Keine Engel, keine Hirten, kein Stall – heute. Vermisst ihr sie? Maria und Josef, das Kind in der Krippe? Doch Weihnachten hat viele Seiten, eine schöner, tiefer als die andere. Johannes nimmt uns tatsächlich mit, um uns den Anfang zu zeigen, den Anfang der Schöpfung. Gott hat alles gut gemacht, alles in sein Licht gestellt, über alles Licht ausgebreitet. Wir sehen ihn über die Schulter. Das war – sozusagen- sein erster Tag. Oder soll ich sagen: auch unser erster Tag? Sein Wort hat das bewirkt … schöpferisch, lebendig, unwiderstehlich. Im Psalm heißt es: So er spricht, so geschiehts! Punkt! Ausrufezeichen! Dass sein Wort, das doch die ganze Welt ins Leben ruft und zusammenhält, dann bei uns Fleisch annimmt, eine Gestalt bekommt, die mit uns verwechselbar wird – das weiß Johannes in einem kunstvollen Gedicht aufzusagen. Die Worte fließen ineinander über, verketten sich, lassen sich nicht mehr entwirren:
(Lesung des Predigttextes)
So erzählt der Evangelist Johannes, der letzte von den vieren, die Weihnachtsgeschichte. Auf seine Weise. Provokativ und klug, Dichter und Philosophen seit jeher herausfordernd, lässt er den Schöpfer zu den Geschöpfen kommen – und ein Teil von ihnen werden. Sehr gewagt ist, das Wort „Fleisch“ in den Mund zu nehmen. Fleisch ist vergänglich, hinfällig, vom Tode bedroht. Wie weit kann Gott gehen, noch gehen? So weit? So tief? Ich bin nur ein Mensch – er jetzt auch? Doch: er ist das Wort, das Leben schafft. Von Anfang an.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat’s nicht begriffen.
Das Licht des ersten Tages. Es geht jeden Morgen auf. Aber es gibt eine Finsternis, die das Licht zu fressen sucht. Was habe ich schon davon begriffen? Manchmal trage ich die Finsternis auf meinem Gesicht. In meinem Herzen. Angst habe ich auch. Vor der Finsternis der anderen. Der Anfang, der erste Tag – bedroht, heimgesucht, umkämpft. Doch: In ihm war das Leben – in ihm ist das Leben. Was die vielen Weihnachtsgeschichten, die wir in der Bibel finden, gemeinsam haben, ist die Erfahrung der Nacht, die Erfahrung der Finsternis – und die himmlische, aus den Tiefen Gottes kommende Gewissheit, dass wir im Licht sind, ins Licht geholt werden, Licht weiterlichten. Der Anfang ist dann kein Datum – der Anfang ist ein Raum. Ich bin im Anfang. Ich fange an. Ich lade Sie ein, mit mir eine kleine Weihnachtsreise zu machen. Wir besuchen drei Gemeinden, drei Gottesdienste. Alle zu Weihnachten. Keine Angst: wir bleiben nirgends lange. Die Zeit eilt. Die Wege sind lang.
Unsere erste Station: Rom. Weihnachten 590. Wir gehen in die Basilika der seligen Jungfrau Maria. Der Papst, Gregor, legt das Evangelium aus. Gerade sagt er: „Bevor nämlich unser Erlöser im Fleisch geboren wurde, lebten wir mit den Engeln in Zwietracht, von deren Klarheit und Reinheit wir infolge der ersten Schuld, infolge der täglichen Vergehen weit entfernt waren. Da wir durch das Sündigen Gott entfremdet waren, betrachteten uns die Engel, die Bürger Gottes, als außerhalb ihrer Gemeinschaft stehende Fremdlinge. Doch da wir unseren König erkannten, haben uns die Engel als ihre Mitbürger anerkannt. Da nämlich der König des Himmels unser irdisches Fleisch angenommen hat, verachtet jene erhabene Engelswelt unsere Schwäche nicht mehr. Die Engel schließen wieder Frieden mit uns und denken nicht mehr an die frühere Zwietracht; und die sie zunächst als schwach und verworfen verachtet hatten, achten sie nun als ihre Gefährten…“
Ich schaue mich um. So viele Menschen sind hier. Sie feiern Weihnachten. Über Rom liegen dunkle Schatten. Ängste machen sich breit. Ein Jahr zuvor – 589 – hatten die Langobarden Monte Cassino zerstört. Auch Rom wird fallen. Hinzu kam die Pest als Nachwirkung von gewaltigen Überschwemmungen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung war der Seuche schon zum Opfer gefallen. Von Gregor, erst seit September Bischof, erwarten die Menschen Rat und Trost. Von ihm erwarten sie auch, dass die Affären und Händel, in die die Kirche verstrickt ist, ein Ende finden. Ist das nicht ein tolles Bild: dass die Engel uns als ihre Mitbürger anerkennen – und unsere Schwäche nicht mehr verachten? Gregor kommt zum Schluss. Seine Stimme ist schon mitgenommen.
„Sorgen wir also dafür, geliebte …, dass uns nichts Unreines beflecke, die wir im ewigen Vorauswissen sowohl Bürger Gottes als auch seinen Engeln gleichgestaltet sind. Bewahren wir im Lebenswandel unsere Würde. Keine Unzucht möge uns besudeln, kein schändlicher Gedanke anklagen, keine Bosheit am Herzen nagen, kein Rost von Neid an uns fressen, kein Hochmut uns aufblähen, keine Gier nach irdischen Vergnügungen uns zerreißen und kein Zorn entflammen. Denn „Götter“ wurden die Menschen genannt. Verteidige dir also, Mensch, gegen die Laster deine göttliche Würde, denn um deinetwillen ist Gott Mensch geworden, der lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen“
Wir verlassen Rom. Schade. Aber wir wollen noch – rechtzeitig – in Wittenberg ankommen. Wir gehen mit vielen anderen in die Stadtkirche. Es ist ein eiskalter Tag. Überall Schnee. Überall Eis. Die Menschen haben die Kragen hochgeschlagen, sich in ihre Mäntel geflüchtet. Auf der Kanzel steht Dr. Martin Luther, Professor an der noch jungen Wittenberger Universität. Es ist auch nicht der 1. Gottesdienst an diesem Weihnachtstag. Wir kommen gerade recht: „Wir wollen jetzt auch noch ein wenig sagen und wiederholen, was wir heute schon gepredigt haben, nämlich, wie es denn zugehe, dass das Kind Christus in uns geboren werde. Denn das habt ihr schon gehört, dass dieses Kind unser sein muss, wenn uns diese Geburt Frucht bringen soll. Wir müssen uns sein annehmen! Darum soll jeder von uns denken, es sei ihm, es sei ihr geboren! Er hat sich herniedergelassen in diesen Sack – erstaunt schaue ich auf – , in unser Fleisch und Blut, allein darum, dass er den unermesslichen Schatz seiner Güter ausschüttet und uns von Sünde, Tod, Teufel, Hölle und von allem Unglück errettete. Wer sich des Kinds annimmt, der muss fröhlich werden! Denn es ist nicht möglich, dass nicht Freude folge, wenn das Herz mit solchen großen Gütern gefüllt und überschüttet wird. Davon habt ihr nun genug gehört.“
Martin Luther hat auf sein Manuskript die Überschrift geschrieben, schwungvoll: Predigt am Christtage, darinne der Nutz der Geburt Christi, und was sonst noch bei dem Evangelio zu sagen, angezeigt wird. – Nutz der Geburt Christi. Mein Nutzen! Fast hätte ich bei diesem Gedanken den Faden verloren. Aber Martin versteht es, die Fäden immer neu zu verknüpfen. Jetzt sagt er gerade: „Der heilige Geist macht also „ein Fleisch“ und „ein Leib“ aus viel Fleisch und vielen Leibern – die Natur macht aus „einem Fleisch“ viel Fleisch und Leib. Soweit die Natur die Menschen aus einander bringt, so viel näher fügt der Geist sie zusammen. Darum muss ich meinem Nächsten helfen, als tät ich‘s mir selbst. .. Ist er arm und ich bin reich, so soll ihm mein Reichtum zu Hilfe kommen. Ist er ein Sünder und ich bin fromm, so soll ihm meine Frömmigkeit dienen. Ist er in Schaden, ich in Ehre, so soll meine Ehre seine Schande zudecken – und so weiter.“
Wir verlassen die Stadtkirche von Wittenberg. Martin Luther predigt weiter. Er predigt immer etwas länger … Aber ist das nicht ein weihnachtliches Geschenk, dass das Wort Fleisch wird – und ich auch? Der heilige Geist macht aus uns Menschen – ein Fleisch. Ein Fleisch! Eine feine Nuance. Wo es doch so viele Trennungen gibt, so viele Einsamkeiten, so viele Hilflosigkeiten. Wer sich des Kinds annimmt, der muss fröhlich werden. Im Hintergrund höre ich aus der Kirche den Gesang: „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein‘ neuen Schein;
Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis“.
Wir müssen uns beeilen. Am 2. Weihnachtstag besuchen wir noch den Gottesdienst in der Königlichen Hof- und Garnisonskirche zu Potsdam. Es ist das erste Weihnachtsfest im 1. Weltkrieg. Der alte Hofprediger D. Rogge hält seine Weihnachtspredigt: „Lasset uns gehen gen Bethlehem“. „Wohl aber drängt sich uns die Frage auf, ob sich das rauhe Handwerk des Krieges mit den traulichen, lieblichen Bildern des Idylls verträgt, vor die der verlesene Text uns stellt. Und doch habe ich geglaubt, auch diesmal, wo es mir zu meiner besonderen Freude vergönnt ist, noch einmal, wie in früheren Jahren so oft, der Gehilfe eurer weihnachtlichen Freude zu werden, an ihnen nicht vorübergehen zu sollen. Trotz Krieg und Kriegsgeschrei werden wir von der Krippe von Bethlehem und den lieblichen Bildern, die sie uns vor Augen stellt, wenn wir sie nur recht betrachten, einen bleibenden Segen aus diesem ewig denkwürdigen Weihnachtsfest von 1914 mitnehmen können…“ Die Menschen, die sich zum Gottesdienst am 2. Weihnachtstag 1914 – hundert Jahre sind es gerade her – versammeln, sind in sich gekehrt. Viele Söhne, viele Ehemänner sind schon gefallen. Kann der Prediger trösten? Helfen? Aber dann höre ich ihn sagen:
„Das gute Gewissen, mit dem wir, und unser Kaiser voran, zu diesem uns aufgedrungenen und aufgezwungen Kriege hinausgezogen sind, gibt uns das Recht zu der Überzeugung, dass der Kampf, in dem wir für den Fortbestand des Deutschen Reiches, für die Ehre und Wohlfahrt des deutschen Volkes stehen, zugleich ein Kampf für das Reich Gottes ist, und daß auch heute gilt, was einer der größten und beredtesten Zeugen von deutschem Wesen und deutscher Art in den Tagen der Befreiungskriege ausgesprochen: ‚Wenn das deutsche Volk, das Volk der Ideale, des Charakters versänke, so versänke mit ihm das ganze menschliche Geschlecht'”. Der alte Prediger versteigt sich immer weiter. Er rechtfertigt den Krieg. Er mutet Menschen seiner Gemeinde Opfer zu. Die anderen macht er zu Feinden. In Belgien, Frankreich. Es sind wohl keine Menschen dort … Am 2. Weihnachtstag. Ich mag nicht mehr hinhören. Aber es ist kalt in dieser Finsternis. Es wird nicht hell. Auch an Weihnachten nicht. Im Evangelium lesen wir:
„Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet,
die in diese Welt kommen.
Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht;
aber die Welt erkannte ihn nicht.
Er kam in sein Eigentum;
Und die Seinen nahmen ihn nicht auf.
Wie viele ihn aber aufnahmen,
denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden,
denen, die an seinen Namen glauben. –
Wir waren in Rom, in Wittenberg, in Potsdam. Eine weite Reise! In so kurzer Zeit! Aber ich kann jetzt gut Freund sein mit den Engeln, die Schätze des Himmels mit anderen teilen und jedem Krieg, jedem Hass, jedem Feindbild entgegentreten. Schließlich haben wir die Herrlichkeit Gottes gesehen.
In Jesus. Voller Gnade und Wahrheit. –
Der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.