Weltreise in Gottes Heimat
on Babylon über Jerusalem in die Gegenwart
Predigttext: Jesaja 45,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther)
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war.
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.
5 Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –,
6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.
Exegetisch-homiletische Annäherungen
Unser Predigttext ist das 2. Knecht-Gottes-Lied (vgl. Jes. 42,1-4; 50,4-9 und 52,13 bis 53,12). Sprach Jahwe im ersten Lied über die Einsetzung und Sendung seines Knechtes, so begegnet uns im zweiten eine „autobiografische“ Replik (49,2.4) mit Rückverweis auf Gottes Offenbarung (49,3.5f.). Wer aber Gottes Knecht ist, bleibt offen. Ein Individuum, das wir nicht wirklich kennen? Das Volk Israel? Wenn ja, welches? Mose ist auch schon ins Spiel gebracht worden. Oder ist verheißungsvoll vorausschauend von Jesus die Rede? Schauen wir auf die Forschung, begegnen wir vielen Meinungen und Theorien. Der geheimnisvolle Knecht Gottes bleibt im Dunkel. Muss er dort vielleicht sogar sein? Die Aufgabe – und das „Schicksal“, das ihm zugemutet wird – ist von vorneherein viel zu groß, um überhaupt von einem oder auch von mehreren Menschen getragen zu werden. Nach 49,6 ist der Resonanzraum die ganze Welt. Wer das Zutrauen hätte, die Enden der Erde bestimmen zu können, könnte aber immer noch nicht fassen, schon gar nicht erklären, dass ER (und wir müssen die Offenheit jetzt ernstnehmen) „mein (Gottes) Heil bis an die Enden der Erde“ sein soll. Heil – was ist das? Nehmen wir die textliche Umgebung der Knecht-Gottes-Lieder ernst, verbieten sich Spiritualisierungen und Fragmentarisierungen. Was bedeutet das für die homiletische Messlatte? Eschatologische Bescheidenheit?
Gliedern wir den Text, ergibt sich eine spannende Konstruktion:
VV 1-2: Hört, merkt auf – ER hat meinen Mund …
VV 3-4: Vergewisserung und Frustration
VV 5-6: Jahwes Sendung
- 3 ist ein Zitat: Er hat zu mir gesagt; VV 5-6 erneuern und weiten jedoch die Beauftragung in einem Jahwe-Wort aus. Das Zitat wird aufgegriffen und verstärkt. Es geht um die Verherrlichung, um das Großmachen Jahwes. V. 3, mitten im Lied, hat eine Scharnier- und Konzentrationsfunktion. Wahrzunehmen ist zwischen VV 1-2 und V. 4 aber der zutiefst menschliche Zwiespalt: Jahwe hat mich berufen …, er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht…, er hat mich in seinem Köcher bewahrt, aber ich dachte, ich arbeitete vergeblich… alles umsonst. Wer auch immer hinter diesem „ich“ steckt, es wird eine Schwäche sichtbar, trotz oder wegen des großen Auftrages nicht mitzukommen, zurückzubleiben oder an der „Rolle“ zu zerbrechen. Dabei wird in V. 1 schon vorweggenommen, was in V. 6 zugesprochen wird: Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Die VV 1 und 6 erweisen sich als Klammer eines Liedes, das in sich mehrstimmig ist.
Die Gattungsbezeichnung Lied ist in einem Fließtext nur schwer auszumachen, auch die Noten sind nicht überliefert. In manchen Bibelübersetzungen ist unser Predigttext wenigstens formal abgehoben. Aber wir können Entdeckungen machen, wenn wir dieses Lied kompositorisch in seinem Kontext verorten: 48,12-22 und 49,7-26. Man vergleiche nur 48, 12 mit 49,1; 49.6 mit 49,22 und 49,4 mit 49,14.
Das Knecht-Gottes-Lied erweist sich als Zusammenfassung und Ausgangspunkt (in der Reihenfolge) der prophetischen Verkündigung, die sich – im Endstadium der kanonischen Entwicklung – auf den Knecht Gottes berufen kann. Er ist, er hat Autorität. Die Knecht-Gottes-Lieder sind zudem Evangelium im alttestamentlichen Gewand. Es geht nicht nur um die Herrlichkeit, Größe und Schönheit Jahwes, es geht darum, ihm im Heilwerden der Welt (und Israels) anzuschauen. Hier korrespondieren die VV 3 und 6.
- 1
Die Nationen sollen aufmerken! Warum? Hier gilt es, neben V. 5 auch Jer. 1,5 zu hören („bestellte dich zum Propheten für die Völker“). In der kleinen Welt des babylonischen Exils wird Weltpolitik gemacht.
- 2
Hier erscheinen das „scharfe Schwert“ und der „spitze Pfeil“, Waffen also, die eingesetzt werden (müssen). Jedoch ist zu beachten, dass dem Mund, dem Wort also, eine weltverändernde Wirkung zugedacht ist. Man vergleiche Hebr. 4,12. Nach Westermann ist aber der „Angriffscharakter“ nicht auszublenden. Es wäre zu wenig, Jahwe nur defensiv am Werk zu sehen. Er ist nicht nur der Schöpfer der Welt, er verändert und gestaltet sie auch. Das kommt auch in den parallelen Formulierungen zum Ausdruck, die den Propheten / Knecht in Schutz nehmen: „mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt“ und „mich in seinem Köcher verwahrt“. Die Bilder „Schatten“ und „Köcher“ stehen für den Segen, für den Beistand Jahwes (vgl. Jer. 1,19b)
- 3
Der Zuspruch Gottes wird in einem Zitat vergegenwärtigt („er sprach zu mir“). Vergegenwärtigt wird, dass er „mein Knecht“ ist, „Israel“. Es wird hier eine Identität vorgelegt, ohne sie im Einzelnen zu beschreiben oder zu plausibilisieren. „Knecht“ ist eine Vertrauensaussage, keinesfalls ein Kleinmachen. Der „Knecht“ ist so etwas wie ein Generalbevollmächtigter. Unsere agrarischen Vorstellungen kommen hier an eine Grenze, auch die Diskussion um Herr und Knecht – ein durchaus spannendes phil. und hist. Thema (vgl. Num. 12,7). In dem „mein“, „mein Knecht“ macht sich Jahwe selbst zum Knecht, indem er sich mit ihm identifiziert und sich mit Gedeih und Verderb an ihn bindet. Ziel ist, dass Jahwe verherrlicht wird. Das Wort „verherrlichen“ lässt das Herrsein Jahwes durchschimmern, jedoch unter den Bedingungen seines Herrlichwerdens die dunkle Folie welthistorischer Konstellationen durchscheinen.
Textkritisch ist einwandfrei bezeugt, dass Israel hier genannt wird. Damit bleibt die Frage nach einer Kollektivdeutung textimmanent offen. Nach Lev. 25,55 bezeichnet Jahwe die Israeliten als seine Knechte.
Exkurs:
Schauen wir uns einmal an, wie ein jüdischer Ausleger – Leo Baeck – den Sachverhalt durchdenkt:
„Die Auserwählung wird als ein Prophetentum des ganzen Volks erfaßt. Sie wird in ihm zu einem Glauben an eine Sendung über sich selbst hinaus, an ein Auserwähltsein um der anderen willen. Ganz Israel ist der Bote des Herrn, der Messias, der Knecht Gottes, der die Religion für alle Lande hüten, von dem das Licht zu allen Völkern ausstrahlen soll (…)
Die Idee der Auserwählung erhält so zu ihrem unbedingten Korrelat die Idee der Menschheit, der zur wahren Religion berufenen Menschheit (…)
So ist mit dieser Betonung der Pflicht gegen alle Menschen zugleich auch der Gedanke der Gemeinschaft mit ihnen, der Gedanke einer Gotteskindschaft und Gotteszugehörigkeit aller deutlich ausgesprochen.“
(Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 1960 (6. Aufl.), S. 66)
- 4
Enttäuschung wird in Worte gefasst. Man vgl. u.a. Ex. 5,22f, 1. Kön. 19,4 oder auch Jer. 15,10f.15-20; 20,7-18. Ent-täuschung meint, dass eine Täuschung nicht mehr möglich ist, etwas wird als Täuschung enttarnt. Eine feine Gesellschaft: Mose, Elia, Jeremia. Der Vergeblichkeitserfahrung allerdings ist nicht isoliert zu betrachten, sondern gehört zum „Standardrepertoire“ des von Jahwe eingesetzten Knechts. Sie ist so etwas wie ein Wahrzeichen. „Umsonst“ und „unnütz“ heißen im Hebr. „tohu we-häbäl“ – die Assoziation mit Gen. 1,2 („tohu wa-bohu“) muss sich einstellen. Es ist der Zustand vor der Schöpfung, Urerfahrung also. Die Assoziation mit Koh. 1,2 lässt den Windhauch sehen (häbäl: Luther „alles ist eitel“), das Vergängliche, Hinfällige, sich Verflüchtigende. Paulus wird sich später in diesem Knecht wiederentdecken, vgl. Gal. 1,15; 2,2; 3,4; 4,11.
- 5
Berufung und Sendungsgewissheit von Mutterleib an (vor aller Zeit also) werden autoritativ neu gesetzt. Der Knecht soll Jakob zu Jahwe zurückführen, d.h. – s. den Parallelismus menbrorum - Israel sammeln. Der Kontext, auch V. 6, lassen an die Rückführung der Exilierten denken, sogar auch an eine Restitution (oder auch Restauration) des Zwölfstämmevolkes. Reicht das? Ist das angezeigt? Ist das überhaupt möglich? Hier bleiben viele Fragen offen, die in biblischen Überlieferungen zwar unkritisch mit ungestümen Hoffnungen verbunden sind, andererseits aber Gottes Treue nicht anders denken können als von einer Ursprungssituation und –erzählung her. Wie weit aber ist ein Neuanfang noch der Anfang am Anfang? Gewichtig ist, dass der Knecht von Mutterleib an Knecht ist, also Knecht nicht irgendwann und irgendwie wird. Die Vorgeschichte des Knechtes liegt vor aller Zeit. Bei Jahwe.
- 6
Israels Restitution – oder Restauration – ist zu wenig (!). Die Grenzen der bekannten Welt werden überschritten. „Licht der Heiden“, “Heil bis an die Enden der Erde“ bringen die Völkerwelt in den Fokus des auf Aufbruch gestimmten Volkes im Exil. Allerdings: auch Babylon gehört dazu. Viele werden dort auch bleiben. Im Exil wird der Ethnozentrismus zu einem Phänomen der Vergangenheit – und zu einem Phänomen der Gefährdung.
Jahwe ist zwar – so die alten Bekenntnisformeln – Gott Abrahams, Isaak und Jakobs, der Gott Israels, lässt sich aber nicht einhegen oder domestizieren. Zu beachten ist allerdings, dass die Tora als Licht der Völker verstanden wird.
Das Knecht-Gottes-Lied ist ein Lied auf Vorrat. Es ist eiserne Reserve, Quelle der Inspiration und ein Lied voller Hoffnung. Gegen alle Geschichtsklitterungen, „neue Fakten“ und dem unseligen Pessimismus, der nichts verändern will, nichts verändern kann. „Licht der Heiden“ heißt: „Licht der Völker“! Sie geraten ins Licht. Sie sehen Licht.
Der These, Jesaja habe von Jesus geredet, werden wir aus vielerlei Gründen nicht folgen können, hermeneutisch auch kaum zu rechtfertigen wissen, aber dass Jesus sich – so die Evangelien – in dieser Figur des Knechtes Gottes „erfüllt“ sieht, gehört auslegungs- und wirkungsgeschichtlich zu den aufregendsten und belangreichsten Einsichten biblischer und nachbiblischer Re-Lecture.
An diesem Sonntag werden wir Christus verkündigen als den, den „du (Herr) bereitest hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“ (Luk. 2,31f.). Die Cantica am Anfang des Lukas-Evangeliums rahmen nicht nur die Geburtsgeschichte Jesu, sondern sind basso continuo des Evangeliums. Lieder, die im Resonanzraum des AT (Crüsemann) gesungen und gesummt werden. Im Christushymnus (Phil. 2,5-11) wird schon in einer Frühform der Christologie von der Knechtsgestalt gesprochen, die Jesus angenommen hat. Jesus ent-äußert sich selbst. Im Prolog des Johannes-Evangeliums schließlich ist „im Anfang das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott…“ (Joh. 1).
Homiletisch ist es reizvoll, die Geschichte Gottes in einem Klangraum zu hören, der tatsächlich keine Grenze mehr kennt und braucht. Wir erzählen von Babylon, schauen in Jerusalem vorbei und kommen endlich in unserer eigenen Kirche, an unserem Ort, an. In unserem Gottesdienst teilen, verkünden und besingen wir die Freude, dass Gottes Heil tatsächlich bis an die Enden der Erde kommt. Und das nicht unter Konditionen oder mit Vorbehalten.
In einer globalen bzw. globalisierten Welt sind die Enden der Erde virtuell zumindest aufgehoben, aber in der Predigt (und in den Fürbitten) werden wir Grenzen und „Enden“ wahr-zunehmen haben. Wer über Licht predigt, predigt auch über Dunkelheit, sieht sie aber durchbrochen, geteilt und ausgerichtet.
Neben Kommentaren und Wörterbüchern habe ich Anregungen erhalten von Siegfried Bergler in den Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Berlin 2017, 340-346.
Eine Weltreise
Wir machen heute eine kleine Weltreise! Wir starten in Babylon, im Irak also, reisen weiter nach Jerusalem und kommen dann auch wieder nach Hause. An den großen Namen und Orten wollen wir auch nicht Maß nehmen. Oder doch?
Babylon
Nach längerer Reisezeit – wir müssen sogar Jahrhunderte überbrücken – atmen wir die Luft Babylons. Weltstadt, Weltreich. Längst vergangen. Aber immer noch wie ein Traum, der nicht vergehen will. Unter den geborenen Babyloniern leben seit geraumer Zeit Menschen, die von der großen Geschichte hierhin verschlagen wurden. Die Heimat ist weit weg. So weit weg, dass Welten dazwischen liegen. Es ist gar nicht so einfach, diese Geschichte zu erzählen. Nach politischen Verwicklungen und Intrigen erobern die Babylonier auch die Stadt Jerusalem. Die Stadt Gottes. Erst werden die schützenden Mauern niedergerissen, dann wird der Tempel in Brand gesteckt.
Der Kalender zeigt Winter 587/586 an – vor Christus. Ein traumatisches Jahr. Das Jahr, in dem Gott besiegt wurde. Von Marduk. Hinter seinem Rücken zogen die Heere in das Heilige Land. Und als sie zurückkehrten, siegreich, nahmen sie die Bevölkerung einfach mit. Alte und junge Menschen, kranke und gesunde. Unterwegs kamen viele um. Der Treck war endlos. Kilometer, die niemand mehr zählen konnte. Die Katastrophe schlechthin. Wie lange die Menschen unterwegs waren? Die Chroniken schweigen. Wie verloren die Menschen waren? Wir haben keine Zeugnisse von ihnen. Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ich weiß, ich ahne, was durch die Köpfe und Herzen geht. Eine grenzenlose Trauer, eine unterdrückte Wut, eine wabernde Angst.
Wir erzählen eine alte Geschichte, eine Migrationsgeschichte. Seit wann es Migration, Migranten gibt? Dass wir in unserer Heiligen Schrift darauf stoßen, ist ebenso abenteuerlich wie tröstlich. Denn: Gott, der den Tempel verlassen musste, eigentlich auch nie so recht heimisch in ihm war, ist mit nach Babylon gezogen. Ein Vertriebener unter Vertriebenen, ein Deportierter unter Deportierten. Mochte er besiegt erscheinen – er brauchte die Machtspiele nicht. Aber sein Volk, seine Menschen gab er nicht auf. War sein Name nicht von Anfang an: Der, der mit euch geht?
Wir machen einen Besuch vor Ort. Mit Menschen kommen wir ins Gespräch. Inzwischen sind Jahre vergangen. Vieles hat sich, wie wir sagen, normalisiert. Die jungen Leute haben geheiratet. Überall hören wir die kleinen Kinder. Mancher ist in fremder Erde bestattet. Die Jahre gehen ins Land. Sosehr auch die Vergangenheit verblasst, wie Erinnerungen, die in den Tiefen der Seele verschwinden, sosehr lebt die Hoffnung, noch einmal neu anzufangen. An alten Orten, in der Heimat. Da, wo die alten Geschichten und Träume zu Hause sind. Selbst die Ruinen erzählen von einer großen Sehnsucht.
Heute hören wir – eine Predigt? Eine Kundgebung? Von einem Gottesdienst wird nichts erzählt, aber wie gebannt hören die Menschen einem Lied zu. Der Sänger, unbekannt, singt ein Hoffnungs-, ein Protestlied. Ein Lied gegen Ängste, Missmut und Resignation. Man könnte die Stecknadel fallen hören.
(Lesung des Predigttextes)
Die Inseln in den Meeren, die Völker so weit weg, werden aufgerufen. Wie Zeugen vor Gericht. Gott hat von Anfang an, vor aller Zeit, beschlossen, sein Volk nie zu verlassen, es nie fallen zu lassen, es nicht den Unbilden der Geschichte zu überlassen. Was aber kann er machen? Ohne Gewalt, ohne Hass, ohne Ressentiments? Er redet. Er lässt reden. Er überlässt seine Worte. Einem Menschen. Vielen Menschen. Und er beschützt und bewahrt die, die in seinem Namen eine neue Zeit, überhaupt Zukunft und Leben ansagen. Im Lied heißt es: mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt – mich in seinem Köcher verwahrt.
Der, der das Lied angestimmt hat, nennt sich „Knecht“. Von außen sieht man es ihm nicht an. Er kommt nicht gerade vom Feld. Nicht aus dem Stall. Aber als „Knecht“ mimt er nicht den Herren, er tut auch nicht so, als sei auf seinem Mist gewachsen, was er heute sagt. Gott selbst ist in jedem Wort so gegenwärtig und nah, dass sein Atem hörbar wird. Wie gebannt hören die Menschen die Ansage einer heilvollen Zeit, die in der Fremde längst verloren schien. Nicht nur das Volk Israel, so die Botschaft, soll eine Zukunft haben – die ganze Welt wird von Gott in sein Heil hineingenommen.
Wie sich das anhört: „bis an die Enden der Erde“. Für Menschen, die nur ihre kleine Welt kennen, sie vielleicht nicht einmal mehr aushalten und ertragen können, ist dieser Ausblick betörend verwunderlich, aber auch so schön, dass die kleinen Gedanken, die kleinen Träume, die kleinen Erfahrungen in einen großen Raum geraten, der keine Ängste und keine Verlorenheit mehr kennt. In Babylon lernt Israel, die große Welt nicht nur zu kennen, sie lernt sie zu lieben. Das Beste, was die Menschen haben, teilen sie: die gnädige, liebevolle Weisung Gottes. Sein Wort. Sein Gebot. Die Tora!
Gott, sein Knecht und die Menschen
Ich schaue in die Runde. Aufmerksame Zuhörer hat der Sänger. Dass er sich als „Knecht“ versteht, gefällt mir. Es gibt so viele Großredner, Schönredner und Selbstdarsteller, dass mir gelegentlich übel wird. Aber heute wird nicht großgeredet. Heute bekommen Menschen einen neuen Blick auf ihre Geschichte, die so klein und erbärmlich nicht ist, wie sie sich anfühlt und anschauen lässt. Gott braucht keinen Tempel, um von Menschen ein Opfer zu bekommen, aber die Menschen sehnen sich danach, dass Gott in ihrer Mitte ist, mit ihnen leidet, ihnen seine Gegenwart und Liebe schenkt. Gott braucht keinen Tempel, um irgendwo zu Hause zu sein, aber die Menschen brauchen eine Heimat, in der Frieden herrscht.
„Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war.“ Die Worte waren so glücklich gewählt, dass sich Menschen in ihnen widerfinden konnte. In Babylon. Die ganze Welt soll sich doch darüber freuen, dass Gott an meinem Namen so viel Gefallen hat, dass er von Anfang an mich dachte. Mein Name! Von Anfang an! Ich musste ihm nicht auffallen. Ich musste um seine Anerkennung nicht kämpfen. Ich musste ihm auch nie etwas vorspielen. Höre ich richtig? Die Inseln sollen das hören? Die Völker darüber aufmerken? Im Umkreis der Zuhörer nehme ich dann auch das Raunen und das Zaudern wahr. Was aus der Seele gesprochen scheint, findet sich in der Seele wieder. “Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.”
Dass nicht alles gelingt, nicht alles gelingen kann, weiß ich wohl, aber dass so vieles vergeblich ist, schmerzt. Viele Menschen wissen ein Lied davon zu singen. Mit vielen Strophen. „Frustriert“ sagen wir. Vergeblich. Hinfällig. Eitel. Für sich genommen, ist es erträglich, in Serie verhängnisvoll, aber wenn es zum Urteil des Lebens wird, ein Verdammungsurteil. Was mag der „Knecht“ erlebt haben? Dass er redet und nicht verstanden wird? Dass er die Dinge beim Namen nennt und aneckt? Dass er Hoffnungen erzählt und als Lügner entlarvt ist? Es bleibt so vieles offen, was ich gerne wüsste. An den „Knecht“ komme ich nicht heran. Aber ich höre sein trotziges Vertrauen: Ich weiß mich bei Gott geborgen. Er steht hinter mir. Er stellt sich vor mich.
Jerusalem
Ich würde noch gerne in Babylon verweilen. Es ist noch nicht alles gesagt. Zwischen den Zeilen ist auch vieles versteckt. Obwohl das Wort erst später auftaucht, haben wir das Evangelium gehört. In den Worten eines „Knechts“, der so geheimnisvoll ist, dass wir weder Namen noch Geschichte kennen. Aber mit Gott ist er vertraut und Gott mit ihm. Er, der seine Treue zugesagt hat, lässt sich auch in keiner Ruine bannen. Er bricht auf. Wie ganz am Anfang. Da schuf er das Licht. Und die Welt konnte Welt werden.
Unser nächstes Ziel ist Jerusalem. Die Stadt Gottes, die Heilige Stadt, trägt den „Frieden“ in ihrem Namen, ist aber zerrissen, verwundet und beklagt. Von vielen Seiten. In dem Dickicht sieht keiner mehr klar. Die Religionen zerren aneinander. Widersprüchliche Geschichten werden tradiert. Mit Wahrheit versehen und um die Ohren gehauen. Besitzansprüche trennen. Hier die, die das Land bekommen haben – dort die, die das Land verloren haben. Flüchtlinge ohne Heimat. Ob das Reiseziel jetzt richtig ist? Wollen wir dahin?
Dann aber haben wir eine kleine Begegnung im Tempel von Jerusalem. Wir sind im Jahr der Geburt Christi. Wir sehen einen uralten Mann, der sich über Jesus beugt. Vor 8 Tagen wurde Jesus geboren. Heute wird er beschnitten. Heute bekommt er seinen Namen. Jesus. Ein Jude unter Juden. Für die Eltern, für die Freunde, für die Familie ist es ein Festtag. Und dann auch noch am richtigen Ort! Im Tempel! Lukas, der Evangelist, erzählt:
„Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. Und ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden, er sollte den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach:
‚Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.‘ Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was von ihm gesagt wurde.“ (Lukas 2,25ff.)
Die Szene ist so schön, dass sie wie ein Lied klingt. Ein Lied aus einer anderen Welt. Simon verkörpert die Sehnsucht der Menschen, zerrissene, verwundete und beklagte Welten zu heilen. Es ist die Sehnsucht, Licht in die vielen kleinen und großen Dunkelheiten, Verdunkelungen und Verfinsterungen zu bringen, die Angst und Schrecken verbreiten. Oft noch mit wirren Geschichten, halbseidenen Rechtfertigungen und trostloser Resignation. Gelegentlich auch als neue Fakten. Simon kennt die Welt. Simon liebt die Welt. Simon schenkt der Welt ein Lied. Ein Lied auf die Geburt Jesu. Das „Nunc dimitis“ – Nun, Herr, lässt du deinen Diener in Frieden fahren. Ist Jesus der „Knecht“ Gottes, von dem wir in Babylon gehört haben? Ich frage Simon. Du hörst doch, sagt er: ein Licht zur Erleuchtung der Völker und zum Preis des Volkes Israel! Das Heil, das Gott bereitet hat vor allen Völkern. Jesus – Gottes Knecht?
Jesus als Knecht
In dem ältesten Kirchenlied, das wir kennen, finden wir tatsächlich eine Spur: Jesus nahm Knechtsgestalt an. Paulus hat dieses Lied, diesen Hymnus, in seinem Brief an die Gemeinde zu Philippi überliefert. „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ (Philipper 2,5-11)
Jesus hat die Welt Gottes hinter sich gelassen, um Mensch zu werden, einer von uns. Das wird besungen und bejubelt. Während wir fragen, wie wir Gott erkennen können, möchte Jesus als Mensch erkannt werden. Er entäußert sich – und das ist mehr als Abstieg. Wenn das Wort nicht so schwierig wäre, könnten wir von einer Wesensänderung sprechen. Die Göttlichkeit und Herrlichkeit legt er ab. Nicht nur teilweise oder abgesteckt – ganz! Der „Knecht“ Gottes ist ein Mensch. In Babylon konnten wir das schon sehen. In Jerusalem gehen uns die Augen auf.
Ich bin das Licht der Welt. Sagt Jesus. Ein Ich-bin-Wort. Wer mir nachfolgt, bleibt nicht mehr in der Finsternis. Wird auch nicht mehr von der Finsternis festgehalten. Es wird hell, wenn Menschen aus einer Schuldgeschichte heraustreten können, wenn Schuld vergeben wird. Es wird hell, wenn Menschen geheilt werden, wenn Krankheiten und Leiden nicht zu Gefängnissen werden.
Es wird hell, wenn Menschen aus Teufelskreisläufen heraustreten, wenn Hass keine Alternative mehr ist. Jesus hat Menschen aus ihrer Schuld herausgeholt. Jesus hat Menschen geheilt. Jesus hat Frieden geschenkt. Wenn es im Leben auch nur eines Menschen hell wird, kann die Welt nicht mehr dunkel sein. Die große, weite, verstreute Welt spiegelt sich in einem Gesicht.
Verfemt, verurteilt und hingerichtet ist Jesus am Kreuz gestorben. Wir können sein Gesicht nicht sehen. Seine Liebe ist so groß, dass er es mit dem Tod aufnehmen konnte – und der Tod musste an seiner Liebe scheitern. Es ist eine bittere Geschichte, in der die Dunkelheit der Welt sich wie ein Ungetüm gebärdet. Es ist aber auch eine glanzvolle Geschichte, in der die Dunkelheit der Welt ihre letzten Schlupfwinkel verliert. Der „Knecht“ Gottes wird von Gott ins Recht gesetzt, von den Toten auferweckt, zu seiner Rechten erhöht. Eine lichtvolle Geschichte, die in immer neuen Wendungen erzählt und besungen wird. In Babylon wurde auch noch ein anderes Lied gesungen. Schade, wir sind zu früh aufgebrochen. Ich ahnte, warum es gut gewesen wäre, noch etwas länger dort zu verweilen.
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,4f.)
Zu Hause
Nach einer langen Reise sind wir zu Hause angekommen. Wir waren In Babylon, wir waren in Jerusalem. Uns sind Menschen begegnet, neugierig und gespannt, voller Hoffnung und Übermut. Wenn sogar die Inseln zu Zeugen aufgerufen werden und die ganze Welt aufhorchen soll, muss wohl ein Wunder geschehen. Weniger geht nicht. Ab jetzt wird nicht mehr geschwiegen. Ab jetzt nicht mehr still gehalten. Ab jetzt nichts mehr unter den Teppich gekehrt. Faszinierend, dass es Lieder sind, die die Welt ausleuchten. Lieder eines Knechts. Lieder der Hoffnung. Und Lieder eines großen Protestes. Gegen eingeschlossene Geschichten, kultivierten Allmachtswahn und übertönte Ängste.
Ich freue mich über eine Welt im Licht. Die Sehnsucht ist groß. Es fällt nicht schwer, die vielen Dunkelheiten, Abhängigkeiten und Trauerspiele zu benennen, aber wir geraten von einer Wiederholung in die andere. Wir drehen uns im Kreis. Wir können nichts mehr unterscheiden. Worte verlieren sich, verschwimmen, verdämmern. Worte machen sich gemein, werden instrumentalisiert, gefällig. Ich verstehe dann nichts mehr. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Ob es ein Lied schafft, hinter die vielen Vorhänge zu schauen? Ein Liebeslied erobert den Raum. In Babylon, in Jerusalem, bei uns. Licht aber macht einen Raum weit. Nuancen tauchen auf, das Spiel der Schatten fasziniert, weiße Flecken bekommen Konturen. Das Licht ist die Liebe. Sie macht alles hell. Sie klärt alles, sie klärt alles auf. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott!