Wer ist Jesus? In meiner privaten Bibliothek fand ich nicht weniger als 28 Bücher über jenen Menschen aus Nazareth in Galiläa, vier größere Artikel in renommierten Zeitschriften, in denen der Name sogar auf der Titelseite genannt ist, und eine DVD. Ich nenne einige Buchtitel der letzten 70 Jahre:
Jesus –
Jesus von Nazareth –
Was wissen wir von Jesus? –
Wer war Jesus von Nazareth? –
Wer war Jesus wirklich? –
Wer ist und wer war Jesus Christus? –
Das Bild von Jesus, dem Christus –
Jesus unser Schicksal –
Bruder Jesus –
Jesus war ganz anders …
I.
Wer ist Jesus für Dich? Was würdest Du mir antworten, wenn ich diese Frage jetzt direkt an Dich stellen würde, auch an Dich, die Konfirmandin und den Konfirmanden? Würdest Du zusammenzucken und denken: Hoffentlich muss ich nicht antworten? Oder wärst Du sofort bereit zu antworten, vielleicht Deinen Glauben an Jesus zu bekennen?
Wer ist Jesus, wer ist Gott? Das ist die zentrale Frage unserer Glaubensgemeinschaft, unserer Kirche. Welche Vorstellung von Jesus und seiner Gotteslehre habe ich, was prägt mich in Glauben und Leben, in meinem alltäglichen Umgang mit anderen Menschen und in meinem Handeln?
Im heutigen Predigttext beschreibt der Evangelist Matthäus eine Art Selbstdarstellung von Jesus. Hören wir aus dem 10. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus, die Verse 34 bis 39, in der Übersetzung nach Martin Luther:
34 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. 36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. 38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. – Gott, segne unser Hören. Amen.
II.
Hätte jede und jeder unter uns Jesus so beschrieben, wie der Evangelist Matthäus es uns weitergibt? – Jesus sagt hier nicht, dass er der liebende Helfer, Retter, „Heiland“ oder Frieden Bringende ist.
Irritiert uns Jesus nicht, wenn er sagt, er bringe nicht den Frieden, sondern im Gegenteil das Schwert? Scharf wie ein Schwert fahren solche Worte in unsere Jesusvorstellungen.
Das konnte offensichtlich Jesus: die Sache genau auf den Punkt bringen, scharf erkennen, was nötig ist, und Überflüssiges oder Fehlgeleitetes vom Eigentlichen trennen.
Der Nazarener hatte die Menschen um sich herum, ihr Leben mit allen Facetten im Blick. Es war ihm nicht fremd, wonach sie sich sehnten, und er wusste um ihre Freuden und Nöte. Der Marien- und Josephssohn half, legte die heiligen Schriften aus, lehrte und heilte. Seine Jünger und Jüngerinnen folgten seinem Ruf. Sie gaben ihr altes Leben auf, um mit ihm zu den Menschen in den entlegensten Orten zu gehen und ihnen das Reich Gottes zu verkündigen. Immer mehr Menschen hörten das Evangelium als gute heilsame Botschafts – und dann solch eine verstörende Rede.
III.
Der Galiläer muss genau hingeschaut haben. Er nahm Zustimmung und Zweifel in seiner Umgebung wahr, das Miteinander und Gegeneinander der Menschen, den Streit um die rechte Lehre und Auslegung der Bibel. Seine unbedingten Worte spricht er im Zusammenhang von Berufung und Nachfolge (Matthäus 10-11). „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“ (10,16) – „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“ (10,32) – „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf“ (10,40).
„Des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein“ (10,36). Jesus veranschaulicht seine Worte am Beispiel der Familie. Auch seine eigene Familie liegt im Streit mit ihm und seinem öffentlichen Wirken.
Welch ein Glück, wenn Familie ein Ort ist, an dem ich mich angenommen, verstanden und geliebt fühle, Schutz, Harmonie und Frieden erlebe. Weil Jesus um dieses Bedürfnis nach guten Familienbeziehungen weiß, nutzt er es als Bild für die Verbindung zwischen ihm und den Menschen, die er in seine Nachfolge beruft.
IV.
Irgendwann erfährt jede Familie Auseinandersetzungen oder Brüche. Mensch gegen Vater. Nur Martin Luther hat den ursprünglichen griechischen Wortlaut mit „Mensch“ übersetzt, in den meisten anderen Übersetzungen steht „Sohn“ gegen Vater. Das ist bemerkenswert, denn es geht weiter „Mutter gegen Tochter“, „Schwiegermutter gegen Schwiegertochter“. Mit „Sohn gegen Vater“ ist die einheitliche Ebene gewahrt, und „Schwiegervater gegen Schwiegersohn“ kann noch mitgedacht werden. Diese Aufzählung zeigt die Breite der möglichen Konflikte, sie lassen sich im Kern zusammenfassen in „alt gegen jung“, „jung gegen alt“, Lebens- und Glaubenserfahrungen gegen Unerfahrenheit.
Martin Luther hat mit seiner Übersetzung „Mensch gegen Vater“ die Worte Jesu noch in einen weiteren Horizont gestellt, wie sie vielleicht auch zu hören sind. Wir sind Kinder Gottes, wenn wir Jesus folgen und uns nicht als Menschen gegen Gott richten, der uns Vater und Mutter und noch viel mehr ist.
V.
Schauen wir in unsere eigene Lebenswelt. Jede Tochter, jeder Sohn muss, um ein eigenständiger Mensch zu werden, die Eltern einmal verlassen, was oft mehr schmerzhaft für Eltern ist. Obwohl wir darum wissen, läuft diese Trennung, das Loslassen der Eltern und das Weggehen der Kinder nicht immer friedlich ab. Da gibt es Auseinandersetzungen um Werte, „Prioritäten“, darum, das Richtige zu tun, um Freiheit und Bindung durch Liebe, und das Ringen um Verständigung.
Einander zuhören fällt nicht leicht, schnell wird geurteilt und verurteilt. Familiäre Verbindungen zerschlagen, wie mit einem Schwert gekappt und abgeschnitten. Für junge Menschen wird manchmal nur auf solch schmerzliche Art und Weise der Weg frei, um einen eigenen Weg zu finden, neue Bindungen einzugehen, die für sie Zukunft eröffnen. Für Eltern bedeutet es, abzugeben, los zu lassen und mitzuhelfen, dass Alles gut wird.
Es stimmt, wir leben in einer Welt mit vielen Brüchen und mit vielen Kreuzen. Jesus weist klar und deutlich darauf hin: Wer mir nachfolgen, zu mir und der großen Familie der Christen und Christinnen gehören will, dem verspreche ich keine problemlose Welt. Ich erspare ihm kein Leid. Das Leben wird für Dich in meiner Nähe nicht einfacher. Aber ich verspreche Dir etwas: „Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden“, so die Übersetzung nach Martin Luther. In der Übersetzung „Hoffnung für alle“ lauten Jesu Worte: „Wer sich an sein Leben klammert, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben für mich aufgibt, der wird es für immer gewinnen“.
VI.
Jesus lebte sein Leben in der Hingabe für andere Menschen. Der etwa 28-Jährige geht in das Haus des Zöllners, einer in der Gesellschaft damals verachteten Person. Der auf Gottes Namen von Johannes Getaufte wendet sich den Menschen zu, die wegen Krankheit oder ihrer Lebensweise ausgestoßen wurden. Für ihn gibt es keinen hoffnungslosen Fall. Der mit dem Geist Gottes Beschenkte spricht den Verzagten Mut zu. „Gott von ganzem Herzen lieben und den Nächsten wie dich selbst“ (Matthäus 22,37f.) – diesem höchsten, größten und wichtigsten Gebot weiß er sich verpflichtet und lebt es wie niemand sonst. Sein Name bedeutet: Gott hilft, rettet, heilt.
„Wer sein Leben findet, sich an sein Leben klammert, der wird es verlieren …“ (V. 39). Jesu Worte bleiben eine Herausforderung. Mit ihm gehen, heißt „zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten“ (Matthäus 6,33), heißt „Leid tragen“ (5,4), sich nicht mit aller Gewalt durchsetzen, “das Böse mit Gutem überwinden” (Römer 12,21, Wochenspruch), „sein Kreuz auf sich nehmen“ (Matthäus 10,38). Jesu Worte dulden kein halbes Christsein, kein „sowohl als auch“.
Anhand der Bildrede vom Schwert unterscheidet Jesus radikal zwischen Menschenwelt und Gotteswelt. Wir können die beunruhigte Frage der Seinen verstehen: „Ja, wer kann dann selig werden?“ (Matthäus 19,26). Um so mehr gilt es, darum wie in einer Familie zu ringen, auf das Wesentliche im Glauben und Leben zu besinnen, auf Jesu Lehre und seine Art zu leben zu achten, an jedem neuen Tag.
VII.
Was werden wir heute von den einschneidenden Worten Jesu mitnehmen? Wer war Jesus von Nazareth, und vor allem: Wer ist dieser Jesus für Dich, für mich? Jeder neue Tag kann zu einer anderen Antwort führen. Seien wir dafür offen, lassen uns überraschen. Jesus lebt, und er spricht auch heute noch zu uns. Sein Wort ist wie „das Wort Gottes lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ (Hebräer 4,12), es kann weh tun, schmerzhaft in unser Innerstes durchdringen wie ein Schwerthieb und uns zu heilsamer Veränderung unseres Lebens rufen.
Stets lernbereit werden wir dann nicht hilflos zusammenzucken, wenn wir danach gefragt werden, wer Jesus heute für uns ist. Wir werden neue Erkenntnisse und Sichtweisen zulassen, als Zugewinn zu wahrem Leben.
Albert Schweitzers berühmtes Jesusbuch (aus dem Jahre 1906) mündet in die offenen Worte (S. 642): „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagte dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und diejenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“
„Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus“ (Philipper 4,7, Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017).