In dieser Geschichte aus dem Johannesevangelium bekommen wir vor Augen gemalt, wie freundlich Jesus zu einem Menschen ist, der schuldig wurde. Eine Frau wurde beim Ehebruch ergriffen. Als man in der frühen Kirche das Neue Testament zusammenstellte, hat man mit dieser Geschichte Mühe gehabt. Im griechischen Neuen Testament ist sie eingeklammert; es gibt Handschriften, da taucht sie im Lukasevangelium auf (21,38). Man muss sich wohl gefragt haben: Ging Jesus mit seiner Barmherzigkeit gegenüber den Menschen nicht zu weit? Aber gehen wir der biblischen Geschichte entlang, in der Jesus so geschildert wird wie sonst nirgends. Viele Ausleger sagen: So war Jesus! So hat er gehandelt, und so hat er geredet. Genauso! So fühlt er gegenüber uns, gerade wenn wir einen großen Fehler gemacht haben, wenn wir vor unserem Leben wie vor einem Scherbenhaufen stehen. Jesus ist zusammen mit seinen Jüngern auf dem Laubhüttenfest in Jerusalem. In der Nacht schlafen sie am Ölberg. In der Frühe des Morgens kommen sie zurück zum Tempel. Bald ist Jesus von vielen Menschen umringt. Er setzt sich ganz frei unter sie und lehrt. Es dauert nicht lange, da gibt es Unruhe. Menschen aus der Führungsschicht des jüdischen Volkes, Schriftgelehrte und Pharisäer, stürmen herbei und bringen Bewegung in diese versammelte Schar. Sie treiben eine Frau vor sich her, stellen sie mitten in die Menschenmenge, zeigen mit den Fingern auf sie und rufen erregt: „Meister, diese Frau wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen“. Wie giftige Pfeile sind die Finger der Männer auf die Frau gerichtet. Richtig aufgebracht stoßen sie heraus: „Was sagst du dazu?“
Niemand von uns kann dies heute lesen, ohne zu denken: ‚Wo ist denn eigentlich der Mann? Zu einem Ehebruch gehören doch immer zwei! Hat der sich aus dem Staube gemacht? Oder wagte man nicht, ihn so zur Rechenschaft zu ziehen, weil er in der Gesellschaft eine unangefochtene Stellung hat? Ist es recht, nur die Frau, die schwächere, so bloß zu stellen?’ Aber auch über das Andere muss man nachdenken: Die Person, die diese Jesusgeschichte zum ersten Mal aufgeschrieben hat, fügt hinzu: „Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten“. Diesen Männern aus der Führungsschicht der Juden geht es nicht nur um das Gesetz des Moses und um den dort festgeschriebenen Willen Gottes. Es geht ihnen auch nicht nur um die Frau, die einen schlimmen Fehler gemacht hat. Faktisch will man einen Schauprozess, bei dem das Urteil über Jesus feststeht. Denn sie lauern seit langem darauf, etwas gegen Jesus in der Hand zu haben, um ihn verurteilen zu können. So war der ganze aufgeregte Aufmarsch hier am Laubhüttenfest eine Falle. Entweder soll sich Jesus klar zu den althergebrachten Geboten des Moses stellen, sie hier und jetzt bei dieser Frau anwenden und damit zeigen, dass Barmherzigkeit seine Grenzen haben muss. Dann müsste Jesus bei einem Todesurteil mitmachen. Dann würde Jesus die römische Besatzungsmacht provozieren, die sich Todesurteile selbst vorbehalten hat. Oder Jesus würde sich endgültig als ein Freund der Sünder und Zöllner, als ein Fresser und Weinsäufer, als ein Gesetzesbrecher und Gesetzesverächter offenbaren. Endlich würde Jesus bei dem Volk, das sich immer neu um ihn sammelt, in Misskredit kommen. So lange lauern die angesehenen Kreise in Jerusalem schon Jesus wegen seiner Barmherzigkeit auf. Jetzt will man ihn endlich packen und fertig machen.
Mehrmals müssen diese gut gekleideten und sprachlich gewandten Männer nachgehakt und auf Jesus eingeredet haben. Da geschieht etwas Eigenartiges. Jesus geht in die Hocke; es wird still um ihn; viele können ihn jetzt gar nicht mehr sehen; er blickt hinein in den Staub der Straße; und er schreibt etwas mit seinem Finger auf den Boden. Keiner weiß, was. Dann schaut er auf, sieht die Männer an, die sich um ihn aufgebaut haben und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“. Wieder schaut er vor sich nieder und schreibt. Nun ist es ganz still. Dieser eine Satz, dieser Rechtsentscheid Jesu, ergeht so laut und so klar, dass alle Umstehenden ihn gehört haben. Früher, damals in Galiläa bei der großen Rede auf dem Berg, hatte Jesus schon gesagt: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“. Wer ist dann in allem, was Ehe und Ehescheidung betrifft, ohne Schuld? Jesus hat durch einen Satz diese Männer dazu gebracht, über sich selbst nachzudenken und an die eigene Brust zu schlagen. Nun gehen sie einer nach dem anderen davon, den Kopf nach unten gesenkt. Da kniet einer in ihrer Mitte auf der Erde und durchschaut sie völlig. In aller Stille geschieht hier „Jüngstes Gericht“. Jesus steht für Gottes Gerechtigkeit und für die Barmherzigkeit Gottes in gleicher Weise gerade. Es ist das eindeutige Zeugnis des Neuen Testamentes, dass Jesus Gott gehorsam war, ohne je gesündigt zu haben. Er war, ist und bleibt ohne Sünde. Jesus hätte als einziger den Stein werfen und so das Gericht über die Frau ausüben können. Aber er ist auch „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (Johannes 1,29). Auf Golgatha stirbt Jesus für die Sünde der Welt, auch für die Schuld dieser Frau, die hier als Ehebrecherin vor ihn gebracht wurde und schon damit rechnete, dass die Steine fliegen. Nein, Ehebruch, ein Seitensprung, ist für Jesus nicht etwas, was verheiratete Menschen bei ihrem Partner verkraften müssen, ein Kavaliersdelikt, den unsere Familien, unsere Kirchengemeinden und unsere Gesellschaft einfach so dulden sollten. Es ist schlimm, wenn Menschen in Amt und Würden, die öffentliche Meinung und die so einflussreiche Medienwelt so tun, als gäbe es Gründe, darüber hinweg zu sehen.
Bei jener Frau damals am Laubhüttenfest in Jerusalem richtet sich Jesus jetzt auf und fragt sie: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?“ Noch selbst fast schüchtern antwortet die Frau, und sie kann es selbst noch nicht fassen: „Niemand, Herr“. Dann sagt Jesus den Satz, der in einer unglaublichen Kraft seine Freundlichkeit und Barmherzigkeit gegenüber einem in Schuld geratenen und über sich selbst erschütterten Menschen sagt: „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige nicht mehr“. Sie darf ganz neu anfangen.