Wunden heilen
Fasten, das einem anderen Menschen hilft
Predigttext: Jesaja 58,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
1Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!
2Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei.
3»Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
4Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
5Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat?
6Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. 9Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
(Eigene Übersetzung, Christoph Kühne)
1 Ruf mit lauter Kehle, halte nicht ein! Wie ein Schofar erheb deine Stimme, und zeige meinem Volk ihre Missetat an und dem Hause Jakob ihre Sünden!
2 Mich suchen sie täglich. Die Erkenntnis meiner Wege habt ihr gern - wie ein Volk, das gute Taten getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hat. Sie fordern von mir Satzungen der guten Taten; die Nähe Gottes haben sie gern.
3 „Warum fasten wir, und du beachtest es nicht, demütigen unsere Seelen, und du willst es nicht wissen?“ Seht - am Tag eures Fastens findet ihr Gefallen, doch alle eure Schulden treibt ihr ein.
4 Seht: Zu Streit und Gerauf fastet ihr und schlagt mit der Faust der Bosheit. Nicht fastet ihr heute, um in der Höhe eure Stimme hören zu lassen.
5 Ist dies ein Fasten, das ich erwähle, ein Tag, da ein Mensch seine Seele demütigt, dass er wie eine Binse sein Haupt niederbeugt und sich auf Trauergewand und Asche hinlegt? Nennst du dies ein Fasten und einen Tag des Wohlgefallens für Gott?
6 Also: Ist nicht das ein Fasten, das ich erwähle: Öffnen der ungerechten Fesseln, Sprengen der Banden eines Jochs und Loslassen der Geknickten als Freie. Und alle Jochstangen sollt ihr zertrümmern!
7 Also: Brich dem Hungrigen dein Brot, und herumgestoßene Heimatlose bring ins Haus! Siehst du einen Nackten, dann bedecke ihn, und vor deinem Fleisch verbirg dich nicht!
8 Dann bricht hervor wie die Morgenröte dein Licht, und deine Wunde wird schnell verheilen! Dann gehen vor dir her deine guten Taten. Die Herrlichkeit von IHVH sammelt dich ein.
9 Dann rufst du, und Gott wird dir antworten, du rufst um Hilfe, und er spricht: Ich bin hier.
Erste Gedanken beim Lesen des Predigttextes
Wer ist als Rufer gemeint? Ich, der Lesende? Ein alttestamentlicher Prophet? Kann ich mir anmaßen, meinen Mitmenschen Abtrünnigkeit von Gott vorzuwerfen? Das nächste ist kaum zu fassen: Menschen suchen Gott „täglich und begehren Meine Wege zu wissen“. Ich kenne niemanden, der so lebt. Geschweige denn, dass jemand Gott gefallen will - z.B. durch Fasten.
Ist es nicht anders: Menschen leben eine „doppelte Buchführung“: einerseits fasten sie und andererseits unterdrücken sie Andere. Und dann der Aufruf: Fasten heisst: Menschen befreien zum Leben: Miteinander essen; Obdachlose in die eigene Familie eingliedern; und Nackte einkleiden. Dann wird es licht - wie beim ersten Schöpfungstag. Dann wird ein Mensch gesund. Dann lebt der Mensch richtig, von Gott „gekrönt“.
Anmerkungen zum Predigttext
605 vor Chr - im 4. Regierungsjahr Jojakims von Juda - schlägt Babylons Kronprinz Nebukadnezar den ägyptischen Pharao Echo bei Karkemisch am Euphrat. Juda gerät unter babylonischen Einfluss. Die Gefahr, die Freiheit zu verlieren, ist groß. Die Judäer rufen einen Fasttag aus. Ein Jahr zuvor musste der Prophet Jeremia auf Gottes Geheiss alle seine Reden aufschreiben. Diese Prophetenrolle war nicht zur Erbauung sondern zur aufrüttelnden Mahnung bestimmt. Der Sekretär Jeremias liest dem königlichen Sekretär und später den Fürsten die Reden von Jr vor. Die Zuhörer sind erschüttert, weil sie merken, dass hier die Wahrheit verkündigt wird. Anders reagiert der König Jojakim. Er lässt sich die Prophetenrolle des Jeremia vorlesen. Wenn sich der König 3 oder 4 Kolumnen angehört hat, „greift er zum scharfen „Messer des Schreibers“, trennt den Text von der Rolle und wirft ihn ins Feuer, das - zur winterlichen Zeit, im 9. Monat (= Dezember) - im Kohlenbecken brennt“ (Gradwol 294).
Wer ist der Adressat von Js 58,1-9? Vermutlich ist die Mahnrede an die Jerusalemer Kultgemeinde gerichtet. Nach Js 58,12 liesse sich die Prophetie auf die Zeit zwischen der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und dem Wiederaufbau der Stadt durch Nehemia datieren.
Wer ist der Autor der Perikope? Tritojesaja (Js 56-66) ist keine Prophetenpersönlichkeit (im Unterschied zu Deuterojesaja), sondern eine Sammlung von Stücken aus verschiedenen Jahrhunderten: z.B. Sammlungen in der Art der Gottesknechtslieder (60-62), der Drohrede (56,9-57,21) oder auch der Bußliturgie (63,7-65,25).
Psalm 31
Evangelium: Mk 8,31-38
Lieder
"Brich mit dem Hungrigen dein Brot" (EG 420)
"Gott ist gegenwärtig" (165)
Literatur
Roland Gradwol, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, 3. Aufl. 2002.
Auch an diesem Sonntag kommen wir nicht an Corona vorbei. Zu tief sind die Einschnitte, die diese Pandemie bei uns hinterlassen hat. Man mag sich kaum vorstellen, wie eine Zeit nach Corona aussieht. Werden wir wieder in Urlaub fliegen, uns umarmen und ins unverdeckte Gesicht blicken? Werden die Kinder und Heranwachsenden wieder Nähe und Anfassen geniessen wollen, werden sie sich trauen, mit Freunden zusammen zu sein und einfach mal zu verreisen? Doch planen ist in unseren Zeiten nicht mehr möglich. Wir leben von der Hand in den Mund …
Diese trübseligen Gedanken sind der Hintergrund für unseren Predigttext. Es ist der Ruf eines Unbekannten, der ein wenig an den Propheten Jeremia erinnert. Die Situation der Hörer von Jesaja 58, 1-9 ist Jerusalem 600 vor Christus. Der babylonische Kronprinz Nebukadnezar hat in einer großen Schlacht den Pharao von Ägypten geschlagen und damit seinen Einfluss auf die ganze Region ausgeweitet. Auch das Südreich von Israel ist von der neuen Situation betroffen. Die Gefahr, die Freiheit zu verlieren, ist dauernd gegenwärtig. Die Judäer rufen einen Fastentag aus, einen Buß– und Bettag. Wird Gott ihnen helfen? In diese Zeit ergeht ein Ruf an die Menschen.
(Lesung des Predigttextes)
Ich bleibe an dem Satz hängen (aus Vers 8): „Und deine Wunde wird schnell verheilen“. Ich stelle mir die Menschen damals vor – mit ihrer Angst vor der fremden Macht, vor neuen Verordnungen, neuen Machthabern. Und ich denke an die Menschen heute – mit ihrer Angst vor der fremden Macht jenes Virus, vor neuen und noch verschärfteren Regeln, vor neuen „Machthabern“ in Gestalt von Virologen, Wissenschaftlern und Politikern. „Und deine Wunde wird schnell verheilen“ruft uns der Prophet zu. Ist das nicht die Hoffnung von vielen von uns? Ist es nicht diese Gute Nachricht, die uns (gelegentlich) in die Kirche und zu den Predigten führt? Man möchte mit dem Psalmisten des heutigen Tages rufen (Ps 31): Esto mihi! „Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!“ Doch können wir heute so beten, klagen und hoffen? Vielleicht helfen uns drei Gedanken aus dem Predigttext heute weiter:
1. Fasten heute gegen unerträgliche Angst, 2. Wie finden wir einen neuen Umgang miteinander?, 3. Die Hoffnung: „Und deine Wunde wird schnell verheilen“
1.
Fasten heute
600vC wurde in Juda, dem gerade noch existierenden Südreich von Israel – das Nordreich wurde bereits 722 vor Christus von den Assyrern nach Babylonien deportiert! – ein Fasten ausgerufen. Die Menschen haben nach Gottes Geboten gefragt. Wenn wir alles richtig machen, muss uns Gott doch aus unserer Misere herausholen. Ein magisches Verständnis von Gott?
Was tun wir heute? Wir halten die verordneten Regeln ein, korrigieren uns gegenseitig („Halten Sie doch bitte ein bisschen mehr Abstand!“) und kommunizieren per WhatsApp oder Zoom. Aber damals wie heute haben wir den Erfolg nicht in der Hand. Zuwiderhandelnde werden heute sanktioniert. Damals wie heute ist die Angst groß vor Ansteckung. Und Mutationen des Virus vernageln alle Aussichten auf einen guten Ausgang der Pandemie.
Menschen fragen, was das Einhalten der Regeln wirklich bringt. Können wir das Corona-Virus wirklich durch flächendeckendes Impfen besiegen? Mit den Gedanken unseres Predigttextes: Können wir Gott durch unser Fasten erreichen? Können Buß– und Bettage weiteres Leid abwenden?
2.
Neuer Umgang miteinander?
Der prophetische Rufer unseres Predigttextes klagt nicht nur an und benennt unsere Schwächen. Er sagt auch, worin ein Fasten besteht, „das ich – Gott – erwähle“:
Öffnen der ungerechten Fesseln, Sprengen der Bande eines Jochs und Loslassen der Geknickten als Freie! Und alle Jochstangen sollt ihr zertrümmern! Also: Brich dem Hungrigen dein Brot, und herumgestoßene Heimatlose bring ins Haus! Siehst du einen Nackten, dann bedecke ihn! Und vor deinem Fleisch verbirg dich nicht!
Vielleicht können wir einmal überlegen, wo wir Menschen „unters Joch“ nehmen. Vielleicht entmündigt schon ein gut gemeinter Rat einen Menschen. Vielleicht geht es um die Begleitung eines Menschen, der seine Arbeitsstelle verloren hat oder seinen Laden oder der zuhause beim Homeoffice wahnsinnig wird, weil ihm die Kontakte mit den Kollegen fehlen. Vielleicht geht es um die Kinder, die per homeschooling unterrichtet werden und deren Eltern bei den Hausaufgaben nicht mehr helfen können. Vielleicht geht es darum, sich anrühren zu lassen von einem Menschen, der bis ins Innerste erschüttert ist von dem Verlust seiner Zukunftsperspektive. Oder vielleicht sind regelmäßige Telefongespräche – vielleicht auch Zoom-Kontakte – hilfreich, dass der Andere wenigstens meine Stimme hört und aussprechen kann, was er sich sonst nicht getraut.
3.
Hoffnung
Und es wird licht. Eine neue Welt entsteht, und Freude und Hoffnung breiten sich aus. Wunderschön die Vision: „Dann bricht hervor wie die Morgenröte dein Licht.“ Wie haben die Jerusalemer damals reagiert? Ungläubig? Wie reagieren wir heute auf eine solche Vision? Jesaja ruft uns zu, dass „deine Wunde … rasch verheilen (wird)“. Ja, „es geht vor dir her dein gutes Tun“, ruft er. Wir Menschen hören zu, sprechen miteinander und wir verstehen uns. Und dann das Bild, das wir kaum fassen können in seiner Schönheit: „Die Herrlichkeit Gottes sammelt dich ein“. Gott selber sorgt dafür, dass niemand zurückbleibt – ob geimpft oder nicht, möchte man heute hinzufügen. Gott führt uns hinaus in die Freiheit, ins Leben. Und damit nicht genug: „Dann rufst du, und Gott wird antworten, dann rufst du um Hilfe, und er antwortet: Ich bin hier.“ Und so werden wir wieder gesund. Alle Wunden heilen. Das Leid ist überstanden.
Es ist ein großer Ruf des Propheten auch an uns. Noch sehen wir keinen Ausgang. Noch sehen wir kein Licht. Noch sind uns Hoffen und Planen fremd. Aber der Prophet blickt mit den Augen Gottes und will uns Mut machen. Wir können die Gestalt von Jesus Christus erkennen, der bei den Menschen war. Und diese Gegenwart hat Menschen gerettet, hat sie wieder gehen lassen, hat ihnen geholfen, die Augen zu öffnen. Ja, er hat Tote und Menschen, die sich aufgegeben haben, wieder ins Leben geleitet. Und diese Menschen haben ihre Freude weitergegeben. Sie haben Andere mit ihrer Freude angesteckt, weil sie „in Christus“ leben. Dass wir uns von diesem Virus der Freude anstecken lassen, dass wünsche ich uns allen!
In hoffnungsarmer Corona-Zeit , in der immer neue Varianten der Gefahr auftauchen, begründet Pastor Kühne entschieden Mut und Hoffnung aus Glauben . Es ermutigt uns aktuell, diese Predigt und ihre Botschaft zu lesen ! Wie schön , dass es sie gibt !