„Zuviel des Guten …?“
Gottesfurcht und Lebensgestaltung gehören zusammen
Predigttext: Prediger / Kohelet 7,15-18 (Überstzung nach Martin Luther, Revision 2017)
15 Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. 16 Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. 17 Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. 18 Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.
Vorbemerkung zum Predigttext
Die vorgeschlagene Perikope gehört zu den Predigtabschnitten, die neu in der Perikopenordnung aufgenommen worden sind.
Aus dem Buch des Predigers werden die wenigsten Pfarrerinnen und Pfarrer bisher gepredigt haben. Bekannt und beliebt ist Prediger 3: Alles hat seine Zeit. Diese Bibelstelle lese ich gerne im Herbst, wenn die Vergänglichkeit in der Natur offensichtlich wird, predige ihn bevorzugt in dieser Jahreszeit bei Beerdigungen.
Prediger 7 hingegen habe ich zuvor nicht ein einziges Mal verwendet. Der Prediger betrachtet das Leben aus einer beobachtenden Perspektive. Er blickt aus dem Fenster, schaut zu, was draußen geschieht, teilt seine Lebensweisheit und seine Einschätzungen mit. Es geht ihm um Besonnenheit und Wahrnehmung der Verhältnisse. Es ist kein lasches Mittelmaß, was er fordert, kein Sich-Drehen nach dem Wind. Er gibt auch keinen Tipp, wie wir uns geschickt durchs Leben lavieren. Der Schlüssel für rechte Verhaltensweisen ist die Gottesfurcht. Die Übersetzung „Wer Gott fürchtet, der verhält sich recht“ ist treffender als die Übersetzung Martin Luthers: „Wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“ Luther versteht das Koheletbuch als Anleitung zum rechten Gebrauch der Welt.
Die Erfahrung, die der Prediger in Vers 15 zum Ausdruck bringt, können wir mit eigener Lebenserfahrung bestätigen. Tun und Ergehen stehen sich manchmal kontrovers gegenüber. Vers 16: „Sei nicht zu gerecht und zu weise…“ hingegen ist ein Affront. Dieser Imperativ ist ungewöhnlich, widerspricht jeglicher Ethik und fordert zum Widerspruch auf. Auch Vers 17 ist anfänglich widerständig: „Sei nicht allzu gottlos…“ Dürfen wir wenigstens ein bisschen gottlos sein? Gewiss nicht. „Brich kein Recht, sei nicht dumm“, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache.
Vers 18 eröffnet eine Alternative zu strenger starrer Gesetzlichkeit. Gerechtigkeit ist mehr als jeder und jedem dasselbe zu geben. Gerecht ist, was ein Mensch braucht. Gerechtigkeit speist sich aus Barmherzigkeit. Das Maß ist die Gottesfurcht.
„Zuviel des Guten, ist des Guten zu viel“, sagt Dietmar resigniert zu seinem Freund Gerhard. Gerhard kommt jeden Morgen zum Frühstück bei ihm vorbei, die Brötchen bringt er mit. Dietmar ist froh, dass sich diese Freundschaft erhalten hat. Dietmar ist Mitte 70. Er wohnt allein in seinem Haus, das er und seine Frau in jungen Jahren gekauft hatten. Er ist hier mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern glücklich gewesen. Er hat alles gegeben und hart gearbeitet, um Frau und Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
I.
Als engagierter Anwalt hat Dietmar sich für seine Klienten ins Zeug gelegt. Er hat viel und lange gearbeitet, bis spät in die Nacht, nahm Akten mit nach Hause, hat jeden einzelnen Fall akribisch durchdacht und bearbeitet. Sein Beruf hat ihm neben Stress auch viel Spaß gebracht. Zugegeben, seine Familie ist dabei zu kurz gekommen. Im Rückblick stellt er fest, dass seine Frau die beiden Töchter Silvia und Mareike mehr oder weniger allein groß gemacht hat. Er war ja den ganzen Tag über nicht da und abends häufig auch nicht für sie da.
Dietmar hat das damals nicht gemerkt. Es ist für ihn selbstverständlich gewesen, dass er als Ehemann und Vater für das Einkommen sorgt. Das hat er reichlich getan, Margot konnte sich nicht beklagen, hat sie auch nicht. Sie konnte sich alles kaufen, was sie wollte. Das ist in Ordnung gewesen, sie hatten genug Geld und brauchten nicht knausern. Die beiden Töchter Silvia und Mareike haben beide eine gute Ausbildung bekommen, sie leben heute in mehr als guten Verhältnissen.
Nein, das ist nicht das Problem gewesen. Das Problem ist gewesen, dass er und Margot sich im Laufe der Zeit unmerklich voneinander entfernt haben. Sie haben kaum gesprochen, ihre Gespräche reduzierten sich fast nur noch auf die üblichen Absprachen. Es steht ihm bildlich vor Augen, wie sie im Sommer im Garten auf der Terrasse gesessen und ihren Tee getrunken hat, während er im Wohnzimmer saß mit Blick auf die Terrasse mit Margot und den Garten. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, sie haben sich irgendwie verloren.
Obwohl es bereits ein paar Jahre her ist, seitdem Margrit ihn verlassen hat, kann er sich nicht daran gewöhnen. Sie lebt in Berlin, die Töchter kommen gelegentlich zu ihm zu Besuch. Sie bringen ihre Ehemänner und Kinder mit. Sie machen ihre Pflichtbesuche, das spürt er, sie fühlen sich mehr zu ihrer Mutter hingezogen. Im Grunde ist er allein. Die Freundschaft zu Gerhard ist stärker geworden, seitdem Margot gegangen ist, das ist ein Gewinn, so eng waren sie früher nicht, aber der Preis ist hoch.
Dietmar fühlt sich gewiss nicht als Gutmensch, das wäre vermessen, wenn er das von sich behaupten würde. Er ist nicht fehlerfrei und hat nicht alles richtig gemacht, aber dass es so gar nichts zählen soll, dass er gut für seine Familie gesorgt hat, will ihm nicht in den Kopf. Er will sich nicht selber in den Himmel heben, aber hat er seiner Familie vielleicht ein zu sorgenfreies Leben ermöglicht? Margot und die Kinder mussten sich in dieser Hinsicht überhaupt nicht anstrengen. Es ist verkehrt gewesen ist, ihnen so viel zu geben.
II.
„Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meines flüchtigen Lebens“, resümiert der Prediger in der Bibel: „Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde an seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit“. Nun würde sich Dietmar nicht als Gerechten bezeichnen, das wäre ein zu großes Wort, aber als gläubig und gottesfürchtig begreift er sich schon. Er bemüht sich um ein gottesfürchtiges Leben, der sonntägliche Gottesdienst ist mehr als eine Pflicht. Was hat er falsch gemacht? Warum will seine Frau nicht mehr bei ihm sein? Sie konnte sich frei entfalten, er hat sie nicht eingeengt, ihr alle Freiheiten gelassen. Sie konnte sich mit Freundinnen treffen, schöne Reisen unternehmen, er hat sie ermutigt, das zu tun, was sie gern mochte. „Zuviel des Guten ist des Guten zu viel“, dieser Gedanke lässt ihn nicht los. Jetzt ist er auf sich allein gestellt.
„Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest“, mahnt der Prediger. Der Prediger zieht Schlüsse aus seinen Lebenserfahrungen und aus dem, was er bei anderen beobachtet. Prediger! Was ist das denn für ein Rat! Macht das einen Sinn: nicht allzu gerecht zu sein? Das ist eine Bankrotterklärung an jede Moral und Ethik? Dass es gerecht zugeht, wünscht sich wohl ein jeder Mensch. Gott selbst wird in der Bibel als ein gerechter Gott gepriesen.
Gibt es das? Dass einer zu gerecht ist? Der Prediger sagt ja. Ein biblischer Querverweis hilft mir, seine Überlegungen zu verstehen. Lukas überliefert eine Szene, die sich im Jerusalemer Tempel abspielt (Lk 18,11+12). Ein Pharisäer und ein Zöllner gehen beide in den Tempel, um zu beten. Der Pharisäer betet so: „Ich danke dir, Gott, das ich nicht bin wie die anderen Leute: Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch dieser Zöllner hier“, und er zählt auf, was er alles macht: Er fastet zweimal die Woche und gibt regelmäßig den Zehnten. Der Zöllner hingegen senkt den Blick, schlägt die Hände vor die Brust und fleht zu Gott: „Sei mir Sünder gnädig“.
„Sei nicht allzu gerecht…“ Ist der Pharisäer zu gerecht? Dem Pharisäer ist nicht vorzuwerfen, dass er seinen religiösen Pflichten nachkommt, im Gegenteil, er könnte in dieser Hinsicht so manchen als Vorbild dienen. Was ihm vorzuwerfen ist, dass er auf einen herab sieht, der das alles nicht tut. Er ist in den Tempel gekommen, um mit Gott zu beten. Aber spricht er wirklich mit Gott? Er beschäftigt sich mit dem im Hintergrund stehenden Zöllner, erhebt sich über ihn und sonnt sich im eigenen Glanz. Die Gerechtigkeit des Pharisäers führt zu Überheblichkeit. Er verliert aus dem Blick, was sein Nächster braucht.
Nun sonnt sich Dietmar nicht im eigenen Glanz, überhebt sich auch nicht über andere, aber den Blick für seine Frau und seine Kinder hat er verloren. Ihm hätte der Ratschlag des Predigers gut getan: Sei nicht zu eifrig, mach nicht zu viel, auch wenn du es gut meinst. Kümmere dich um deine Frau und deine Kinder, wende dich ihnen zu, beteilige dich an ihren Unternehmungen, interessiere dich für sie, schenke ihnen dein Ohr und deine Aufmerksamkeit.
III.
Nicht an einem Zuviel an Gerechtigkeit kann ein Mensch zugrunde gehen, sondern trotz Gerechtigkeit. Was fordert denn das göttliche Gesetz von uns, lautet die Frage 4 im Heidelberger Katechismus: Die Antwort ist: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das andere Gebot aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Vielleicht hat Dietmar nicht nur seine Frau und seine Kinder vergessen, vielleicht hat er sich auch selbst vergessen. Das Wichtigste, was ihm am Herzen lag, hat er verloren. Schlussendlich hat er sich selbst verloren. Er muss den Weg ins Leben wieder neu finden.
Der Prediger in der Bibel verfügt über Lebenserfahrung und Lebensweisheit. Er muss ein gewisses Alter haben, sonst könnte er diese Schlüsse nicht ziehen. Er hat im Laufe seines Lebens gelernt, dass es dem Gerechten nicht immer gut und dem Bösen nicht immer schlecht geht. Was einer tut und wie es ihm ergeht, kann zum krassen Gegensatz werden. Da ist ein Mensch, fromm und gerecht und erfährt doch Leid und große Not. Oder umgekehrt: Da ist ein Mensch, rücksichtslos und egoistisch und hat den Himmel auf Erden. Die Welt ist ungerecht.
Der Prediger weiß das, er mahnt, sensibel zu sein und wahrzunehmen, was ist. Er mahnt dazu, aufmerksam die Welt zu beobachten und Ausschau zu halten nach dem, was dem Leben dient und das eigene Leben danach auszurichten. Wir sollen darauf achten, wenn sich Zerstörung einschleicht. Es gibt ein Zuviel und ein Zuwenig. Seine Mahnung: „Sei nicht zu gerecht und nicht zu weise“ ist keine Aufforderung, es mit der Gerechtigkeit nicht zu genau zu nehmen. „Sei nicht zu gottlos“ heißt auch nicht: Ein bisschen gottlos darfst du schon sein. Es ist auch kein Plädoyer dafür, gewonnene Lebensweisheit über Bord zu werfen.
IV.
Der Prediger stellt die Gottesfurcht in den Vordergrund, sie ist Maß aller Handlungsweisen. So wie Gott gerecht und barmherzig ist, sollen auch wir gerecht und barmherzig sein. Jedes gute Werk und sei es noch so gerecht, verkehrt sich in sein Gegenteil, wenn wir den Nächsten aus dem Blick nehmen und vergessen, was er braucht und nötig hat. Unbarmherziges Verhalten ist ungerecht, auch wenn äußerlich alle Gesetze befolgt worden sind. Es zerstört Beziehungen und verfehlt das Leben. Gott ist ein Gott des Lebens. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sollen Raum gewinnen.
„Sei nicht zu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit“, so der Prediger. „Brich kein Recht, sei nicht dumm“, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache. Der Prediger hält eine leidenschaftliche Rede für das Leben: „Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt, denn wer Gott fürchtet, verhält sich recht“. Das ist keine Ermutigung, sich durchs Leben zu mogeln und keine Position zu beziehen. Der Prediger ruft auf, das richtige Maß in den eigenen Verhaltensweisen zu finden. Gottesfurcht und Lebensgestaltung gehören zusammen.
Dietmar ist bei allem, was er im Leben geleistet hat, bescheiden und demütig geblieben. „Zuviel des Guten ist des Guten zu viel“, das ist wohl wahr, geht es ihm durch den Kopf, daran hält er fest. An manchen Stellen hat er bestimmt zu viel gegeben, vor allem, wenn es um Geld ging, aber an anderen Stellen hat er zu wenig gegeben: an Zuwendung, an Liebe und Anerkennung. Obwohl das doch das Wichtigste ist.
Lied:
„Wohl denen, die da wandeln“ (EG 295)