Predigt

Weltreise in Gottes Heimat

on Babylon über Jerusalem in die Gegenwart

PredigttextJesaja 45,1-6 (mit ausführlicher Exegese)
Kirche / Ort:Aachen
Datum:23.09.2018
Kirchenjahr:17. Sonntag nach Trinitatis
Autor:Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Jesaja 45,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther)

1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. 5 Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.

Exegetisch-homiletische Annäherungen

Unser Predigttext ist das 2. Knecht-Gottes-Lied (vgl. Jes. 42,1-4; 50,4-9 und 52,13 bis 53,12). Sprach Jahwe im ersten Lied über die Einsetzung und Sendung seines Knechtes, so begegnet uns im zweiten eine „autobiografische“ Replik (49,2.4) mit Rückverweis auf Gottes Offenbarung (49,3.5f.). Wer aber Gottes Knecht ist, bleibt offen. Ein Individuum, das wir nicht wirklich kennen? Das Volk Israel? Wenn ja, welches? Mose ist auch schon ins Spiel gebracht worden. Oder ist verheißungsvoll vorausschauend von Jesus die Rede? Schauen wir auf die Forschung, begegnen wir vielen Meinungen und Theorien. Der geheimnisvolle Knecht Gottes bleibt im Dunkel. Muss er dort vielleicht sogar sein? Die Aufgabe – und das „Schicksal“, das ihm zugemutet wird – ist von vorneherein viel zu groß, um überhaupt von einem oder auch von mehreren Menschen getragen zu werden. Nach 49,6 ist der Resonanzraum die ganze Welt. Wer das Zutrauen hätte, die Enden der Erde bestimmen zu können, könnte aber immer noch nicht fassen, schon gar nicht erklären, dass ER (und wir müssen die Offenheit jetzt ernstnehmen) „mein (Gottes) Heil bis an die Enden der Erde“ sein soll. Heil – was ist das? Nehmen wir die textliche Umgebung der Knecht-Gottes-Lieder ernst, verbieten sich Spiritualisierungen und Fragmentarisierungen. Was bedeutet das für die homiletische Messlatte? Eschatologische Bescheidenheit?

Gliedern wir den Text, ergibt sich eine spannende Konstruktion:

VV 1-2: Hört, merkt auf – ER hat meinen Mund …

VV 3-4: Vergewisserung und Frustration

VV 5-6: Jahwes Sendung

  1. 3 ist ein Zitat: Er hat zu mir gesagt; VV 5-6 erneuern und weiten jedoch die Beauftragung in einem Jahwe-Wort aus. Das Zitat wird aufgegriffen und verstärkt. Es geht um die Verherrlichung, um das Großmachen Jahwes. V. 3, mitten im Lied, hat eine Scharnier- und Konzentrationsfunktion. Wahrzunehmen ist zwischen VV 1-2 und V. 4 aber der zutiefst menschliche Zwiespalt: Jahwe hat mich berufen …, er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht…, er hat mich in seinem Köcher bewahrt, aber ich dachte, ich arbeitete vergeblich… alles umsonst. Wer auch immer hinter diesem „ich“ steckt, es wird eine Schwäche sichtbar, trotz oder wegen des großen Auftrages nicht mitzukommen, zurückzubleiben oder an der „Rolle“ zu zerbrechen. Dabei wird in V. 1 schon vorweggenommen, was in V. 6 zugesprochen wird: Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Die VV 1 und 6 erweisen sich als Klammer eines Liedes, das in sich mehrstimmig ist.

Die Gattungsbezeichnung Lied ist in einem Fließtext nur schwer auszumachen, auch die Noten sind nicht überliefert. In manchen Bibelübersetzungen ist unser Predigttext wenigstens formal abgehoben. Aber wir können Entdeckungen machen, wenn wir dieses Lied kompositorisch in seinem Kontext verorten: 48,12-22 und 49,7-26. Man vergleiche nur 48, 12 mit 49,1; 49.6 mit 49,22 und 49,4 mit 49,14.

Das Knecht-Gottes-Lied erweist sich als Zusammenfassung und Ausgangspunkt (in der Reihenfolge) der prophetischen Verkündigung, die sich – im Endstadium der kanonischen Entwicklung – auf den Knecht Gottes berufen kann. Er ist, er hat Autorität. Die Knecht-Gottes-Lieder sind zudem Evangelium im alttestamentlichen Gewand. Es geht nicht nur um die Herrlichkeit, Größe und Schönheit Jahwes, es geht darum, ihm im Heilwerden der Welt (und Israels) anzuschauen. Hier korrespondieren die VV 3 und 6.

  1. 1

Die Nationen sollen aufmerken! Warum? Hier gilt es, neben V. 5 auch Jer. 1,5 zu hören („bestellte dich zum Propheten für die Völker“). In der kleinen Welt des babylonischen Exils wird Weltpolitik gemacht.

  1. 2

Hier erscheinen das „scharfe Schwert“ und der „spitze Pfeil“, Waffen also, die eingesetzt werden (müssen). Jedoch ist zu beachten, dass dem Mund, dem Wort also, eine weltverändernde Wirkung zugedacht ist. Man vergleiche Hebr. 4,12. Nach Westermann ist aber der „Angriffscharakter“ nicht auszublenden. Es wäre zu wenig, Jahwe nur defensiv am Werk zu sehen. Er ist nicht nur der Schöpfer der Welt, er verändert und gestaltet sie auch. Das kommt auch in den parallelen Formulierungen zum Ausdruck, die den Propheten / Knecht in Schutz nehmen: „mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt“ und „mich in seinem Köcher verwahrt“. Die Bilder „Schatten“ und „Köcher“ stehen für den Segen, für den Beistand Jahwes (vgl. Jer. 1,19b)

  1. 3

Der Zuspruch Gottes wird in einem Zitat vergegenwärtigt („er sprach zu mir“). Vergegenwärtigt wird, dass er „mein Knecht“ ist, „Israel“. Es wird hier eine Identität vorgelegt, ohne sie im Einzelnen zu beschreiben oder zu plausibilisieren. „Knecht“ ist eine Vertrauensaussage, keinesfalls ein Kleinmachen. Der „Knecht“ ist so etwas wie ein Generalbevollmächtigter. Unsere agrarischen Vorstellungen kommen hier an eine Grenze, auch die Diskussion um Herr und Knecht – ein durchaus spannendes phil. und hist. Thema (vgl. Num. 12,7). In dem „mein“, „mein Knecht“ macht sich Jahwe selbst zum Knecht, indem er sich mit ihm identifiziert und sich mit Gedeih und Verderb an ihn bindet. Ziel ist, dass Jahwe verherrlicht wird. Das Wort „verherrlichen“ lässt das Herrsein Jahwes durchschimmern, jedoch unter den Bedingungen seines Herrlichwerdens die dunkle Folie welthistorischer Konstellationen durchscheinen.

Textkritisch ist einwandfrei bezeugt, dass Israel hier genannt wird. Damit bleibt die Frage nach einer Kollektivdeutung textimmanent offen. Nach Lev. 25,55 bezeichnet Jahwe die Israeliten als seine Knechte.

Exkurs:

Schauen wir uns einmal an, wie ein jüdischer Ausleger – Leo Baeck – den Sachverhalt durchdenkt:

„Die Auserwählung wird als ein Prophetentum des ganzen Volks erfaßt. Sie wird in ihm zu einem Glauben an eine Sendung über sich selbst hinaus, an ein Auserwähltsein um der anderen willen. Ganz Israel ist der Bote des Herrn, der Messias, der Knecht Gottes, der die Religion für alle Lande hüten, von dem das Licht zu allen Völkern ausstrahlen soll (…)

Die Idee der Auserwählung erhält so zu ihrem unbedingten Korrelat die Idee der Menschheit, der zur wahren Religion berufenen Menschheit (…)

So ist mit dieser Betonung der Pflicht gegen alle Menschen zugleich auch der Gedanke der Gemeinschaft mit ihnen, der Gedanke einer Gotteskindschaft und Gotteszugehörigkeit aller deutlich ausgesprochen.“

(Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 1960 (6. Aufl.), S. 66)

  1. 4

Enttäuschung wird in Worte gefasst. Man vgl. u.a. Ex. 5,22f, 1. Kön. 19,4 oder auch Jer. 15,10f.15-20; 20,7-18. Ent-täuschung meint, dass eine Täuschung nicht mehr möglich ist, etwas wird als Täuschung enttarnt. Eine feine Gesellschaft: Mose, Elia, Jeremia. Der Vergeblichkeitserfahrung allerdings ist nicht isoliert zu betrachten, sondern gehört zum „Standardrepertoire“ des von Jahwe eingesetzten Knechts. Sie ist so etwas wie ein Wahrzeichen. „Umsonst“ und „unnütz“ heißen im Hebr. „tohu we-häbäl“ – die Assoziation mit Gen. 1,2 („tohu wa-bohu“) muss sich einstellen. Es ist der Zustand vor der Schöpfung, Urerfahrung also. Die Assoziation mit Koh. 1,2 lässt den Windhauch sehen (häbäl: Luther „alles ist eitel“), das Vergängliche, Hinfällige, sich Verflüchtigende. Paulus wird sich später in diesem Knecht wiederentdecken, vgl. Gal. 1,15; 2,2; 3,4; 4,11.

  1. 5

Berufung und Sendungsgewissheit von Mutterleib an (vor aller Zeit also) werden autoritativ neu gesetzt. Der Knecht soll Jakob zu Jahwe zurückführen, d.h. – s. den Parallelismus menbrorum - Israel sammeln. Der Kontext, auch V. 6, lassen an die Rückführung der Exilierten denken, sogar auch an eine Restitution (oder auch Restauration) des Zwölfstämmevolkes. Reicht das? Ist das angezeigt? Ist das überhaupt möglich? Hier bleiben viele Fragen offen, die in biblischen Überlieferungen zwar unkritisch mit ungestümen Hoffnungen verbunden sind, andererseits aber Gottes Treue nicht anders denken können als von einer Ursprungssituation und –erzählung her. Wie weit aber ist ein Neuanfang noch der Anfang am Anfang? Gewichtig ist, dass der Knecht von Mutterleib an Knecht ist, also Knecht nicht irgendwann und irgendwie wird. Die Vorgeschichte des Knechtes liegt vor aller Zeit. Bei Jahwe.

  1. 6

Israels Restitution – oder Restauration – ist zu wenig (!). Die Grenzen der bekannten Welt werden überschritten. „Licht der Heiden“, “Heil bis an die Enden der Erde“ bringen die Völkerwelt in den Fokus des auf Aufbruch gestimmten Volkes im Exil. Allerdings: auch Babylon gehört dazu. Viele werden dort auch bleiben. Im Exil wird der Ethnozentrismus zu einem Phänomen der Vergangenheit – und zu einem Phänomen der Gefährdung.

Jahwe ist zwar – so die alten Bekenntnisformeln – Gott Abrahams, Isaak und Jakobs, der Gott Israels, lässt sich aber nicht einhegen oder domestizieren. Zu beachten ist allerdings, dass die Tora als Licht der Völker verstanden wird.

Das Knecht-Gottes-Lied ist ein Lied auf Vorrat. Es ist eiserne Reserve, Quelle der Inspiration und ein Lied voller Hoffnung. Gegen alle Geschichtsklitterungen, „neue Fakten“ und dem unseligen Pessimismus, der nichts verändern will, nichts verändern kann. „Licht der Heiden“ heißt: „Licht der Völker“! Sie geraten ins Licht. Sie sehen Licht.

Der These, Jesaja habe von Jesus geredet, werden wir aus vielerlei Gründen nicht folgen können, hermeneutisch auch kaum zu rechtfertigen wissen, aber dass Jesus sich – so die Evangelien – in dieser Figur des Knechtes Gottes „erfüllt“ sieht, gehört auslegungs- und wirkungsgeschichtlich zu den aufregendsten und belangreichsten Einsichten biblischer und nachbiblischer Re-Lecture.

An diesem Sonntag werden wir Christus verkündigen als den, den „du (Herr) bereitest hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“ (Luk. 2,31f.). Die Cantica am Anfang des Lukas-Evangeliums rahmen nicht nur die Geburtsgeschichte Jesu, sondern sind basso continuo des Evangeliums. Lieder, die im Resonanzraum des AT (Crüsemann) gesungen und gesummt werden. Im Christushymnus (Phil. 2,5-11) wird schon in einer Frühform der Christologie von der Knechtsgestalt gesprochen, die Jesus angenommen hat. Jesus ent-äußert sich selbst. Im Prolog des Johannes-Evangeliums schließlich ist „im Anfang das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott…“ (Joh. 1).

Homiletisch ist es reizvoll, die Geschichte Gottes in einem Klangraum zu hören, der tatsächlich keine Grenze mehr kennt und braucht. Wir erzählen von Babylon, schauen in Jerusalem vorbei und kommen endlich in unserer eigenen Kirche, an unserem Ort, an. In unserem Gottesdienst teilen, verkünden und besingen wir die Freude, dass Gottes Heil tatsächlich bis an die Enden der Erde kommt. Und das nicht unter Konditionen oder mit Vorbehalten.

In einer globalen bzw. globalisierten Welt sind die Enden der Erde virtuell zumindest aufgehoben, aber in der Predigt (und in den Fürbitten) werden wir Grenzen und „Enden“ wahr-zunehmen haben. Wer über Licht predigt, predigt auch über Dunkelheit, sieht sie aber durchbrochen, geteilt und ausgerichtet.

Neben Kommentaren und Wörterbüchern habe ich Anregungen erhalten von Siegfried Bergler in den Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Berlin 2017, 340-346.

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