“Wenn der Himmel sich öffnet …”

Aus der Enge in die Freiheit

Predigttext: Markus 7,31-37
Kirche / Ort: 26721 Emden
Datum: 23.08.2015
Kirchenjahr: 12. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Dipl.-Theol. Pfarrerin Christiane Borchers

Predigttext: Markus 7,31-37 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm:Hefata!, das heißt:Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Homiletische und exegetische Vorüberlegungen

Ein typisches Merkmal aus dem Leben Jesu sind seine Heilungsgeschichten. Wir haben Schwierigkeiten, an die Wunder- und Heilungen zu glauben, die von Jesus erzählt werden. Die Menschen z.Zt. Jesu hatten diese Probleme nicht. Für sie stand außer Frage, dass Wunderheilungen möglich seien. Jesus hat zuvor die Tochter einer syrophönizischen Frau gesund gemacht. Er hat sich von Israel aus gesehen im Ausland aufgehalten. Jetzt ist er in Galiläa und trifft auf einen Taubstummen. Jesus wird hier als ein Heiler beschrieben, der körperlich schwer arbeitet. Er fasst in die Ohren und berührt die Zunge mit Speichel. Mit Speichel zu heilen, war üblich. Auf mich wirkt das abstoßend. Zu der körperlichen kräftigen Berührung kommt ein machtvolles Wort: „Hephata“ „Öffne dich, tu dich auf". Jesus spricht diese Worte zu dem Taubstummen. Ich beziehe die Worte sowohl auf den Taubstummen als auch auf den Himmel. „Jesus sah auf zum Himmel ….. und sprach zu ihm“ (V34). Wo der Himmel sich auftut, stehen Himmel und Erde in Kontakt.

Die Heilung geschieht sofort. Die schnelle Heilung erhöht die Wirkmächtigkeit Jesu. Jesu Seufzen ist ein Seufzen über die unerlöste Welt. Mit der Heilung des Taubstummen ist exemplarisch die Heilszeit angebrochen. Jesus gebietet den Umstehenden, zu niemandem darüber zu reden. Es ist eine Binsenweisheit, dass eine Botschaft sich erst recht verbreitet, je mehr sie unter ein Schweigegebot gestellt wird. Die Heilungsgeschichte ende mit einem Gotteslob. Anklänge an Jesaja 35,5-6 und 61,1 werden deutlich.

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„Öffne dich, tut dich auf!“ Ach wenn Gabriele das doch könnte! Sie ist in sich gekehrt, verschlossen und todunglücklich. Sie fühlt sich so allein. Sie hat niemanden, mit dem sie sprechen kann. Es ist merkwürdig, ihr ist es nicht gelungen, eine Freundin oder einen Freund zu finden. Die alten Familienmuster holen sie stets wieder ein. Der Vater hat sie dafür verantwortlich gemacht, dass seine Ehe gescheitert ist. Warum, weiß sie nicht. Die Mutter hüllt sich in Schweigen. Der Vater hat sich ihr gegenüber verachtend verhalten. Früher schon als Kind, jetzt auch noch, wo sie längst erwachsen ist. Sie sei schuld, dass die Mutter nichts mehr von ihm wissen wollte. Er will nicht, dass seine Tochter Erfolg hat, er macht sie und ihre Leistungen nieder. Er kann es nicht leiden, dass sie einen angesehenen Beruf ausübt. Sie macht ihre Arbeit. Die schafft sie auch, sie wird den Anforderungen gerecht. Sie wirkt auf die anderen kühl, dabei ist ihre Distanziertheit nur eine Schutzfassade, die sie sich aufgebaut hat, um zu überleben. Die Angst steckt tief in ihr drin, zu versagen. Sie ist höchst angespannt, muss wichtige Entscheidungen allein treffen. Die Kollegen sind nicht freundlich zu ihr, gehen manchmal ziemlich respektlos mit ihr um bis auf Meike. Aber die verlässt in Kürze die Arbeitsstelle. Die hat ihre Zeit absolviert. Gabriele beneidet sie. Wenn sie doch erst die vorgeschriebene Pflichtzeit beendet hätte. Gabriele kämpft um jeden Tag, verlangt von sich selber, dass sie durchhält. Sie hat kaum Zeit für sich. Obwohl sie die so dringend nötig hätte, um sich zu erholen, Kontakte aufzubauen, Kraft zu schöpfen. Abends wenn sie im Bett liegt und nicht schlafen kann, ist sie völlig verzweifelt. Voller Angst blickt sie dem nächsten Arbeitstag entgegen. Welche Gemeinheiten wohl morgen auf sie warten. Die Angst lässt sie nicht in den Schlaf kommen. Und wenn sie dann doch eingeschlafen ist, wacht sie bald wieder auf. Sofort sind die quälenden Gedanken wieder da. Sie ist fest in sich verkapselt.

Wo ist ein Weg aus der Enge in die Freiheit? „Öffne dich, tu dich auf“. Der Himmel öffnet sich für den Taubstummen, den Jesus heilt. Der Taubstumme hat keine Kraft mehr. Er ist nicht zu Jesus gegangen, als der sich in seiner Nähe aufhält. Freunde oder Familienmitglieder bringen ihn zu Jesus, der Taubstumme bleibt völlig passiv. Er ist handlungsunfähig, hängt sich nicht an Jesus heran, bedrängt ihn nicht, ihn zu heilen. Die, die ihn bringen, bitten Jesus, dass er diesen Menschen heilen möge. Der Taubstumme lässt es mit sich geschehen. Er weigert sich nicht, tut aber auch nichts aktiv dafür, dass Jesus ihn heilt. Er wartet ab. Er wird seine Gründe haben. Zu viele Hoffnungen will er sich nicht machen. So manches Mal ist er enttäuscht worden. Zu viele Wunderheiler haben ihre Dienste angeboten, aber Nichts hat bisher geholfen. Seine Ohren sind nicht geöffnet, seine Stimme ist weiter stumm. Er möchte nicht immer von neuem enttäuscht werden. Mehr Enttäuschungen verträgt er nicht.

Als der Taubstumme Jesus begegnet, erlebt er das Wunder seines Lebens. Jesus wendet sich ihm zu. Der Taubstumme ist nicht länger eine Randfigur, er steht im Mittelpunkt des Geschehens. Alle Augen sind auf ihn gerichtet und auf das, was jetzt geschieht. Gespannt verfolgen die Umstehenden, was Jesus macht. Der legt dem Taubstummen die Finger in die Ohren, anschießend berührt er seine Zunge mit Speichel. Er berührt die Stellen, die verschlossen und gebunden sind. Dann blickt er zum Himmel, seufzt und spricht die Worte: „Öffne dich, tut dich auf“. Zur körperlichen Heilungshandlung kommt das gesprochene Wort. „Öffne dich“, diese Worte sind an den Kranken gerichtet. „Öffne dich“, diese Worte erreichen auch den Himmel. Wenn der Himmel sich öffnet, ist Heilung möglich. Wenn der Kranke sich öffnet für das, was der Himmel mit ihm machen möchte, kann Heilung geschehen. Die Ohren des Taubstummen tun sich plötzlich auf, die Fessel seiner Zunge löst sich. Er kann richtig reden. Vorher hat er manchmal ein Glucksen herausbekommen, jetzt kann er die Laute richtig sagen. Der Taubstumme hat ein Wunder erlebt. „Wunder geschehen, ich habs gesehen“, singt Nena.

Der Himmel tut sich auf. Eine Heilung erzwingen kann niemand, aber die Hoffnung darf ich behalten, dass Verschlossenes sich öffnet. Es kann sein, dass ich eine neue Sichtweise bekomme, die ich vorher nicht gehabt habe. Sie eröffnet mir Möglichkeiten, die ich zuvor nicht gesehen habe. „Öffne dich” – Worte Jesu beziehen sich nicht nur auf die Ohren des Taubstummen. Der ganze Mensch ist angesprochen: Öffne dich, lass die Gnade Gottes in dich hineinfließen. Öffne dich für die Welt und für die Menschen, die um dich sind. Sie sind dir vielleicht mehr zugeneigt, als du vermutest. Öffne dich für Menschen, die dein Mitgefühl und dein Verständnis brauchen. Sie zeigen dir neue Wege und bringen dich weiter. Öffne dich für Erlebnisse, die dein Herz erfreuen und dich aufbauen. Achte sie nicht zu gering und lass die Dinge nicht so groß werden, die dein Herz beschweren. Öffne dich für Erlebnisse und Begegnungen, die dir gut tun. Suche die Menschen, die dir zum Segen werden, damit du selbst Segen sein kannst.

Jesus seufzt, als er zum Himmel aufsieht und heilt. Warum macht er das? Hat er Mitleid mit einem taubstummen Menschen? Strengt das Öffnen der Ohren so an? Ist er erschöpft von den vielen Heilungen und braucht selbst Kraft und Erneuerung? Jesus seufzt über die unerlöste Kreatur. Obwohl Gott die Schöpfung wunderbar gemacht hat und alles seinen Sinn und seine Ordnung hat, gibt es viel Leid und große Not. Die von Gott gegebene Freiheit zu unterscheiden zwischen gut und böse wird missbraucht. Das meiste Unglück ist von den Menschen selbst gemacht. Kriege, Zerstörung, Ausbeutung der Erde und der Tiere, Unterdrückung von Menschen, Gewalt und Terror sind Menschenwerk. Selbst körperliche Behinderungen haben oft genug menschliche Ursachen. In Indien und im Iran wird Frauen heißes Öl ins Gesicht gegossen, weil sie in der Familie, in die hereingeheiratet hat, unerwünscht sind oder weil sie sich nicht so verhalten haben, wie der Mann es will.

In armen Bevölkerungsschichten z.B. in Indien, Asien oder Afrika sind zahlreiche Menschen blind. Vielen könnte mit der modernen Medizin geholfen werden. Aber den Betroffenen fehlt das Geld. Bekannt und erfolgreich arbeitet die Christoffel-Blinden-Mission. Engagierte Ärzte arbeiten dort ehrenamtlich, können vielen das Augenlicht wieder gegeben durch eine einfache Operation. Wo keine Operation möglich ist, unterhält die Christoffel-Blinden-Mission Schulen, damit die behinderten Menschen gefördert werden und sie aus der Isolation herausgeholt werden. Körperliche Behinderungen gehen oftmals einher mit Vereinsamung und Schuldgefühlen.

Jesus seufzt über die kranke Welt, die sich nach Heilung sehnt. Er ist gekommen, um gesund zu machen, was krank ist, um zu heilen, was zerbrochen ist, um zu erlösen, was erlösungsbedürftig ist. Bei seiner Geburt hat sich der Himmel aufgetan. Mitten in der Nacht bricht der Himmel auf. Ein helles Licht leuchtet in der Dunkelheit. Die Engel verkünden den Hirten auf den Feldern von Bethlehem eine große Freude: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Der Heiland kommt in die Welt. Er bringt Heil und Segen. Die Welt sehnt sich nach Heilung. Wer krank ist, möchte gesund werden. Wer Angst hat, möchte befreit werden. Wer ohne Hoffnung ist, möchte wieder Hoffnung haben. Wer stumm ist, möchte reden, wer taub ist, möchte hören. Wer lahm ist, möchte gehen können.

„Öffne dich, tu dich auf“ Der Himmel hat sich über unseren Taubstumme in der biblischen Geschichte geöffnet, dem Taubstummen sind seine Zunge gelöst und seine Ohren geöffnet worden. Nun muss er sich selbst für das Neue öffnen, das auf ihn zukommt. Sein Leben wird sich radikal verändern. Jetzt kann er sich nicht mehr vom Betteln ernähren, jetzt muss er sein Leben selbst in die Hand nehmen und sich eine andere Verdienstmöglichkeit schaffen. Jetzt kann er hören und die Laute richtig sagen. Bald wird er auch sprechen lernen. Er hört und spricht, kann sich jetzt bald vollständig in Worten mitteilen, nicht nur über Gesten. Seine Einsamkeit wird sich auflösen, er hat größeren Kontakt mit der Welt bekommen, die Isolation ist zu Ende. Nicht nur für den ehemals Taubstummen verändert sich sein Leben, auch für seine Familie bleibt es nicht so, wie es war. Die Familie muss sich umstellen, muss auf die Einnahmequelle eines Behinderten verzichten, muss neu lernen, mit ihm umzugehen als einem Menschen, der sein Recht fordert und volle Gemeinschaft mit ihnen haben möchte.

Die Umstehenden, die dieses Heilungswunder miterlebt haben, brechen in Lob und Jubel über Jesus aus: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend”. Messianische Heilsworte klingen an: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen und Armen wird das Evangelium verkündet“ (Mt 11,5). Wenn sich solches erfüllt, ist das Reich Gottes angebrochen. Die Sehnsucht nach Heilung ist groß und alt. Die Propheten verkünden den Messias, auf den das Volk Israel so sehnsüchtig wartet. Die gesamte Kreatur wartet auf Erlösung. Wenn Gott kommt, bricht die große Heilszeit an. Was gebunden ist, wird frei, zerbrochene Herzen heilen. Die Erlösten werden Schmuck statt Asche tragen; die Trauerkleider dürfen sie gegen Festtagskleider tauschen. Die betrübte Seele lebt auf. Heller Lobgesang erklingt: „Meine Seele ist fröhlich, denn Gott hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet“ (Jes 61,10).

Mit Jesus ist das Reich Gottes angebrochen. Der Taubstumme, der geheilt worden ist, erlebt die Neuschöpfung stellvertretend für die gesamte Kreatur. Endgültig erlebt die gesamte Kreatur Neuschöpfung im Reich Gottes. „Gott hat alles wohl gemacht“, preist die umstehende Menge. Manchmal erleben wir in der brüchigen Welt schon jetzt ein Stück vom Himmelreich. Manchmal öffnet sich der Himmel über uns und wir öffnen uns ihm. Wir fühlen uns verbunden. Wir sind mit uns und anderen im Reinen, haben Menschen an unserer Seite, auf die wir uns verlassen können und die zu uns stehen. Wir sind erfüllt von einer tiefen Lebensfreude. Das gibt es aber auch, dass Menschen unglücklich sind, verzweifelt und allein. „Öffne dich, tu dich auf“. Möge Gott zu diesen Menschen kommen und ihnen Menschen senden, die ihnen helfen, den Himmel zu sehen. Wo der Himmel sich auftut und Menschen sich öffnen, leuchtet die helle Gnadensonne.

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Ein Kommentar zu ““Wenn der Himmel sich öffnet …”

  1. Pastor Heinz Rußmann

    Seit Eugen Drewermann versteht man die Heilungs-Geschichten als psychosomatische Heilungen. Ein persönliches Beispiel: Eine sehr agressive Ehefrau sagte mir beim Geburtstagsbesuch zum hohen Geburtstag: “Mein Mann kann weder hören noch sprechen. Nur wenn am Wochenende seine liebe Tochter kommt, dann unterhält er sich längere Zeit mit ihr”. Pfarrerin Borchers berichtet zu Beginn Ähnliches: Gabi´s Komunikation ist gestört und unheil. Nur mit Meike kann sie sprechen und ist voll Sorgen und schlaflos. Jesus heilt den Taubstummen durch seine Zuwendung. Er redet nicht gleich auf ihn ein. Er verstopft ihm spielerisch wie bei einem Kind die Ohren mit seinen Fingern. Wie meine liebevolle Mutter mir als Kind mit ihrer Spucke Schmutz und Blut nach einem Fahrrad-Sturz weggewischt hat, ähnlich zärtlich symbolisch berührt Jesus die Zunge des Kranken mit seiner Spucke. Er sagt dazu “Öffne Dich!” und schaut hilfesuchend zum Himmel. Sehr schön und eindringlich überträgt die Pfarrerin diese Bitte, dass Menschen sich öffnen. Zum Schluss weist sie auf die Christoffel-Blinden-Mission hin und kommt dann, dem Text folgend, auf das Lob Gottes zu sprechen: “Denn wo der Himmel sich auftut und Menschen sich für Jesus öffnen, leuchtet die helle Gnadensonne”. Eine warmherzige und seelsorgliche Predigt, welche das Thema sehr lebensnah aktualisiert.

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