst dient, damit in mir der Heilige Geist Raum gewinnt, wenn das Fasten nur mir selbst dient, damit ich zur Ruhe komme und mich vermeintlich unabhängig mache von Konsum, Sucht, Lärm und Genuss, wenn die Fastenaktion nur den Geschäftemachern dient, die hinter der so guten Idee des „Sieben-Wochen-ohne“ eine neue Marktlücke entdeckt haben, dann ist das mit Sicherheit nicht ein Fasten, wie es Gott gefällt. Was hilft es dem Alkoholiker, wenn ich aus vermeintlicher Solidarität sieben Wochen keinen Alkohol trinke? Es ist ein Hohn, wenn ich dann am Ostermorgen genussvoll meine Flasche Spätlese öffne. Was nützt es den Eisbären in der Arktis, wenn ich sieben Wochen lang mein Auto in der Garage stehen lasse, um dann in den Osterferien am Flughafen in den Osterurlaub zu starten? Welche Früchte soll eine persönliche siebenwöchige Fernsehabstinenz tragen, wenn unsere Kinder zur gleichen Zeit vor den Internet- und Smartphone-Bildschirmen erstarren, weil niemand sich die Zeit nimmt, mit ihnen zu reden, zu spielen und zu streiten? Wenn wir sieben Wochen lang auf dumme Redewendungen verzichten, wird vielleicht der eine oder andere Mensch von Geschwätz verschont – aber wird dadurch auch nur ein einziger Mensch getröstet? In den Arm genommen? Aufgerichtet? Ermutigt?
„Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: / die Fesseln des Unrechts zu lösen, / die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, / jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, / die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden / und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen.“ Fasten ist kein Selbstzweck. Passiv zu sein und einfach auf irgendetwas zu verzichten – und sei es auch noch so gut gemeint – macht keinen Menschen auf dieser Erde glücklich. Es sei denn, mich selbst. Weil ich glaube, ich hätte mir selbst etwas Gutes getan. Wenn wir also fasten, dann muss es ein aktives Fasten sein. Teilen, damit anderen die Hände gefüllt werden. Verzichten, damit andere keine Not leiden. Bewusst Nahrungsmittel verbrauchen, damit es für alle Menschen reicht. Energie und Ressourcen so sparsam verbrauchen, damit nachfolgende Generationen auf diesem Planeten noch leben können.
Nicht „Sieben Wochen ohne“ und an Ostern wieder hoch die Tassen, voll den Tank. Sondern „Sieben Wochen mit“ Verstand und Einsicht. Und ab dann ein Leben lang. Gott will, dass unser ganzes Leben eine einzige Buße sei. Dann, liebe Gemeinde, haben alle unsere Gebete um Rettung unserer Welt auch wieder Sinn. Denn Gott hat uns verheißen: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte / und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, / die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach. Wenn du dann rufst, / wird der Herr dir Antwort geben”.
(1) „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ etc. (Mt 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“
(Martin Luther, Die erste der so genannten 95 Thesen, vgl.: https://www.luther.de/leben/anschlag/95thesen.html)
(2) Geben ist seliger denn nehmen.
Geld regiert die Welt.
Blut ist dicker als Wasser.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Freie Fahrt für freie Bürger.
Der Zweck heiligt die Mittel.
Die Rente ist sicher.
(vgl.: https://7wochenohne.evangelisch.de/)