Vor etwa 50 Jahren schrieb und sang der Liedermacher Wolf Biermann in seinem Hölderlin-Lied die Zeile: „In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge im eigenen Haus“. Da war er ein hoch überwachter Bürger der DDR. Zwei Jahre später - am 16.11.1976 - wird er nach einem Konzert in Köln aus der DDR ausgebürgert. Sein späterer Kommentar: Das Ausbürgern wird sich einbürgern.
Fremd im eigenen Haus mag für die Juden im babylonischen Exil vor 2500 Jahren ein Grundgefühl gewesen sein. Wie kommen wir in dieser neuen „Heimat“ zurecht? Fern vom Tempel in Jerusalem. Fern von Palästina?
Wie mögen sich Menschen fühlen, die aus fernen Ländern zu uns nach Deutschland geflohen sind, sich eine bessere Zukunft erhofft haben und hier bei uns nicht selten auf unüberbrückbare Probleme stoßen?
Aber fremd fühlen sich auch viele Menschen, die in unserem Lande wohnen, die sich zurückziehen und vereinsamen, sodass sogar die Politik heute nach Möglichkeiten sucht, diese Menschen wieder ins gesellschaftliche Leben zu führen.
Die Israeliten haben sich damals ihrer Traditionen erinnert. Sie haben die heiligen Texte der Bibel aufgeschrieben, haben ihre gottesdienstlichen Rituale gepflegt und die Synagoge (oder Knesset) als Ort der Begegnung begründet. Die Frage hat sie umgetrieben, warum Gott auf sie zornig ist. Denn das musste er doch sein - warum sonst das Exil? Wie begegnen wir dem Zorn Gottes? Wie gehen wir mit ihm um? Die Propheten wie z.B. Jeremia haben sich an dieser Frage abgearbeitet.
Menschen, die am heutigen Totensonntag ihrer Verstorbenen gedenken, mögen ähnlich fragen: Warum musste ein guter Freund sterben? Warum wurde der Partner von Gott „abgerufen“, wie wir sagen? Ist das gerecht? Und der Gedanke, dass wir unter dem Zorn Gottes stehen, ist für manche leidvoll spürbar.
Unser heutiger Predigttext, der Psalm 90, ist von Juden formuliert, die unter dem „Zorn Gottes“ leiden und die Urfrage stellen: Warum? Und: Wie lange noch? Hören wir die Worte dieses großen Gebets:
(Lesung des Predigttextes)
Lasst uns nachdenken über drei Dinge:
1. Der Beter bittet Gott: Kehr um! (V 13)
2. Vom Zorn Gottes oder der Frage: Warum hast du uns verlassen?
3. Gott bittet den Menschen: Kehr um! (V 3)
1. Der Beter bittet Gott: Kehr um!
Diese Bitte, dieser Schrei spricht mich in der Tiefe an. Wie groß muss die Not des Menschen sein, wenn er Ihn, den Allmächtigen, bittet, umzukehren, sich umzuwenden, uns Menschen entgegenzukommen. Denn es passt so gar nicht in das Bild eines Gottes, der allmächtig ist, der diese Welt in seinen Händen hält, der längst weiss, was wir wollen, ehe wir einen Gedanken gefasst haben. Glauben wir nicht an einen Gott, der unwandelbar ist, stabil und ewig, der über allem thront, unberührt von den kleinlichen Sorgen der Menschen?
Aber hier spricht ein Mensch, hier spricht eine Gemeinde, ruft ein Volk, das Volk Israel in der Verbannung und stellt sich Ihm in den Weg, fordert Ihn heraus, etwas zu tun. Vielleicht ist es das Gefühl, ist es die Erkenntnis, dass unsere technischen und religiösen Möglichkeiten begrenzt sind. Die damaligen Juden waren sich ihrer Ohnmacht den weltlichen Herrschern gegenüber bewusst. Sie versuchten, sich anzupassen an die Gepflogenheiten der jeweiligen Länder - und spürten, dass sie in der Gefahr waren, Gott zu verlieren. Wo bist Du Gott? Warum zeigst Du Dich nicht? Warum hast Du uns verlassen? Wie lange noch willst Du Dich verbergen? Zeige Dich! Wende Dich uns zu! Und sei uns gnädig! Wir, Deine Geschöpfe, können nicht mehr. Es ist wie bei einem Liebesverhältnis, wo einer plötzlich spürt, dass er den anderen braucht, um wieder vollständig zu werden. Wie kommen wir wieder mit dem Andern ins Gespräch, der verstummt ist und schweigt?
2. Vom Zorn Gottes oder der Frage: Warum hast Du uns verlassen?
Dies mag das Gefühl eines Menschen sein, der einen Angehörigen verloren hat und der über den Verlust trauert. Ein Teil von ihm ist mit dem Verstorbenen weggegangen. Warum hat Gott das zugelassen, fragen wir. Es ist ein Gefühl, als ob Gott zornig wäre und uns bestrafen will. Der Mensch fühlt sich ausgestoßen, verflucht, wie in eine babylonische Gefangenschaft geführt. So haben die Juden die Katastrophe der Wegführung nach Babylon „mit dem Theologumenon der Zornesglut JHWHs“ verstanden (Janssen 165). Krankheit und Leid werden von uns als Zeichen des Fluchs gesehen und nicht des Segens. Denn Segen lässt wachsen, groß und reich werden. Kinderzahl und Herden wachsen. Aber Schmerzen - körperliche wie auch seelische müssen ein Hinweis auf Strafe sein. So denken wir Menschen.
Es setzen Gedanken ein: Wie leben wir richtig? Was sollten wir anders machen, damit Gott uns gnädig ist? Wir wollen und können nicht in einer Atmosphäre des Zorns leben - weder bei einem (geliebten) Menschen noch bei Gott. Warum hast du uns verlassen? fragen wir Gott - auch wenn ein lieber Angehöriger gestorben ist. Manchmal kommen Menschen zum Nachdenken, wenn die Not am Größten ist, wenn sie ganz unten sind, wenn es keinen Ausweg mittels irgendwelcher Tricks gibt. Und doch sind wir in der tiefsten Not manchmal ganz nahe an Ihm dran, dem zornigen Gott, der doch „auch im Zorn an seiner Beziehung zu seinem Volk festhält, an seinem Volk leidet (2 Chr 36,15f), aber dessen Gott ist und bleibt“ (Janssen 335).
3. Gott sagt und bittet den Menschen: Kehr um! (V 3)
Ist dies nicht eine großartige Wendung von Gott, dass er dem Menschen, uns, zutraut, sich umzudrehen, umzuwenden, eine neue Richtung einzuschlagen? Vielleicht verbirgt sich hinter dem Zorn Gottes eine menschliche Entwicklung zur Großartigkeit, zu einer Unabhängigkeit, die ihn von seinem Urgrund abzieht. Vielleicht gibt es eine Selbständigkeit, eine Autonomie, die uns von Menschen wie auch von Gott entfernt. Und es entsteht ein Sund, ein Abstand, eine Trennung, eine Abnabelung vom Andern. Und es gibt keine Referenz mehr, kein Maß, kein Ziel, kein Sinn.
Der Mensch wird zu einem homo incurvatus in se, einem Menschen, der in sich selbst gerollt ist, in sich verkrümmt. So hat Martin Luther den Menschen und die Sünde beschrieben. Der Mensch ist nicht mehr erreichbar. Und dann kommt die Urfrage Gottes an uns: Wo bist du, Adam? Kehr um, Mensch! Zum Menschen, wie ihn Gott gemeint hat. Aber wie hat er ihn gemeint? Wir Menschen habe ja ein unglaubliches Bedürfnis nach Unabhängigkeit, nach Freiheit von allen Banden und Fesseln, nach Selbstbestimmung, Autonomie. Was ist daran schlecht? Gott hat uns die Kreativität, Gaben und Begabungen in die Wiege gelegt, die Fähigkeit, zu dichten, zu komponieren, zu malen, zu arbeiten, zu lieben, zu hoffen. Und es entstehen göttliche Werke, die für die Ewigkeit gemacht sind.
Wir Menschen wollen nicht vergessen werden, wenn wir nicht mehr sind. Wollen wenigstens ein kleines Werklein hinterlassen. Und doch gibt es manchmal das Gefühl, Gott wäre uns nicht gnädig, wäre nicht mit uns. Unser Leben wäre letztlich nur ein „Geschwätz“ (V 9), ein Traum (V 5), eine schöne aufwachsende Pflanze, die abends verdorrt (V 5).
Vielleicht ist es schon eine „Umkehr“, wenn wir bedenken, dass wir nicht ewig leben und dass wir „unsre Tage zählen“, wie es unser Psalmist in V 12 sagt. Damit würden wir „weise“ werden. Und das ist kein anderes Wort als: sich bewusst werden über das Leben, das uns geschenkt ist - von unseren Eltern, von Gott. Vielleicht ist es schon ein Umkehren, wenn wir Menschen alles, was geschieht, das Schöne und Gute wie auch das Hässliche und Schlechte in das Leuchten Seines Angesichts (V 8) stellen. Der jüdische Theologe Samuel Raphael Hirsch übersetzt Vers 8: Du hattest unsere Verkehrtheiten dir gegenüber gestellt, den in uns schlummernden Kern vor die Leuchte deines Angesichts.
Dies gilt es zu beherzigen, wenn wir den Eindruck haben, dass Gott „Nachtjahrhunderte … über uns kommen“ gelassen habe, in denen „das in uns Verborgene, das Bessere in uns, das nicht zur Entfaltung, nicht zur Erscheinung“ gekommene nicht von Gott gesehen sei. Aber all dies weiss und sieht Er und freut sich, wenn wir uns Ihm zuwenden. Zu unserem Wohl. Und damit bekommen wir ein neues Verständnis unserer Lebenszeit. Wir leben und handeln, lieben und hoffen im Lichte Gottes. Und so wird, was wir tun, gelingen unter der „Freundlichkeit/Liebe unseres Gottes“ (V 17). Und wenn wir uns wie Fremdlinge im eigenen Land vorkommen, so ist doch Gott über uns mit seinem Licht. Und wir werden ein Segen für diese Welt.