»Glaubst du vielleicht an Wunder?« – so fragen wir, wenn uns etwas ganz und gar unwahrscheinlich erscheint. Oder wir sagen: »Da müsste schon ein Wunder geschehen«, wenn wir überhaupt keine Hoffnung mehr sehen. Dass Wunder geschehen, damit rechnen wir eigentlich nicht... auch, wenn wir es uns manchmal vielleicht wünschen.
I
Im 3. Kapitel seiner Apostelgeschichte berichtet Lukas von einem Menschen, der in seinem Leben auch kein Wunder erwartet – und doch eines erlebt. Ich lese die Verse 1-10.
(Lesung des Predigttextes)
In welcher Figur dieser Geschichte finden Sie sich selbst am ehesten wieder? Fühlen Sie sich dem Gelähmten nahe, etwas erlebt, womit er niemals gerechnet hätte? Oder sehen Sie sich auf der Seite von Petrus und Johannes, die ihm geholfen haben? Oder erkennen Sie sich in den Zuschauern wieder, die das alles zufällig miterleben?
Ich möchte das Wunder, das Lukas hier beschreibt, noch einmal aus diesen drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Beginnen wir mit der Gruppe der anderen Tempelbesucher. Sie reagieren eher erschreckt als erfreut: »Das kann doch nicht sein«, »So etwas gibt es doch gar nicht«. Aber es ist zweifellos der Bettler, der sonst am Schönen Tor sitzt, der jetzt im Tempel herumläuft und betet und Gott lobt.
Ich glaube, manche von ihnen waren misstrauisch, und hielten die ganze Sache für einen Trick oder einen Betrug. Andere sagten sich: »Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung, vielleicht waren irgendwelche Nerven eingeklemmt und sind plötzlich frei gekommen«. Wieder andere rechneten schon damit, dass Gott Wunder wirken kann ... Aber sollten wirklich diese beiden Männer aus der Provinz Galiläa, von denen noch nie jemand etwas gehört hatte, über göttliche Kräfte verfügen?
Was genau geschehen war, konnten die Leute damals im Tempel nicht sagen. Sie waren zwar dabei gewesen, aber niemand hatte auf den Bettler und die beiden Fremden besonders beachtet. Den entscheidenden Moment hatten nur der Gelähmte und Petrus und Johannes erlebt.
Wie sah es nun aus der Sicht des Gelähmten aus? Er war seit Geburt behindert. Im folgenden Kapitel erfahren wir, dass er 40 Jahre alt war. Er kannte kein anderes Leben. Er konnte keinen Beruf ausüben, aber sein Stammplatz an der Schönen Pforte sicherte ihm das Überleben. Familie und Freunde brachten ihn täglich dorthin. Ich glaube, er war nicht viel glücklicher oder unglücklicher als andere Menschen. Es gab in seinem Leben gute Tage und schlechte, Freuden und Sorgen. Mit seiner Behinderung konnte er leben. Doch es gab etwas, das ihn viel tiefer kränkte. Nämlich, dass er immer wieder ausgeschlossen war. Er war ja nicht dumm, er hatte seine Meinung, seine Hoffnungen und Gefühle, seinen Glauben. Er hatte ja viel Zeit zum Nachdenken, und auch dazu, die Menschen zu beobachten. Die Menschen, die in den Tempel gingen, gingen an ihm vorbei. Viele schauten zur Seite, und taten so, als sei er gar nicht da. Auch die, die ihm etwas Geld hinwarfen, liefen schnell weiter. Als ob das Gebet im Tempel ein dringender Termin sei, oder als ob er eine ansteckende Krankheit hätte.
II
Als nun Petrus und Johannes vor ihm stehen blieben, hörte er: »Schau her zu uns«. Eigenartig, was wollten sie von ihm? Wollten sie nachprüfen, ob er wirklich bedürftig war? Oder wollten sie ihm etwas zeigen? Hatten sie vielleicht etwas zu essen für ihn? Doch Petrus schaute ihn einfach nur an. Ihr Blicke begegneten sich und in den Augen dieses Menschen sah er: »Du bist einer von uns. Wir gehören zusammen«. Das tat ihm unendlich gut. Ob es dieser Blick war, der ihn heilte, oder die Worte, die Petrus sprach, oder der Händedruck - oder noch etwas ganz anderes – das konnte er hinterher auch nicht mehr sagen. Darauf kam es auch nicht an. Das Wichtigste war, dass er nicht mehr draußen vor der Tempeltür lag, sondern dass er mit hinein gehen und dort beten und singen konnte. Dass er nun überall dabei sein konnte: Beim Feiern und beim Arbeiten, dass er gehört wurde und gesehen, dass er ernst genommen wurde als der Mensch, der schon immer gewesen war.
Wenden wir uns schließlich Petrus zu. Er hatte in den Wochen zuvor ein Auf-und-ab erlebt, wie noch nie zuvor. Jesus hatte ihm immer besonders vertraut. Doch im entscheidenden Moment hatte er, Petrus, versagt. Er hatte Jesus Treue bis in den Tod versprochen und war dann eingeknickt. Aus Angst hatte er behauptet, ihn nicht zu kennen. Trotzdem war Jesus nach seiner Auferstehung auch ihm erschienen, und mit den anderen Jüngern und Jüngerinnen hatte er am Pfingsttag neue Kraft und Begeisterung gespürt. Die Angst und Verzagtheit war plötzlich von ihnen abgefallen. Petrus war zumute gewesen, als ob er aus einer dumpfen Betäubung erwache.
Die vielen Probleme waren immer noch da: Sie mussten weiterhin damit rechnen, verhaftet zu werden. Würden sie ohne Jesus genug Unterstützung bekommen? Sollten sie in Jerusalem bleiben oder woanders hin gehen? Aber jetzt ließ Petrus sich von der Angst und der Sorge nicht länger lähmen. Er fühlte sich wieder mit Jesus verbunden, und das gab ihm die Kraft zu handeln. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum er gerade auf den Gelähmten an der Tempelpforte zugegangen war: Er selbst war ja wie betäubt gewesen, und konnte nun wieder fühlen. Jesus hatte ihn aus seiner Erstarrung erlöst, das konnte er weitergeben. Kein Silber und Gold, nur diese Erfahrung: Jesus hatte sein Leben verwandelt, als er keine Hoffnung mehr hatte.
III
Was Petrus empfunden haben mag, als er dem Gelähmten die Hand reichte, ob er selbst erstaunt war über das, was geschah, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass er die Freude und das Glück des Geheilten geteilt hat.
Wo finden wir wieder in dieser Geschichte? Sind wir staunende oder kritische Beobachter des Wunders? Fühlen wir uns dem Gelähmten nahe, der nicht länger ausgeschlossen ist? Lassen wir uns von Petrus und Johannes ermutigen, dass wir unseren Glauben an andere Menschen weitergeben können, auch wenn wir uns eigentlich schwach fühlen?
Vielleicht haben wir alle drei Perspektiven schon erlebt. In jedem Fall gilt: Das Wunder geschieht dort, wo wir selbst verwandelt werden, wo Gott gegen unsere eigene Hoffnungslosigkeit etwas zum Guten wendet. Wenn wir damit rechnen, werden Wunder möglich.
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Kommentar von Pfarrerin Dorothea Zager:
Ich habe die Predigt von Pfarrer Dr. Hans-Christoph Meier im HPF mit großem Interesse gelesen.
Ich finde seine Ideen und Ausführung sehr gut. Aber in meiner Sicht ist es nur eine halbe Predigt. Denn da, wo er mit seiner Predigt endet, wird es ja erst spannend, und die Menschen wollen doch wissen, wie sie selbst nun damit umgehen sollen, sich als Gelähmter, als heilende Petrus und Johannes oder als stille Beobachter zu fühlen. Es fehlt die Konkretion: Nicht als Wundertäter sollen wir in dieser Welt auftreten, sondern als welche, die sich auf heilsame Weise in dieser Welt einbringen.
Dorothea Zager, Worms, 6.09.2025, dorothea.zager@yahoo.de