„Es war, als sei mit Opas Tod die Zeit für eine Weile stehen geblieben. Erst ein paar Wochen nach der Beerdigung hatte Bruno das Gefühl, die Zeit habe sich wieder in Bewegung gesetzt.“
Das ist ein Zitat aus einem Bilderbuch (Amelie Fried, Hat Opa einen Anzug an). „Es war, als sei mit Opas Tod die Zeit für eine Weile stehen geblieben.“ Damit spricht der kleine Bruno sicher ganz, ganz vielen aus dem Herzen. Es stirbt ein Mensch, und einem selbst bleibt die Zeit stehen. Es tritt so vieles zurück, wird unwichtig, rückt in die zweite oder gar zehnte Reihe. Termine, Verabredungen, Pläne, Verrichtungen, Handgriffe. Manches ist jetzt sinnlos. Der Besuch des Arztes, verabredet für den folgenden Tag – man muss ihm Bescheid geben, er braucht nicht mehr zu kommen. Die Reise im Sommer – gut, dass man noch kein Storno bezahlen muss. Der Brief, der eine größere Unterstützung der Pflegekasse zusagt. Man hätte ihn gern früher gehabt. Die Mail, die das Zimmer im Heim bestätigt. Jetzt wird in das Zimmer jemand anderes einziehen. All diese Nachrichten fallen aus der Zeit, brauchen keine Zeit mehr, keinen Platz, bedürfen nicht mehr des Nachdenkens.
Umso schmerzlicher für Viele, die von einem Todesfall betroffen sind, dass alles Andere um einen herum sich weiterdreht. Da ist ein naher Mensch gestorben, und wie immer wird das Essen aufgetragen, klingelt das Telefon wegen beruflicher Verpflichtungen, muss der Hund ausgeführt werden, gehen die Kinder zum Turnen, albern die Moderatoren im Radio. Nicht wenige empfinden es so: Es ist, als lebe man in einer Blase von Zeit, abgespalten von der Umwelt, oder auch umgekehrt, als habe die Umwelt sich unabhängig gemacht, als rase sie davon, während das eigene Empfinden doch beharrt: Das kann nicht sein! Der Tod hat doch den Ablauf zerbrochen. Hat man ein Bein gebrochen, sehen alle den Gips. Ist man erkältet, hören alle die belegte Stimme. Selbst ein banaler Schnupfen zeigt sich mit roter Nase. Hat man einen Menschen verloren, sehen uns das viele nicht an. Erscheint mir in der Trauer manches Gerede, manche Unterhaltung dann banal, flach und sinnlos, können nur wenige meine Reaktion richtig deuten. So leben wir aneinander vorbei, vielleicht durchaus auch aus Selbstschutz. Schließlich muss nicht jeder mitbekommen, wie es um mich steht. Umgekehrt: vielleicht hätte ich manchmal doch gern, dass der eine oder andere mich anspräche, dass doch öfter jemand zeigte, dass er verstanden hat, dass er wahrgenommen hat, wie es um mich steht, dass er bereit ist für ein Gespräch, wenn ich Zeichen dafür gebe. Es wird sonst so einsam. Doch viele haben eine gewisse Furcht vor solch einem Kontakt.
Vielen tut es gut, in der ersten Schockphase den einen oder anderen gewohnten Handgriff zu tun, nicht nachdenken zu müssen, eher zu funktionieren. Die Spülmaschine ausräumen. Die Zähne putzen. Das Brot holen. Die Post herein nehmen, auch wenn sie noch nichts zu tun hat mit dem Todesfall, noch nicht in Verbindung steht, noch nicht in Verbindung stehen kann mit dem Erschrecken, mit der Zerstörung der Zeit. Auch der Verfasser der Petrusbriefe, aus dessen Schreiben der Predigtabschnitt für den Sonntag heute stammt, befasst sich mit dem Thema Zeit. Mit den unterschiedlichen Zeitvorstellungen für Gott und für Menschen, er befasst sich mit Warten und Hoffen, mit Geduld und Ungeduld, mit Verheißung und Veränderung, mit Wandel und Beständigkeit. Hören wir ihn selbst, hören wir aus dem 2. Petrusbrief , Kapitel 3 die Verse 8 bis 13.
(Lesung des Predigttextes)
Es sind zum Teil Bilder, die erst einmal erschrecken. Gottes allumfassende Gegenwart: dass sie käme wie ein Dieb in der Nacht, plötzlich, unerwartet, fast heimlich. Und von Gottes Gegenwart ist die ganze Welt betroffen, alles vergeht auf ein Ende hin, die Zeit läuft ab und reißt die Welt mit sich, Himmel und Erde. Ein Richard Wagner könnte sich für die Götterdämmerung hier Anregung geholt haben. Alles läuft auf ein Ende zu. So vergehen Himmel und Erde, Götter und Mächte, nicht aber der Gott, der sich uns in Christus eröffnet, und die, auf die er die Hand legt. Mitten im Ende aller Zeiten, der schweren und schönen, Jahrtausende und einzelnen Tage, sieht der Petrusbrief Gott allein bestehen. Gott und die Seinen. Wir werden gerettet, wie durch Feuer hindurch, hat auch Paulus einmal geschrieben. Der Gedanke vom Purgatorium, vom Fegefeuer, hat sich daraus entwickelt, hat hier seinen Anhalt gefunden. Nicht, wie das meist fälschlich verstanden wird, als ein Ort der Hölle, des Schmerzes, sondern als ein Ort der Läuterung, einem letzten Innehalten, einer letzten Vorbereitung zur Ewigkeit, einer letzten Krisis, die ganz ausgerichtet ist darauf, hineinzuführen in Gottes Gegenwart, in seine Nähe, in seinen Arm.
Auch für Paulus war klar: Bestehen bleibt in solchem Feuer all das, worin wir jetzt schon ausgerichtet waren auf Gott. Bestehen bleibt, so die Worte des Petrusbriefes, von Gottes Gegenwart durchtränktes Handeln und Sein. So es heilig ist, heißt es im Petrusbrief. Erinnern wir uns: heilig ist, wozu Gott sagt: Du gehörst zu mir. Das allerwichtigste aber ist unserem Predigtabschnitt das Wörtchen Verheißung. Mit dem Wörtchen Verheißung springt der Petrusbriefschreiber über die zu Ende gehende Zeit hinaus, über diese Weltendämmerung, über alles, was sich verändert in einer polternden Folge von Ursache und Wirkung. Die Verheißung meint eine Rettung jenseits der Zeit und ihrer Vergänglichkeit, jenseits des Wandels, jenseits allen Endes. Eure Hoffnung richte sich auf die Verheißung, richte sich auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Eine neue Schöpfung. So verweist der Apostel seine Gemeinde auf ein Leben, das vom Wandel der Zeit nicht mehr betroffen ist. Ein Leben bei Gott, ein Leben mit Gott, ein Leben, das einem jeden und einer jeden und allen zusammen in vollem Umfang gerecht wird. Eine neue Schöpfung, in der Gerechtigkeit wohnt. Wenn wir aufhören zu hoffen, kommt, was wir befürchten, bestimmt, hat mir kürzlich bei einem Besuch ein Schwerkranker gesagt.
Unsere Hoffnung kann selbst angesichts begrenzter Zeit sehr unterschiedliche Facetten haben. Es gibt es die Hoffnung auf Gesundung. Auf Heilung. Es gibt Hoffnung, dass der morgige Tag schön werde, dass wir von Trennungsschmerz und Trauer verschont bleiben. Aber wir wissen auch immer, dass solche Hoffnung eingelöst werden kann oder eben auch nicht, dass sie auf festeren Füßen steht oder auf wackligen. Es gibt für solche Hoffnung keinen verlässlichen Zielpunkt innerhalb der Zeit, die uns gegeben ist, innerhalb unseres Lebens, das von Anfang an auf ein Ende zuläuft, von Beginn an seine Grenze in sich trägt. Der Apostel des Petrusbriefes schreibt von Verheißung, weil er der Hoffnung nicht nur einen defensiven Charakter geben will, nicht nur Abwehr, damit das, was wir fürchten, einstweilen noch nicht eintreffe. Einstweilen können wir Hoffnung haben, weil Gott Geduld hat. Geduld mit uns und Geduld für uns.Unsere Zeit, unsere Lebenszeit, wie lange oder kurz auch immer sie ist, ist uns geschenkt. Einstweilen können wir in aller Vorläufigkeit einüben, uns selbst und den anderen gerecht zu werden, Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, etwas aufscheinen zu lassen von Gottes Heiligkeit gerade jetzt, uns ausrichten und aufrichten zu lassen.
Zugleich lädt der Apostel ein, über unsere Welt hinaus zu denken. Hoffnung nicht an größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit festzumachen. Uns auf eine Verheißung zu beziehen, die nicht eingebunden ist in Ursache und Folge, in Entwicklung und Wandlung und Vergänglichkeit. Sondern letztlich davon zu leben, dass jenseits unserer Zeit Gott neuen Himmel und neue Erde bereit hält. Himmel und Erde, wo es keinen Verfall mehr gibt, kein Versäumnis, auch nicht den Schrecken, dass es ein „zu spät“ gibt, dass etwas unwiederbringlich vorbei ist, ans Ende gekommen. Dass eigenes oder fremdes Leben vergangen sind, zu Ende eine Liebe, eine Freundschaft, gegenseitiges Verständnis, Bereitschaft zum Frieden, vorbei eine Heimat und Zuflucht. Jenseits unserer Zeit – so sieht es der Apostel – nimmt Gott uns in seine ganze Fülle hinein, die uns und allen Menschen in allem gerecht wird. Hat Gott da das letzte Wort? Noch vielmehr. Nicht ein letztes Wort trifft uns, sondern wir sind sozusagen ins Gespräch hineingenommen, in die Gemeinschaft und Beziehung, in sein Reich, seine Kraft, seine Herrlichkeit, nichts trennt von der Fülle seiner Gegenwart.