“Wo ist dein Bruder, deine Schwester?”

Einander zu einem Leben helfen, wie Gott es gewollt und Jesus von Nazareth es uns gelehrt hat

Predigttext: 1. Mose / Genesis 4,1-16
Kirche / Ort: Mauritiuskirche / Leimen b. Heidelberg
Datum: 02.09.2012
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: 1. Mose / Genesis 4,1-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.  2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.  3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes.  4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer,  5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.  6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?  7 Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.  8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.  9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?  10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.  11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.  12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.  13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte.  14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet.  15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.  16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Hinweis

Ich lese den (langen) Predigttext nicht, da ich ihn in der Predigt nacherzähle.

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(Hinweis: Ich lese den (langen) Predigttext nicht, da ich ihn in der Predigt nacherzähle.)

Die biblische Geschichte von Kain und Abel auf  den ersten Seiten der Bibel ist heute der Predigttext. Die Meisten von uns kennen diese Geschichte, wie Kain so wütend über seinen Bruder wird, dass er ihn totschlägt. Ich war drauf und dran, heute am Tauftag meines Enkelsohnes über eine etwas angenehmere Bibelstelle zu predigen und mit Ihnen/Euch darüber nachzudenken, eine Bibelstelle, in der es z. B. um ein friedliches Zusammenleben geht. Aber dann entschied ich mich doch für den sperrigen Bibeltext. Denn ich dachte: Werden unsere Kinder und Enkelkinder nicht in eine Welt hineingeboren, die auch diese furchterregende Seite hat, die bis zum Brudermord, zum Schwestermord, führen kann? Diese dunkle Seite darf ich, dürfen wir alle, doch nicht ausklammern. Die biblische Geschichte von Kain und Abel beschreibt Menschenhandeln und Versagen, aber auch Gottes überraschendes Handeln. Darauf möchte ich mit Ihnen/Euch hören.

I.

Zwei Söhne werden Eva (der „Mutter alles Lebendigen“, 1.Mose 3,20) und Adam (dem „Menschen“ schlechthin, dem „Erdverbundenen“, „Erdling“) geboren, Kain und Abel. Die Brüder wachsen gemeinsam auf. Sehr schnell werden wir durch ihre Berufe darauf aufmerksam gemacht, wie unterschiedlich sich die Kinder entwickelt haben. Das kennen Eltern, das kennen Geschwister. Heutzutage begrüßen wir es, wenn ein Kind seinen  ganz persönlichen und beruflichen Weg findet. Wir wollen unsere Kinder dabei unterstützen und ihnen ermöglichen, ihre Gaben und Fähigkeiten zu entfalten.

Zu Kain: Wer einen Garten hat, wer Gärtner oder Landwirt ist, weiß, wie Kains Arbeit  zwischen Saat und Ernte etwa aussah. Er musste ein Talent für die richtige Auswahl der Pflanzen haben, musste wissen, wo der richtige Standort für eine Pflanze ist, wie viel Wasser sie braucht und noch Vieles mehr. Eine gute Ernte war eine Garantie für das Überleben, und das war seine Verantwortung gegenüber seiner Familie. Kain hatte Grund, sich darüber zu freuen und stolz darauf zu sein, auch Gott dafür zu danken, dass alles gedeihen konnte, denn für ihn (und das Empfinden der damaligen Zeit) war eine gute Ernte ein Segen Gottes.  Kain wird die Natur geliebt haben, die Erde und was er ihr entlocken konnte. Er hatte das Talent dafür, und es war wie ein Geschenk Gottes.

Abel muss ganz anders gewesen sein. Er war kein „Schollenmensch“, er liebte bestimmt das Umherstreifen in der Landschaft, seine Tiere und den Umgang mit ihnen. Abel trug eine ganz andere Verantwortung als Kain, er musste seine Herde vor wilden Tieren schützen, vor Abgründen und davor, dass sie verloren gehen. Wenn die Herde sich vermehrt hatte, die Tiere gut genährt waren, dann sicherte Abel damit das Auskommen und Wohlergehen seiner Familie. Auch er hatte wie sein Bruder Grund, sich darüber zu freuen, darauf stolz zu sein und Gott dafür zu danken, denn für ihn (und das Empfinden der damaligen Zeit) war eine wachsende und wohlgenährte Herde ebenso ein Segen Gottes. Auch Abel hatte wie sein Bruder Talent, und es war wie ein Geschenk Gottes.

II.

Jede und jeder von uns möge sich fragen: Womit trage ich zum Wohlergehen der Menschen bei, mit denen ich zusammen lebe, in meiner Familie und der weltweiten Menschenfamilie? Welche Talente wurden mir von Gott in die Wiege gelegt? – Stille —

Jeder und jede möge sich fragen: Habe ich schon einmal für diese Gabe und die Arbeit, meine Arbeitsstelle, gedankt, Gott gedankt, so richtig von Herzen gesagt: Schau, das alles kostet mich viel Mühe, viel Zeit und ist auch nicht immer angenehm, trotz meiner Gaben und Fähigkeiten, aber ich danke Dir, Gott.

Erinnern wir uns: Hat sich bei Dir schon einmal jemand bedankt? Dann haben wir empfunden: Dank ist wie ein Lob, wie Anerkennung, und wir freuen uns darüber. Wir brauchen Zeichen des Dankes, solche Gesten beflügeln und bestätigen uns.

Dies trifft ebenso auf die beiden Brüder Kain und Abel zu. Die Gefühle wären nicht anders, wären es Schwestern. Kain und Abel danken Gott mit einem Opfer für den guten Ertrag, so wie es damals üblich war. Es bedeutete: Schau, Gott, die Frucht meiner Arbeit. Schau, Gott, das Ergebnis meines Bemühens, meinen Beitrag für ein gutes Leben. Ich bringe Dir ein schönes Teil davon und danke Dir damit für Deinen Segen.

III.

Doch da geschieht das Unverständliche. Gott ist anscheinend nur an Abels Opfergabe interessiert. Kain reagiert ganz neidisch. Er gerät in Wut, und sie kocht in ihm hoch. Er senkt seinen Kopf und starrt auf den Boden, nimmt nichts mehr um sich herum wahr. Sogar Gott kann nicht mehr zu ihm vordringen und sein Herz erreichen, als er ihn fragte: ,Warum senkst Du deinen Kopf und starrst auf den Boden?’

Ob Kain von solchen Gedanken getrieben wurde wie: Wieso nicht ich? Wieso mein Bruder? Wie ich ihn hasse! Was macht er denn besser als ich? Habe ich mir nicht alle Mühe gegeben? Lebt er doch auch von dem, was ich mühsam angebaut und geerntet habe.

Gott sagt weiter zu Kain, denn Gott hat sich ihm schon längst zugewandt und hat erkannt, was sich in Kain zusammenbraut (V. 7): ‚Ists nicht so? Wenn du gut handelst, so kannst du frei aufschauen. Handelst du aber nicht gut, so lauert die Sünde, die Bosheit, vor deiner Tür. Du aber kämpfe gegen sie an, gib ihnen keine Macht über dich, sondern herrsche über sie’.

IV.

Aber Kain geht trotzdem auf seinen Bruder los und – Gott sei es geklagt – tötet ihn. Leider töten Menschen einander bis heute. Wie Kain verlieren wir Menschen die Beherrschung und öffnen so dem Bösen die Tür, dem Fehlverhalten, das die Bibel Sünde nennt, und das Unheil bringt. Wir Menschen können bösartig sein, gierig, wir können Rachegefühle zeigen und sie ausleben, auch wenn uns unser Verstand und unser Verantwortungsempfinden etwas Anderes sagen. Verstand hat etwas mit verstehen zu tun. Kain aber – sollen wir jetzt sagen: der Mensch – hat gar nichts verstanden. Verantwortung hat mit antworten zu tun. Kain aber hat nicht das Gespräch mit seinem Bruder, seinem Nächsten, seinem Mitmenschen, gesucht.

Abel hatte Kain doch gar nichts getan, er war vollkommen unschuldig. Gott war es doch, der Abels Opfer wohlwollend schaute. Konnte denn Abel Gott etwas vorschreiben? Bestimmt nicht. Kain hätte seinen ganzen Kummer, seinen Neid, mit Gott verhandeln können, Gott sogar seine Enttäuschung, auch seine Wut entgegen schleudern können – und Kain hätte sich mit Abel freuen können. Die Geschichte wäre gut ausgegangen.

Dass unschuldige Menschen Opfer einer unkontrollierten Wut werden, erleben wir leider bis heute. Es vergeht wohl kein Tag, ohne dass ein Mensch durch einen anderen Menschen Schaden erleidet. Menschen, unserer Schwestern und Brüder, erleben durch körperliche Gewalt tödliche Angst und  Demütigung, durch eine gewalttätige Sprache den Verlust ihrer Würde, und sie verlieren ihren Mut und ihr Selbstvertrauen. Durch vergiftenden Neid stirbt die Toleranz und durch Hass die Zuwendung und Liebe.  Es gibt viele solche „Tode“, viel zu viele, einer ist schon zuviel.

V.

„Wo ist dein Bruder Abel“, fragt Gott Kain, als Gott das Unheil nicht mehr stoppen konnte. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, antwortet Kain. Klingt in seiner Antwort nicht ein gewisser Sarkasmus an? Denn aus der Hebräischen Bibel wörtlich übersetzt lautet sie so: Bin ich ein Hüter/Hirt meines Bruders? Der biblische Erzähler lässt Gott Kain weiter fragen: „Was hast du getan?“ und bringt damit das ganze Entsetzen Gottes zum Ausdruck.

Das Überraschende an der biblischen Geschichte – und damit das eigentlich Ermutigende für uns – ist: Gott lässt die Rache, die Blutrache, nicht zu. Vor Gott gilt nicht das „Wie du mir, so ich dir“ im bösen Sinn. Aber dennoch: Nichts bleibt so, wie es war. Kain muss gehen, weg von dem Angesicht Gottes, und er bleibt vor Gott und seinen Mitmenschen verantwortlich für das, was er getan hat. Gleichzeitig macht Gott ein Zeichen der Bewahrung an Kain (wir wissen nicht, wie es aussah und wo es angebracht war; war es eine bei den “Kenitern” eine üblische Tätowierun g?). Gott  gibt Gott Kain eine Chance, sie ist auch die unsrige: Fange neu an. Werde zum Hüter, zur Hüterin, deines Bruders, deiner Schwester. Gehe behutsam mit deinem Nächsten um, nimm ihn in Schutz, begleite ihn, sei für ihn da. Kommt miteinander aus. Unterstützt euch gegenseitig. Helft einander zu einem Leben, wie Gott es gewollt und wie Jesus von Nazareth es uns zu leben gelehrt hat.  Jesus hat die Nächstenliebe und die Gottesliebe das höchste, das wichtigste, Gebot genannt. Dieses Gebot verhindert solch schlimme Katastrophen, die sich Menschen zufügen. Liebe lehren und lernen wir, indem wir sie spürbar weitergegeben, auch dann, wenn es uns fast unmöglich erscheint.

„Soll ich meines Bruders, meiner Schwester, Hüter sein?“ – Ja, du sollst. Bitte. Gott hat dich schon längst unter seinen Schutz genommen. Du hast von ihm die Kraft, Hüterin und Hüter in der Menschenfamilie zu sein. Gott segnet dich und behütet dich.

 

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Ein Kommentar zu ““Wo ist dein Bruder, deine Schwester?”

  1. Gerhard Leiser

    Sie wollten nicht aktueller sein? – 1.September 1939, Syrien, Todesstrafe, Bundeswehr in Afghanistan, Breivik oder den kürzlichen Mord (und Selbstmord) von 5 in Karlsruhe? – Aber vielleicht habeh Sie das in den Fürbitten getan. Tschechien, Polen, Slowakei war der Vorschlag des ÖKR für diese Woche…

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